„Ohne eigene Wohnung habe ich mein Zentrum verloren. Das ist es wohl, was mich zurzeit so belastet.“ Er wirkt kläglich, als er das sagt, und einen schrecklichen Moment lang fürchte ich, er könne anfangen zu weinen. Doch sein Blick ist fest, als er den Kopf hebt. „Was ist denn das Zentrum deines Lebens?“ fragt er mich. „Deine Wohnung?“
Das ist eine Frage, auf die ich so schnell keine Antwort weiß. Das Zentrum meines Lebens? Die Achse, um die sich alles dreht? Die Mitte? Meine Wohnung ist auf jeden Fall mein Ruhepol, mein Rückzugsort, meine Höhle, in der ich mich verkriechen kann und in der ich mich immer wohl fühle, auch nach all den Jahren noch, in denen ich jetzt hier lebe. Es ist nicht alles optimal hier, und es gibt durchaus Tage, an denen ich mich nach einer anderen Bleibe sehne. Aber dann wieder ist alles so gut, so schön, so perfekt, dass ich über einen Umzug nicht mal nachdenke. Ja, meine Wohnung könnte man als das äußere Zentrum meines Lebens bezeichnen.
Aber mein inneres Zentrum ist meine Familie. Diese Erkenntnis überrascht mich selbst, denn das war viele Jahre keineswegs so. Aber es hat sich viel verändert. Heute sind meine Geschwister und ihre Kinder die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Sie stützen und stärken mich (und machen mich manchmal auch nieder – ja, auch das, aber sie tun das nie mit Absicht, ich weiß das), zu ihnen pflege ich den intensivsten, beständigsten Kontakt. Die Kinder lieben mich auf eine selbstverständliche, innige Weise, die mich immer wieder rührt und mir zeigt, dass ich zumindest als Tante einen richtig guten Job mache. Natürlich ist es nicht so, dass meine Geschwister immer alles von mir erfahren. Es gibt sicher Menschen, denen ich viel intimere Details über meine Ängste und Nöte, meine Sehnsüchte und Begierden erzähle. Aber das ist nicht wichtig. Entscheidend ist das Gefühl von Geborgenheit, von Vertrautheit, das mich umgibt, wenn ich mit meiner Familie zusammen bin. In ihrer Nähe fühle ich mich nie fremd (auch das war früher ganz anders). Dort muss ich mich nicht verstellen, muss weder cool, noch fröhlich, noch klug tun. Es nimmt mir niemand übel, wenn ich zu Besuch komme und das ganze Wochenende nur abhänge, weil mir so danach ist. Oder wenn ich mich mal eine Weile nicht melde, weil ich zu viel um die Ohren oder einfach keine Lust habe. Und dabei weiß ich genau, dass ich in Notzeiten auf niemanden so gut zählen kann wie auf meine Geschwister. Am Ende scheint Blut doch dicker als Freundschaft. Das ist ein gutes Gefühl.
Er hört meiner Erklärung aufmerksam zu. „Mit einem meiner Brüder geht es mir auch so“, sagt er nachdenklich. Mit seinen anderen fünf Geschwistern offenbar nicht. Dann richtet er sich etwas auf. „Aber weißt du was? Vermutlich brauche ich einfach nur dringend eine Frau.“ Ich halte seinem Blick stand, hoffe aber gleichzeitig, dass er nicht findet, ich könne diese Frau sein – trotz all der liebevollen Gefühle, die ich für ihn hege. „Mit einer Frau verschwinden aber auch nicht automatisch alle Probleme“, gebe ich zu bedenken. „Oft wird es dann erst richtig kompliziert.“ „Aber nicht nur.“ Er wirkt fast trotzig, als er das sagt. Und ich frage mich, ob es jemals in meinem Leben einen Mann geben wird, von dem ich sagen kann, er sei mein Zentrum. Und ob das überhaupt erstrebenswert ist.
Ich hatte eigentlich überhaupt nicht vor, mich mit dem Thema intensiver zu befassen. Aber da mir in den letzten Tagen so einiges sehr sauer aufgestoßen ist, müssen Sie neben vielen anderen klugen und weniger klugen nun leider auch meine Gedanken zur Bildungssituation in Deutschland ertragen – oder Sie hüpfen schnell weiter zu unterhaltsameren Seiten, das nehme ich Ihnen nicht übel, wirklich.
Es gab Zeiten, in denen wurde Deutschland mal als das Land der Dichter und Denker gerühmt. Ich glaube, es gibt immer noch sehr viele kluge Köpfe hier, aber sie erhalten immer weniger Gehör. Glaubhaft wirkt heute nicht mehr, wer schön bescheiden intelligente, wahrhaftige Weisheiten preis gibt, sondern wer möglichst laut und bunt daher kommt und mit viel Getöse den letzten Unsinn in die Welt posaunt. Das ist schade. Denn billiges Getöse hat zwar einen großen Unterhaltungswert, bringt aber eine Gesellschaft nicht voran – den Einzelnen sehr wohl, die Masse jedoch nicht.
Das Dumme ist nur: Da lautes Geschrei eben leider diesen enorm großen Unterhaltungswert hat, kann man damit wunderbar die Massen mobilisieren. „Folgt der Sandale!“ - oder so ähnlich, Sie wissen schon. Das ist für Zuschauer einen Moment lang enorm witzig, aber dann kippt es plötzlich und löst Beklemmungen aus. Muss ich tatsächlich der Sandale folgen, bloß, weil das alle anderen auch machen? Sollte ich nicht vielleicht mal innehalten, mein Gehirn einschalten und überlegen, wofür diese Sandale eigentlich steht und wem sie überhaupt gehört? Ja, unbedingt!
Aber da kommen wir zu einem grundlegenden Problem: Um selbstständig denken zu können, um eine Situation losgelöst von der Meinung anderer einschätzen und bewerten zu können, benötige ich viele, viele Informationen, sprich: ich muss gebildet sein. Nun ist das aber mit der Bildung in diesem Land leider so eine Sache. Sie wird nämlich schon lange nicht mehr als eins der höchsten und kostbarsten Güter unserer Gesellschaft erachtet, und das ist nicht nur schade, es ist eine Katastrophe. Denn Bildung ermöglicht es den Menschen, Dinge zu erkennen und zu entdecken, Situationen zu bewerten und zu beurteilen, die Welt zu begreifen und zu verstehen. Wenn ich aber genau daran spare, dann ziehe ich mir ein Volk von Dummköpfen heran. Das mag gewollt sein, denn Dummköpfe kann man mit marktschreierischen Parolen sehr bequem lenken und zufrieden stellen. Und jüngste Beispiele zeigen ja auch, wie leicht das ist und wie gut so mancher davon profitiert. Da wird Unrecht plötzlich zu Recht, ein Betrüger zum Ehrenmann, die gesamte deutsche Wissenschaft (die mal den Ruf genoss, weltweit eine der besten zu sein) lächerlich gemacht. Applaus, liebe Vertreter von Staats- und Medienmacht, das habt ihr großartig hinbekommen!
Allerdings geht so was natürlich nicht lange gut. Man kann unmöglich ein ganzes Volk total verblöden lassen. Es gibt immer Widerständler, Querdenker, Freigeister, die sich trotz Bildungsverbot schlau machen. Die nicht nur das Sprachrohr des Staatsorgans lesen, das staatlich gelenkte Fernsehen schauen, den bunten Clowns folgen. Für die Ehre und Anstand keine hohlen Floskeln sind, die man beliebig einsetzt, um den eigenen Ruhm zu mehren. Denen es nicht um ihr eigenes, persönliches Ansehen geht, sondern um die Sache. Die mal sagen: Hallo, so aber bitte nicht! Von dieser Sorte Mensch waren in den letzten Wochen viele erstaunlich aktiv. Sie verdienen meinen Respekt und meine Hochachtung und machen mir Hoffnung, dass es um dieses Land doch noch nicht so schlecht bestellt ist, wie ich oft denke. Dass diese mutigen Menschen ziemlich viel Gegenwind von der vereinten Dummheit dieses Landes erhalten, überrascht mich hingegen nicht.
Neu daran ist, dass wir daran alle ganz unmittelbar teilhaben können, weil das Internet, eine Technologie, die ursprünglich ausschließlich von Akademikern genutzt und entwickelt wurde, mittlerweile beim gemeinen Volk angekommen ist. Dieses unakademische Volk – auch das vergessen wir gerne mal – stellt den weitaus größten Teil unserer Bevölkerung dar. Und diese Menschen freuen sich darüber, dass sie endlich einen Kanal gefunden haben, auf dem sie Gehör finden und posaunen ihre Meinung fröhlich in die Welt hinaus – zur Begeisterung vieler Gleichgesinnter und zur Bestürzung weniger Andersdenkender. Können wir ihnen das übel nehmen? Nein, natürlich nicht! Ich kann niemanden dafür verachten, dass er in seinem Leben die falschen Dinge gelernt hat. Mein Respekt vor dem anderen verbietet es mir, mich darüber lustig zu machen, dass er keine Ahnung von wissenschaftlichem Arbeiten hat und überhaupt nicht einschätzen kann, welchen Stellenwert so eine Promotion eigentlich hat – vermutlich kennt er das Wort nicht mal. Was ich aber wirklich übel nehmen kann und was mich wahnsinnig aufregt, ist die Tatsache, dass wir alle zuschauen, wie diese Menschen immer mehr verblöden und es keine Aussicht auf Besserung gibt. Es nervt mich maßlos, dass wir in diesem Land jede Menge Geld zum Fenster raus werfen, aber immer weniger in Bildung investieren. Dass wir jedes Jahr in irgendeinem Bundesland irgendeine Schulreform haben, die bald darauf rückgängig gemacht wird – mit fatalen Folgen für die Ausbildung der Schüler. Dass wir bereitwillig glauben, die allgemeine Volksverdummung sei bloß den vielen Zuwanderern zuzuschreiben, statt zu merken, dass die überhaupt nichts dafür können, sondern leider nur die ersten Opfer waren. Und es macht mich echt sauer, dass es viel zu viele kluge, gebildete Menschen gibt, die wissentlich eine Politik stützen und stärken, in der es nur noch um das Wohl einzelner machtgieriger, skrupelloser Leute geht und schon lange, lange nicht mehr um das Wohl der gesamten Bevölkerung. Was für Folgen das haben kann, sehen wir momentan mit erschütternder Deutlichkeit.
Denn auch das hat mit Bildung zu tun: die Vermittlung von Werten. Wer gut von schlecht nicht mehr unterscheiden kann, der hat ein Problem. Wer eine große Lüge zu einer kleinen macht, auch. Wer einem ganzen Land auch noch weismachen will, dass diese Lüge keine Bedeutung hat, der wird selbst zum Problem. Ich wünsche mir daher, dass die Querdenker und Freigeister unter uns viel häufiger laut protestieren und Nein sagen. Dass wir uns nicht mehr nur berieseln lassen, sondern viel öfter mal unsere eigenen Köpfe zum Denken bringen. Und vor allem: dass die, die eine gute Bildung genossen haben und sehr wohl Unrecht von Recht unterscheiden können, ein Vorbild für jene sind, die dies (noch) nicht gelernt haben. Das, so meine ich, sind wir uns allen schuldig. Damit wir in Zukunft eben keiner Sandale (oder Schlimmerem) mehr hinterher rennen und uns von billigen Parolen blenden lassen. Dann klappt das auch wieder mit dem Volk der Dichter und Denker. Und mit dem Respekt. Und dem Anstand. Und dem guten Regieren. Und überhaupt.
And now for something completely different …
Unterwegs -
feinstrick - 4. Mär, 20:03
nun bist du schon bald fünf Monate fort. Irgendwann im Laufe des Frühlings kommst du zurück – vermutlich randvoll mit Eindrücken, Erinnerungen, Gefühlen von einem halben Jahr am anderen Ende der Welt. Deine seltenen Mails klingen ganz nach dir: fröhlich und nachdenklich zugleich. Auf den Fotos sehe ich dich lachend inmitten strahlender Menschen. Es geht dir gut, das merke ich. Und ich merke auch, wie sehr ich dich vermisse. Seltsam, dass man Kostbarkeiten oft erst richtig zu würdigen weiß, wenn sie nicht mehr verfügbar sind.
Unser Miteinander war für mich so selbstverständlich geworden. Du warst in den letzten Jahren immer da, wenn ich dich brauchte, unkompliziert und schnell. Und ich war für dich da. Nachbarschaftskontakte sind anders als freundschaftliche, selbst dann, wenn aus ihnen irgendwann Freundschaften werden. So wie bei uns. Du marschierst auch dann durch meine Wohnung, wenn sie total unaufgeräumt ist. Du siehst mich, wenn ich meine ältesten Klamotten trage und ungeschminkt und ungekämmt bin. Wenn ich eine so fette Erkältung habe, dass ich kaum aus den Augen schauen kann. Wenn ich müde und traurig bin und eigentlich mit gar niemandem reden mag. Warum das so ist? Weil du immer unangemeldet vor meiner Tür stehst – wäre ja auch albern, anzurufen, wo wir doch Wand an Wand leben. Und weil ich dich in der Regel auch immer reinlasse, spontan und unvorbereitet. Du machst das umgekehrt auch. Ich habe da nie drüber nachgedacht, bis du mal gesagt hast, wie toll du das findest. Manchmal denke ich, dass es im Grunde für so bindungsscheue Wesen wie uns nichts Tolleres gibt, als in getrennten Wohnungen und doch miteinander zu leben. Aber das mit der gemeinsamen Beziehung kriegen wir trotzdem nicht hin, und vielleicht ist das auch gut so.
Jetzt brüte ich über der Antwort auf deine letzte Mail, denn ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was ich erzählen soll. Hier passiert so wenig. Die Highlights der letzten Monate waren Schneemassen im Dezember, der Abriss eines alten Kaufhauses und die Abwahl des Bürgermeisters. Das sagt eigentlich alles. In meinem Privatleben passiert fast noch weniger. Ich ringe mit sperrigen Aufträgen, die viel Arbeit, aber wenig Geld bringen. Immerhin habe ich Aufträge, das ist die gute Nachricht. Der Winter ist so im Nichts verschwunden. Und im Schnee. Jetzt ist schon fast Frühling. Heute habe ich meine Balkonkästen von Heidekraut und Tannenreisig befreit und gestaunt, wie weit die grünen Spitzen der Tulpen schon heraus schauen. Aber mir kommt das alles viel zu früh vor, zu schnell, zu unwirklich. Ich komme mit dem Tempo nicht mehr mit. Fünf Monate bist du fort, und ich denke: Das war doch erst gestern, als ich dir hinterher gewinkt habe. Fünf Monate, in denen ich einfach nur gelebt habe, mal leiser, mal lauter. Fünf Monate, die sich in Luft aufgelöst haben, so wie sich die nächsten fünf Monate in Luft auflösen werden, und es in den Balkonkästen Herbst wird, bevor ich überhaupt verstanden habe, dass Sommer war.
Was kann ich dir erzählen aus meinem kleinen Leben? Dass es darin wieder von Männern wimmelt? Ja, ich muss es ja immer gleich übertreiben. Jahrelang keiner und dann geht gleich alles drüber und drunter. Normal war bei mir noch nie etwas. Aber bei dir ja auch nicht. Du philosophierst in deiner Mail über den Unterschied zwischen Beziehungen und Affären, brichst aber mittendrin ab: „Das erkläre ich dir am besten in Hamburg.“ Darauf freue ich mich! Mit dir auf meinem Balkon sitzen, ein Bier trinken, die Abendsonne genießen und über das Leben und die Liebe reden. Wie wir es schon so oft gemacht haben. Eigentlich ist es das, was ich dir am liebsten schreiben möchte: Dass ich mich total auf dich freue. Und dass ich Angst vor dem Gedanken habe, du könntest nur vorübergehend zurückkehren, weil du Geschmack gefunden hast an dem ganz anderen Leben, das du jetzt führst. Was soll ich auch über meine Männer und verrottete Kaufhäuser und Balkonpflanzen schreiben? Das alles hat doch in deiner Welt im Moment gar keinen Platz. Es ist nur ein Zeichen dafür, wie klein und öde so ein Leben sein kann, wie still man vor sich hinleben kann, in einem Winter in Hamburg, der endlos dauert und gleichzeitig erschreckend schnell verfliegt. Aber meine nachbarschaftliche Freundschaft, die erreicht dich vielleicht auch jetzt und da, wo du gerade bist.
Also: Ich denke an dich. Und ich vermisse dich.
Alles Liebe
deine Käthe
Zu dem Thema: „Beseitigung von Schrott, um Platz zu schaffen für neuen Schrott - über das Absurde im öffentlichen Raum“ findet zurzeit eine spektakuläre Performance in der Großen Bergstraße in Hamburg-Altona statt. Geboten wird ein Kampf der Giganten – Abrissbagger gegen Beton und Stahl, Mann gegen Müll. Dabei entstehen farbenprächtige, eigenwillige Einblicke in eine ehemalige Künstlerkolonie und ein noch ehemaligeres Kauf- und Bürohaus, Durchblicke durch Hauswände, Rückblicke auf Vergangenes und Ausblicke auf Zukünftiges. Alles ist im Wandel, alles verändert sich, täglich erwartet die Zuschauer ein neues Programm. Gesponsert wird das tägliche Public Viewing von einem schwedischen Möbelhaus, das sich redliche Mühe gibt, bestmögliche Unterhaltung zu bieten: abwechslungsreiches Programm, Gucklöcher im
Bühnenvorhang Bauzaun, damit auch die kleinsten Zuschauern richtig mitfiebern können, Dekoration des Zuschauerraums mit historischen Bildern, die zu Diskussionen anregen („Was glauben Sie, wann das war? In den 70ern?“ „Nee, eher 60er.“). Was ein wenig fehlt, sind Sitzgelegenheiten und Erfrischungen. Aber wer lange genug durchhält, dem werden in rund zwei Jahren Klippans und Hot-Dogs in Hülle und Fülle geboten.

Unterwegs -
feinstrick - 21. Feb, 22:33
Ich schicke
ihm eine Mail und frage, ob wir uns nicht mal wieder treffen wollen – zum Frühstück, oder
zu was anderem Schönem. Genau genommen haben wir uns bisher fast immer nur zum Frühstück verabredet. Das war so unverfänglich und geschäftsmäßig, und unser Job war auch stets Hauptbestandteil unserer Gespräche. Seine Antwort liest sich wie immer – freundlich und neugierig. „Was könnte denn
was anderes Schönes sein?“ fragt er unschuldig. „Keine Ahnung“, schreibe ich zurück und zähle genauso unschuldig auf: „Mittagessen, Abendessen, Kneipe, Kino...“ „Abendessen klingt am besten“, findet er, und ich registrierte aufgeregt, dass er dasselbe denkt wie ich. Es schwingt zwischen den Zeilen mit, genauso wie in all unseren anderen Mails und Gesprächen, seit Jahren schon.
Jawohl, denke ich, Abendessen ist ein großer Fortschritt gegenüber Frühstück, und ich, ich bin jetzt endlich auch bereit dafür. Fürs Abendessen ebenso wie für das anschließende
Ausgehen, das er noch vorschlägt. Hat ja nun echt lange genug gedauert. Ich stelle mir vor, wie wir in einer Bar sitzen, unsere Hände sich wie zufällig berühren, die Beine sich aneinander pressen, auch erst zufällig, dann immer stärker, deutlicher. Wir haben uns vorher nie berührt, von fast schüchternen, steifen Umarmungen zur Begrüßung abgesehen. Jeder noch so kleine Körperkontakt wäre schon ziemlich aufregend. Ich male mir aus, wie unsere Blicke länger werden und er mich küsst, vorsichtig tastend, ob ich das auch mag, ob er nicht zu weit geht. Ich stelle mir vor, dass wir viel Zeit brauchen, um uns aneinander zu gewöhnen.
Dann schickt er mir als Vorschlag zum Essengehen eine Liste mit Kneipen und Imbissen in seiner Nachbarschaft - ob da was Passendes für mich dabei sei? Ich verdrehe die Augen. Männer! So hatte ich mir das jetzt aber nicht vorgestellt. Gut, denke ich ergeben, wenn ich das Schöne nur zusammen mit der Imbissbude kriege, dann ist das halt so. Es gibt einiges Hin und Her wegen des Termins für unser Date. Schließlich rufe ich ihn an. Das mache ich sonst nie, und ich brauche ewig, um seine Nummer zu finden. Er ist im ersten Moment auch irritiert, dann aber sichtlich erfreut. „Heute ist ein verrückter Tag“, sagt er. „Es passieren lauter Sachen, mit denen ich nicht gerechnet habe.“
Er fängt an zu stottern und zu stammeln und unternimmt fünf Anläufe für den nächsten Satz. Ich schweige gespannt. Was dann kommt, haut mir aber fast das Telefon aus der Hand: „Ich muss dir ganz ehrlich was sagen: Ich denke ständig an Sex, wenn ich über dieses Abendessen mit dir nachdenke.“ Da schleichen wir seit Jahren umeinander herum, und dann sagt er das einfach so am Telefon, klar und direkt. Okay, er brauchte fünf Anläufe, aber er sagt es. Erst bin ich sprachlos. Dann platzt ein Knoten, und auf einmal können wir ganz offen reden. Er ist verwundert, dass ich jeden einzelnen seiner Annäherungsversuche haargenau registriert habe, selbst den zartesten, verstecktesten. Ich bin verblüfft, dass er sich an jedes einzelne unserer Treffen zehnmal besser erinnert als ich. Dabei ist er doch nicht verliebt, nur scharf auf mich. Nehme ich jedenfalls an.
„Wie machen wir das jetzt mit unserem Date?“ frage ich. „Dienstag oder Donnerstag?“ Er gerät wieder ins Stottern. „Am liebsten wäre es mir ja, wir würden uns jetzt gleich sehen. Dabei habe ich überhaupt keine Zeit, muss in zwei Stunden zu einem wichtigen Termin.“ Zwei Stunden, denke ich, ohne Aufwärmen, ohne Reden, einfach nur intensives Körpergefühl. Mitten am Tag, zwischen zwei Geschäftsterminen. Ohne Zeit für Angst, vorheriges Anhübschen und stundenlange Auswahl der passenden Kleidung. Mit einem Mann, dem ich bisher immer nur sehr steif und förmlich in Cafés gegenüber saß. Und der ganz anders ist als jeder Mann, mit dem ich vorher zusammen war.
Kann man machen. Oder auch nicht. Ich entscheide mich fürs Machen. Und … erlebe eine Offenbarung.