Samstag, 24. Juli 2010

Männer

Die Männer und ich – das ist so ein Kapitel für sich. Ich hatte im Laufe meines Lebens viele Begegnungen mit ihnen: amüsant, skurril, lustvoll, flüchtig, eng, nah, intensiv, bleibend, intim, vergänglich, liebend, hassend, distanziert, umwerfend, beängstigend, qualvoll. Kein einziger Mann, zu dem ich ein intimes Verhältnis hatte, steht noch in Kontakt zu mir. Sie sind unwiderruflich verschwunden, wie jeder Tag sich des Nachts einfach verflüchtigt und nie mehr wiederkommt, so sehr man sich das manchmal auch wünscht. Aber in den meisten Fällen wünsche ich es mir gar nicht. Manche Begegnungen waren so flüchtig, dass ich mich nicht mal mehr an die Namen der Männer erinnere. Das ist ein bisschen peinlich und eigentlich eher typisch männlich, oder? Andererseits, was bedeutet eine Nacht mit schlechtem bis mäßig gutem Sex schon? Warum sollte ich mich an sie mehr erinnern als an andere Nächte?

Ich traf mal einen Mann, der im Bett stumm wie ein Fisch war, mir hinterher aber vorwarf, ich sei so leise gewesen. Als ob guter Sex davon abhängt, wie laut man stöhnt. Der Mann rief mich nie wieder an, aber er besuchte immer mal wieder mein Internet-Profil. Irgendwann (ich hatte mittlerweile meinen Profilnamen geändert) schickte er mir exakt dieselbe Anfrage, die er mir schon einmal geschickt hatte. Natürlich antwortete ich kein zweites Mal darauf.

Ein anderer Man verführte mich zwar sehr kunstvoll, murmelte dann aber wiederholt in mein Ohr, dass er mich lieben würde. Ich war irritiert und abgestoßen. Dies war unser zweites Treffen und der erste intime Kontakt. Wer wollte da von Liebe sprechen? Ich jedenfalls nicht. Ich schickte den Mann fort und meldete mich nie wieder bei ihm.

Ein andermal hatte ich eine Affäre mit einem Mann, der eine sehr starke Körperbehaarung hatte. Meine Mitbewohnerin ergriff kreischend die Flucht, als eines Morgens ein Orang-Utan aus unserer Dusche kam. Ich merkte auch bald, dass wir nicht zueinander passten. Nicht nur wegen der vielen Haare an den falschen Stellen. Der Mann studierte Psychologie, und irgendwann gingen mir seine Selbstanalysen und ausführlichen Therapieberichte zu sehr auf die Nerven.

Noch ein Mann befand sich auf einem Selbstfindungstrip. Er ließ mich nach wenigen Wochen ohne ersichtlichen Grund sitzen und reiste monatelang durch Südamerika. Als er wieder kam, war er ein neuer Mensch, und vielleicht hätte aus uns noch etwas ganz Großes werden können. Aber wir hatten leider kein gutes Timing. Immer, wenn wir uns in den nächsten Jahren wieder begegneten, hatte einer von uns gerade einen anderen Partner. Manchmal verfingen sich unsere Blicke in traurigem Verlangen ineinander, aber wir schafften es nie, daraus wieder mehr zu machen.

Ein Mann betrog mich jahrelang, und als ich ihn dann wiederum mit dem Orang-Utan betrog, flippte er komplett aus. Es gab jedoch einen feinen, kleinen Unterschied zwischen seinen Betrügereien und meinen: Ich beichtete meine sofort, er erzählte mir seine hingegen nie. Ich erfuhr erst lange nach unserer Trennung von Freunden, was da eigentlich gelaufen war. Danach verbannte ich ihn mit einer Konsequenz aus meinem Leben, die ich bei späteren Männer besser auch angewandt hätte.

Für Betrüger habe ich nämlich ein Händchen. Der letzte schoss den Vogel ab. Ich glaube, es gab kaum ein Wort, das er mir sagte oder schrieb, das nicht erfunden war. Viel zu lange gab ich mich Träumen und Illusionen hin, bis ich die Kraft hatte, mich von diesem Schaumschläger zu lösen. Stumm schaue ich heute zu, wie er sich immer wieder neu erfindet. Seine jetzige Rolle ist die des verantwortungsvollen Gutmenschen. Manchmal juckt es mich in den Fingern, mal ein paar freundliche, aufklärende Worte an seine Jünger zu richten, die ihm auf sämtlichen Internet-Kanälen zujubeln. Aber er ist die Mühe gar nicht wert. Geblieben ist mir, von meinem Hass auf ihn abgesehen, nur eine Fülle wirklich guter Musik.

Mit einem Mann verbrachte ich nur 24 Stunden – verteilt auf zwei Treffen. Sie gehörten zu den berührendsten, intensivsten 24 Stunden, die ich je mit einem Mann verbracht habe. Obwohl dieses Glück sehr unglücklich endete, habe ich heute noch ein warmes Gefühl im Bauch, wenn ich an diesen Mann denke. Und ich frage mich, wie es ihm wohl geht.

Auch von einem anderen Mann wüsste ich gerne, wie es ihm geht. Wir verbrachten einige Jahre zusammen, und ich träumte bereits von Kindern und Eigenheim. Manchmal frage ich mich, was aus uns, aus mir geworden wäre, wenn er nicht eines Tages aufgehört hätte, mit mir zu schlafen. Aber eine Partnerschaft ohne Sex war für mich unerträglich. Und so stolperten wir auseinander, traurig, verloren, hilflos. Ich begann eine beispiellose Karriere als Singlefrau. Und er? Ich weiß es nicht.

Mit einem Mann hatte ich über einen langen Zeitraum nur Sex – intensiv, aufregend, betörend. Er führte mich in eine Welt ein, die mir bis dahin vollkommen fremd war. Ich lernte viel über Verführung, Hingabe und eine Erotik jenseits des Alltäglichen. Er war der erste Mann, bei dem ich mich vollkommen fallen lassen konnte, dem ich blind vertraute. Geliebt habe ich ihn jedoch nie. Und als ich merkte, dass er gerne mehr von mir wollte, ging ich von einem Tag auf den anderen fort. Es blieb nichts als ein leises Bedauern – und die Sehnsucht, diese Art der Sinnlichkeit wieder zu erleben.

In den letzten Jahren gab es keine Männer in meinem Leben. Keine Abenteuer, kein Herzklopfen, keine lustvollen, witzigen, albernen Begegnungen. Ich war zu oft verletzt worden, hatte mich zu vielen Illusionen hingegeben und haufenweise Zeit vergeudet, während um mich herum alle Welt ihr Leben in feste Bahnen führte. In meinem Freundeskreis gibt es kaum noch Singles. Selbst jene, die ein noch turbulenteres Liebesleben hatten als ich, sind plötzlich solide Familienväter und -mütter geworden. Nur ich habe das irgendwie verpasst. Ich bin die Übriggebliebene, die immer seltener eingeladen wird, weil ich zum Pärchenfrühstück genauso wenig passe wie zum Familiennachmittag, auf dem sich die Eltern über ihre Sprösslinge austauschen. Lange fiel mir das gar nicht weiter auf. Ich war zu sehr mit dem Wundenlecken und Aufbauen meiner beruflichen Existenz beschäftigt.

Doch allmählich spüre ich eine Veränderung. Ich möchte wieder mitmischen, möchte Kribbeln im Bauch fühlen, Nähe spüren, Leidenschaft empfinden. Ich möchte mir einen der letzten Single-Männer schnappen und auch endlich ankommen. Nicht zuletzt haben mir die einsamen Stunden im Krankenhaus gezeigt, wie unschön das Leben eines Singles sein kann. Daher habe ich mich wieder auf den Markt begeben und bei einer Single-Börse angemeldet. Das hat früher schon nicht geklappt, ich vermute daher, dass es diesmal auch nicht klappt. Aber es gibt mir das Gefühl, etwas zu tun, nicht nur zuhause zu sitzen und mich selbst zu bemitleiden. Und so schwanke ich zwischen Spaß und Widerwillen, während mir ein 75jähriger ein Leben in einer traumhaft schönen Villa an der Ägäis anbietet und ein 25jähriger so ernsthaft um mich wirbt, als sei ich knackige 20 und nicht so alt, dass ich seine Mutter sein könnte. Es ist ein Spiel, weiter nichts. Und seit ich mein Profil so eingestellt habe, dass die Lustgreise mich nicht mehr finden können, ist es sogar ein recht vergnügliches Spiel.

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Samstag, 17. Juli 2010

Der ganz normale Wahnsinn

Es ist Sommer. So richtig, mit blauem Himmel, Sonnenschein, Hitze und Gewittern. Aber wir stöhnen und meckern, fühlen uns erschöpft und überfordert, schwitzen viel zu viel, finden heraus, welche Deos nicht nur in der Werbung, sondern auch in echt wirken, und dass es keine gute Idee ist, bei diesen Temperaturen rohes Fleisch zu essen. Ich jammere zwar auch, weil ich entweder arbeite oder viel zu müde bin, um dieses grandiose Wetter wirklich zu genießen. Aber ich denke gleichzeitig: Von mir aus kann das jetzt bis Ende September so weiter gehen. Der nächste Winter mit Dunkelheit und Kälte kommt garantiert. Warum kann uns nie etwas recht sein? Im Winter haben wir über Schnee und Eis gejammert, jetzt regen sich alle über Sonne und Hitze auf. Dabei ist das Wetter in diesem Jahr ausnahmsweise mal so, wie es im Kalender steht (von dem verkorksten Frühling mal abgesehen, aber über den breiten wir einfach den Mantel des Schweigens).

Ich mache mich auf die Suche nach neuen Sandalen. Aber in den Schuhgeschäften hängen Schilder mit der Aufschrift „Saisonfinale“. In den Regalen stehen letzte Reste der Sommerkollektion, daneben reihen sich Stiefel und derbe Halbschuhe. Hä? Wir befinden uns mitten im Sommer. Wann bitteschön soll ich denn Sommerschuhe kaufen, wenn nicht jetzt? Etwa im Winter bei Schnee und Eis? Das ist ja fast schon so wie mit den Weihnachtslebkuchen, mit denen ich mich im August eindecken muss, weil im Dezember schon alle ausverkauft sind.

Eine Fahrt mit der Deutschen Bahn ist nur noch für Profi-Abenteurer zu empfehlen, die stets eine Überlebensration an Wasser und Essen dabei haben und in buddhistischer Manier über Zeit im Überfluss verfügen. Ich saß zwar bis jetzt in keinem der Züge, in denen die Klimaanlage ausfiel (die Züge, in denen ich unterwegs bin, besitzen meistens überhaupt noch keine). Dafür komme ich aber so gut wie nie mehr pünktlich ans Ziel. Verspätungen von 30 bis 80 Minuten sind normal geworden – und zwar bei einer offiziellen Reisezeit von anderthalb Stunden. Entschuldigungen seitens der Bahn gibt es selten, dafür aber spaßiges Survivaltraining inklusive Joggen über die Wiese mit schwerem Gepäck und Partystimmung in total überfüllten Bussen, die gemütlich übers Land schaukeln, während die Züge irgendwo in der Pampa verreckt sind. Vielleicht sollte die Bahn ein eigenes Busunternehmen gründen. So häufig, wie ich im letzten Jahr Bus statt Bahn fahren musste, würde sich das direkt lohnen.

Deutschland hat die drittbeste Fußballmannschaft der Welt. Zwischenzeitlich lagen wir sogar ganz vorne. Aber Trainer und Spieler verhalten sich bei ihrer Rückkehr so, als seien sie schon in der Vorrunde ausgeschieden: frustriert, beschämt und irgendwie auch beleidigt. Und die Fans verkriechen sich verkatert und verärgert. Das sah vor vier Jahren aber ganz anders aus. Doch mittlerweile zählen wohl nur noch handfeste Siege, und Sommermärchen werden in das Reich der Mythen verbannt. Schade.

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Donnerstag, 1. Juli 2010

Auszeit

Kürzlich stand mir noch hiernach der Sinn. Und siehe da – mein Wunsch ging zumindest teilweise schneller in Erfüllung, als ich zu träumen wagte. Super-last-minute-mäßig buchte ich einen Aufenthalt in einem Haus dieser Kette, gleich hier in der Nachbarschaft, das war sehr praktisch, weil es mir eine lange Anreise ersparte.

Leider konnte ich mir kein Zimmer aussuchen, wer last minute bucht, und das auch noch zu Schnäppchenpreisen, der muss halt nehmen, was er kriegt. Aber ich hatte Glück. Mein Zimmer lag im elften Stock mit fantastischem Blick über die halbe Stadt. Nur mit dem Meerblick hatten sie mich betrogen (Billigangebot eben), ich sah nicht mal die Elbe, bloß die ganzen Kräne im Hafen, die hinter den Bäumen aufragten. Apropos Bäume: Wer hätte gedacht, dass Hamburg von oben betrachtet so grün ist? Der Ausblick war wie gesagt fantastisch und unglaublich nervenberuhigend, vor allem nachts, wenn ich nicht schlafen konnte.

Einzelzimmer waren im Preis nicht inbegriffen, aber ich hatte Glück mit meiner Zimmernachbarin. Sie war eine stille, nette Frau aus dem Kosovo, und nachdem sie mir ausführlich ihre ganzen unverdauten Kriegserlebnisse geschildert hatte, beschäftigte sie sich hauptsächlich mit meiner Zukunft.
„Eine Frau braucht Kinder“, sagte sie sehr entschieden, „damit sie im Alter nicht alleine ist.“ Sie sah mich ernst an. „Du brauchst Kinder.“
„Ich habe keinen Mann, da ist das mit dem Kinderkriegen nicht so einfach“, entgegnete ich.
„Macht nix. Reicht, wenn du Mann für eine oder zwei Nächte hast. Hauptsache, du kriegst Kind.“
„Tja, ich weiß nicht so recht. Ich möchte eigentlich keine alleinerziehende Mutter sein. Das wäre mir zu anstrengend.“
„Ja, ja, ist anstrengend, aber besser, als alt und einsam zu sein.“
Dann philosophierte sie weiter:
„Manche Menschen haben immer Pech in der Liebe. Meine Schwester auch. Ist wie du. Ein Mann nach dem nächsten. Alle weg. Aber es gibt auch Männer mit Pech. Bruder von meinem Mann. Immer Pech. Viel alleine. Dabei ist er sooo nett.“
Langer Blick aus großen, traurigen Augen in meine Richtung:
„Ich kann dir Adresse geben, wenn du willst.“

Für Unterhaltung war also gesorgt. Und ich trieb täglich Sport. Meine Joggingstrecke war ungefähr fünfzig Meter lang, und am ersten Tag schaffte ich sie in 15,0. Minuten, wohl gemerkt. Der Service war ausgezeichnet und daher bestellte ich immer alles aufs Zimmer. Genau genommen konnte man den ganzen Tag im Bett verbringen. Himmlisch!

An attraktiven Männern mangelte es auch nicht. Sie waren alle sehr jung, sehr blond und sehr smart. Mit einigen ließ ich mich sogar auf hemmungslose und riskante Abenteuer ein. Ehe ich mich versah, wurden wir sehr intim miteinander, ich ließ alle Hüllen fallen und mich von ihnen am ganzen Körper anfassen. Leider waren auch reichlich Drogen im Umlauf, so dass ich gleich in der ersten Nacht einen ziemlich großen Filmriss hatte. Das bereute ich allerdings dann doch, denn als ich wieder zu mir kam, hatte ich Blessuren am ganzen Körper und mehrere Narben am Bauch. Himmel auch, die jungen Herren hatten es mit ihren Doktorspielen doch etwas übertrieben. Aber sie entschuldigten sich ausgiebig bei mir und waren in den nächsten Tagen besonders fürsorglich und liebevoll. Einer schrieb mir sogar eine Telefonnummer auf eine Serviette, unter der ich mich jederzeit melden könne. Was will Frau mehr?

Daher tat es mir fast ein wenig Leid, als ich wieder heimwärts zog. Aber so entspannt wie ich war, verlängerte ich meinen Urlaub gleich ganz lässig. Und ehrlich gesagt war ich immer noch von diesem Drogenrausch benommen. Ich begab mich daher in paradiesische Zustände, ließ mich noch mehr verwöhnen, lag faul in der Sonne, beobachtete fröhliche Kinder bei munterem Treiben und hätte den Rest meines Lebens so weiter leben mögen. Nur widerstrebend brach ich schließlich wieder gen Heimat auf. Denn auch der schönste Urlaub ist irgendwann vorbei. Traurig, aber wahr.

PS: Dies ist natürlich nur eine Geschichte, zu schön, um wahr zu sein. Aber wer will bei diesem Wetter schon deprimierende Wahrheiten erfahren?

PPS: Na gut, ich will mal nicht so sein. Alle Neugierigen dürfen hier weiter lesen.

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Montag, 31. Mai 2010

Berauscht ...

... bin ich von den vielen Reaktionen auf meinen letzten Blogeintrag zu Hartz IV. So viele Zugriffe auf meine Seiten und Verlinkungen über Twitter und andere Blogs hatte ich schon ewig nicht mehr. Schön, wie viele Menschen merken, dass in unserer Gesellschaft einiges aus dem Ruder läuft!

... bin ich von dem Tempo, mit dem ich gerade durch mein Leben jage. Ich schaue in den Kalender und sage mir: "Wenn die nächsten beiden Stresswochen vorbei sind, dann kann ich mich endlich erholen, Sport treiben und all die anderen Dinge machen, die jetzt liegen bleiben." Doch wenn ich dann endlich etwas Ruhe habe, werde ich prompt krank und vieles bleibt weiterhin auf der Strecke. Und bevor ich noch richtig gesund bin, geht der Stress schon wieder weiter. Nicht, dass ich mich beklagen möchte - zum ersten Mal, seit ich selbstständig bin, habe ich über einen längeren Zeitraum hinweg stabile Einnahmen. Doch irgendwas fehlt.

... bin ich auch von all den Gedanken und Gefühlen, die mir durch Kopf und Herz gehen. Die ganzen Zweifel. Bin ich wirklich auf dem richtigen Weg? Die ganzen schönen, kreativen Ideen, die ich nicht umsetzen kann, weil mir die Zeit fehlt. Die Sehnsucht nach Vergangenem. Die Angst, die Gegenwart auch noch zu verlieren. Die erstaunliche Gelassenheit, mit der ich trotz allem in die Zukunft schaue - und die Panik, die mich in leisen Momenten beschleicht.

... machen mich all die Komplimente, die ich neuerdings erhalte. In den letzten Wochen haben mir so viele Leute gesagt, ich würde viel jünger aussehen, dass ich es langsam selbst glaube. Aber ich verstehe es nicht. Gerade jetzt, wo ich ständig mit verquollenen Augen und Rotznase herumlaufe, unter permanentem Schlafmangel leide und viel zu wenig Bewegung habe und daher an den unschönsten Stellen Speck ansetze. Ich fühle mich so unfit. Aber nicht alt, nein, das seltsamerweise nicht. Im Kopf werde ich immer jünger. Seltsames Leben, das.

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Dienstag, 25. Mai 2010

Am Rande

Ich habe zurzeit beruflich viel mit Menschen zu tun, die von unserer Gesellschaft zum Abschaum der Nation erklärt worden sind und bestenfalls mit Häme, schlimmstenfalls mit Hass bedacht werden. Es sind Menschen, die immer am Rande stehen und dennoch ständig auffallen - weil sie zu schräg, zu fett, zu ungebildet, zu teuer sind. Sie liegen uns ehrlichen Steuerzahlern auf der Tasche und zocken den Staat ab, statt sich endlich mal an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ihrer selbst verschuldeten Misere zu ziehen. Andere schaffen es ja schließlich auch.

So oder ähnlich denken immer mehr Leute über Hartz IV-Empfänger. Die Medien leisten ihren Beitrag, indem sie Langzeitarbeitslose vor die Kamera zerren, die zeigen, wie bequem es ist, auf Staatskosten zu leben, statt sich für ein paar Euro krumm zu machen. Und unser Außenminister haut auch noch kräftig in die Kerbe und würde die Hartz IV-Bezüge am liebsten deutlich kürzen, damit die Leute endlich mal ihren fetten, faulen Hintern hochkriegen und sich nicht weiter aushalten lassen (genau so hat er das natürlich nicht gesagt, aber vielleicht gedacht).

Ich habe nun, wie gesagt, viel mit diesem Abschaum der Gesellschaft zu tun, den faulen Abzockern, den Arbeitsscheuen, den Asozialen. Stimmt, viele dieser Leute erfüllen alle Klischees, die so in unseren Köpfen rumgeistern. Sie sind träge, aggressiv, ungebildet. Mal ist es die billig zurecht gemachte Friseuse, mal der türkische Macho, der aussieht, als sei er einem Modekatalog entsprungen, aber kaum seinen Namen richtig schreiben kann. Einige sind sehr gebildet und man merkt, dass sie einst viel, viel bessere Zeiten gesehen haben. Sie sind entweder übertrieben gestylt oder aber sie sehen auf hundert Meter Entfernung arm aus. Sie haben gammelige Zähne und schlecht sitzende Frisuren. Manche von ihnen riechen nicht gut. Manche sind sehr aggressiv. Andere scheinen unter einem fast krankhaften Redezwang zu leiden. Manche sind unhöflich und unverschämt. Andere schüchtern und ängstlich.

Auf der Straße würde ich um viele von ihnen einen großen Bogen machen. Aber je länger ich mit ihnen arbeite, desto mehr berühren mich ihre Geschichten, ihre verzweifelten Versuche um Anerkennung, das hilflose Bemühen, auch ein Stückchen vom Kuchen abzubekommen. Viele von ihnen haben Schicksalsschläge erlitten, an denen andere zerbrechen würden. Sie erfahren immer wieder Ablehnung und geben dennoch nicht auf. Sie sind bereit, jeden Job anzunehmen (wirklich JEDEN), nur, um nicht länger vom Staat abhängig sein zu müssen. Sie werden von skrupellosen Zeitarbeitsfirmen ausgebeutet, um ihren Lohn geprellt und wie Dreck behandelt. Ihre Ansprechpartner bei der ARGE machen sich nicht die Mühe, ihnen wirklich zuzuhören, auf ihre Wünsche und Bedürfnisse einzugehen. Sie dürfen nämlich keine Wünsche haben. Schließlich leben sie auf Staatskosten. Das macht sie automatisch zu rechtlosen Wesen, die wie Kriminelle behandelt werden.

Je länger ich mit diesen Menschen arbeite, desto mehr steigt meine Wut auf einen Staat, der es zulässt, Millionen Bürger zu stigmatisieren, wie Aussatz zu behandeln. Sie werden in "Maßnahmen" gesteckt, die selten wirkungsvoll und zielgerichtet sind, dafür aber die Statistiken beschönigen. Man tut so, als sei es ihre Schuld, dass sie keine Arbeit finden, nur um nicht zugeben zu müssen, dass auf dem deutschen Arbeitsmarkt für Menschen mit wenig Bildung oder sehr krummen Lebensläufen einfach kein Platz mehr ist. Weil uns die Ideen und der Mut fehlen, wie wir nachhaltige Arbeitsplätze auch und gerade für diese Zielgruppen schaffen können, schieben wir ihnen einfach den Schwarzen Peter zu. Das ist ja viel praktischer. Dabei werden viele von ihnen nie wieder in ihrem Leben eine angemessene Arbeit finden, so sehr sie sich auch darum bemühen.

Ich wage nicht, ihnen das zu sagen. Vielmehr mache ich ihnen Mut, bemühe mich, ihnen wenigsten ein bisschen Selbstachtung und Hoffnung zurückzugeben. Wie gut ihnen das tut, merke ich schnell. Innerhalb weniger Tage verwandeln sie sich von abwehrenden, frustrierten Wesen in Menschen, die mir sehr offen von ihrem steten Scheitern erzählen und voller Sehnsucht ihre geheimsten Träume aussprechen.
"Endlich behandelt uns mal jemand wie Menschen", sagen sie dankbar, und ich bin schockiert darüber, dass das sonst offenbar nicht der Fall ist.
"Warum will mich denn keiner haben?" fragen sie verzweifelt, und ich habe darauf auch keine Antworten.
"Vielen Dank dafür, dass Sie sich so viel Zeit genommen haben. Ich habe selten so viel gelernt wie in den letzten Tagen", sagt ein Mann, der eine lange Drogen- und Gefängniskarriere hinter sich hat und am ersten Tag beinah aus dem Projekt wieder rausgeflogen wäre, weil er meinen Kollegen sehr aggressiv anging. Ich habe ihm zugehört und ihn ernst genommen, das war alles.
"Sie dürfen das nicht persönlich nehmen", entschuldigt sich ein junger Mann, der anfangs auch sehr deutlich seinen Unmut zu verstehen gab. "Aber ich bin einfach so wütend darüber, dass ich keine Lehrstelle finde." Und dann fängt er fast an zu weinen, als er erzählt, wie sehr ihn der Tod seines Vaters verstört hat und wie enttäuscht er darüber ist, dass ihn niemand auf dem Arbeitsmarkt haben will.

Und dann werde ich nicht nur wütend auf unsere merkwürdige Arbeitsmarktpolitik, sondern auch auf die Unfähigkeit unserer Gesellschaft, passende Bildungsangebote für alle zu schaffen. Die Mehrheit der Hartz IV-Empfänger möchte gerne arbeiten. Doch vielen wird diese Chance bereits in der Schule genommen. Gewiss, es wird sie immer geben, die Faulen, die Unwilligen, die modernen Tagelöhner, die es nie länger als ein paar Wochen im selben Job aushalten. Aber sie sind eine Minderheit. Die Mehrheit von ihnen hingegen meistert mit Bravour ein Leben, das kaum jemand der normal arbeitenden Bevölkerung auch nur eine Woche aushalten würde. Wir alle würden an diesen ständigen Demütigungen, Zwangsmaßnahmen und Zurückweisungen zugrunde gehen. Diese Menschen jedoch ertragen sie viele Jahre, manchmal sogar ein Leben lang. Dass sie dabei gelegentlich auch mal aufgeben und sich hängen lassen, dass sie mutlos und schwerfällig, lethargisch und frustriert, aggressiv und zornig werden - wer kann ihnen das verdenken? Schließlich sind auch sie nur Menschen und keine leblosen Statistikzahlen oder fleischgewordene Nummern einer Behörde, die zwar Namen wie "Arbeitsagentur" oder "Jobcenter" trägt, jedoch alles mögliche zu bieten hat, nur keine Jobs.

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