Donnerstag, 30. Oktober 2008

Katzenjammer

Gestern war ein wahrhaft königlicher Tag. In güldenem Licht, das mein Herz verzauberte, unter blassblauem Himmel, der den Horizont weit erscheinen ließ, verliebte ich mich neu. Nein, nein, nicht was Sie jetzt vielleicht denken. In Männer werde ich mich so schnell nicht mehr verlieben, die haben mir in meinem Leben zu übel mitgespielt, zu tiefe Wunden geschlagen, mein Herz zu sehr gequält. Es war meine Stadt, in die ich mich neu verliebt habe, die schönste vielleicht im ganzen Land, jedenfalls an so einem wunderbaren Tag im Herbst, an dem die Farben leuchten, die Seelen ihren Frieden finden und die Luft eine erste Ahnung von Winter mit sich trägt. Ich gab mich längst vergessenen Erinnerungen hin und fand Freundschaften wichtiger als diese dunkle Melancholie, die mich gerne ergreift, wenn der Oktober sich dem Ende entgegen neigt und ich darüber grübele, was war, was ist und was vielleicht doch noch sein könnte.

In Zeiten wie diesen ziehe ich gern Bilanz. Soundso viele Tage Sonnenschein, so viele Tage Regenwetter. Sturm, Gewitter, Dürrezeiten – alles war dabei. Unterm Strich sind dabei einige Pflanzen prächtig gediehen, einige vertrocknet und wieder andere ersoffen. So manches Ziel habe ich verfehlt, so mancher Traum ging baden. Manchmal habe ich den falschen Leuten vertraut. Und manchmal den falschen misstraut. Manchmal war ich zu zaghaft, zu ängstlich, zu verträumt, zu sehnsüchtig, zu naiv, zu ahnungslos. Manchmal war ich wohl auch zu kalt, zu verschlossen, zu abweisend, zu unnachgiebig, zu eigenwillig. Ich war zu faul, zu lustlos, zu kraftlos, zu einfallslos. Ich habe etliche Fehler begangen und muss mir einiges vorwerfen. Doch eins weiß ich genau: Ich kann mir selbst an jedem Tag zu jeder Stunde mit gutem Gewissen in die Augen schauen. Ich muss das Licht nicht scheuen und brauche auch diese albernen Bilanzen nicht zu fürchten, auch, wenn sie Jahr für Jahr zwar viel Abwechslung aber keine echten Überraschungen aufweisen.

In Zeiten wie diesen höre ich mir vermehrt an, dass die inneren Werte doch viel mehr zählen als die äußeren, und ich nicke tapfer, während ich daran denke, wie es sich anfühlt, wenn ich mir selbst in die Augen blicke. Aber dann denke ich auch an einsame, kalte Nächte, an erschöpfende Alltagskämpfe, von deren Last ich gerne ein Stück abgeben würde, an Wünsche und Sehnsüchte, an das stolze Gefühl über Vollbrachtes. Seltsame Anwandlungen befallen mich dann, dieses alberne Besitzenwollen, der Wunsch, auch mal sagen zu können: „Mein Mann, mein Haus, meine Kinder, meine Karriere…“. Dabei weiß ich bei einigen dieser Punkte nicht mal, ob sie überhaupt noch in meine Planung passen, ob das Leben nicht längst weiter gegangen ist. Aber vielleicht möchte ich ja nur den Wunsch festhalten, den Traum mitnehmen in die nächste Runde und dabei einfach vergessen, dass es so etwas wie Endlichkeiten gibt.
Oder ich schlafe einfach mal richtig aus. Das könnte auch hilfreich sein.

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Dienstag, 28. Oktober 2008

Damals - Die Mauer ist da

Die deutsch-deutsche Mauer verlief mitten durch meine Familie. Sowohl die Wurzeln meines Vaters als auch die meiner Mutter befanden sich in Sachsen. Der mütterliche Clan war offenbar deutlich freiheitsliebender als der väterliche, denn neben meiner Mutter waren auch fast alle ihre Geschwister bereits in den fünfziger Jahren gen Westen gezogen. Mein Vater und seine Verwandtschaft blieben hingegen, wo sie waren – bis mein Vater bei einer Familienfeier meiner Mutter begegnete. Das war 1960. Es setzte ein reger Briefwechsel zwischen meinem Vater im Osten und meiner Mutter im Westen ein, und nachdem die beiden sich insgesamt nur dreimal gesehen hatten, heirateten sie im Mai 1961. Mein Vater stellte einen Ausreiseantrag, der abgelehnt wurde, weswegen die Braut nach der Hochzeit ihre Heimreise in den Westen alleine antreten musste. Ich frage mich manchmal, wie sie sich damals wohl gefühlt haben muss, voller Sehnsucht und Angst, ob sie jemals eine normale Ehe würde führen können. Mein Vater, der wie gesagt nicht sonderlich abenteuerlustig war, nahm dieses eine Mal allen Mut zusammen und ging für seine Liebste in Berlin illegal über die Grenze – nur wenige Tage, bevor die Mauer kam.

Angst war ein ständiger Begleiter im Leben meiner Eltern gewesen. Sie hatten als Kinder die Nazi-Diktatur erlebt und als Jugendliche und junge Erwachsene die SED-Diktatur. Sie hatten nicht gelernt, offen ihre Meinung zu sagen, sich politisch zu engagieren und ihren Nachbarn zu trauen. Mein Vater durfte als Republikflüchtling acht Jahre lang nicht mehr nach Hause zu seinen Eltern fahren. Als ihm die Einreise in die DDR endlich gestattet wurde, war ich alt genug, um diese Reisen bewusst wahrzunehmen. Sie begannen stets mit dem Antrag auf ein Einreisevisum, das manchmal erst sehr kurzfristig genehmigt wurde. Reisen in die DDR waren kein Urlaub, sondern eine Strapaze. Wir stopften das Auto mit Geschenken voll, in der Hoffnung, dass uns die Grenzer nichts davon abnehmen würden. Wir fuhren immer über den Grenzübergang Helmstedt, und ich sehe jetzt noch die Wachtürme vor mir, die Zäune, den Stacheldraht und die Grenzsoldaten der DDR, die uns mit versteinerten Gesichtern musterten, Marionetten, die nicht zu eigenen Handlungen fähig zu sein schienen. Sobald wir in die Nähe der Grenze kamen, machte sich ein Gefühl der Beklemmung in unserem überfüllten Auto breit. Meine Eltern flüsterten nur noch, als fürchteten sie, dass wir abgehört und verhaftet werden könnten, falls wir laut über diese Zustände lästerten. Bloß nichts Falsches sagen oder tun, lautete ihr oberstes Gebot, während wir uns in endlos langen Autoschlangen im Schneckentempo vorwärts bewegten. Genutzt hat das Flüstern selten was, wir mussten meistens alle aussteigen und nicht selten musste mein Vater schon auf der Hinreise das Auto komplett leer räumen. Unter den Roboterblicken der Soldaten türmten sich Koffer und Taschen auf der Straße und mein Vater, der vor innerer und äußerer Anspannung keuchte, klappte auch noch die Rückbank hoch. Irgendwann war der Spuk vorbei und wir durften alles wieder einräumen und unsere Reise zu Oma und Opa fortsetzen.

Meine Erinnerungen an die Besuche in Sachsen sind die eines Kindes. Ich freute mich auf meine Großeltern und alle anderen Verwandten. Noch heute zählen die Besuche bei ihnen für mich zu ganz besonderen Erinnerungen. Ich sehe meine rußgeschwärzten Füße, wenn wir im Sommer in Sandalen liefen, und meine Mutter, die uns in der Küche meiner Großeltern abends in einer großen Plastikschüssel den Kohlenstaub von der Haut wusch. Es gab zwar ein Badezimmer, aber das war kalt, ungemütlich und vor allem sehr alt. Wir Kinder wuschen uns immer in der Küche. Ich sehe die Kachelöfen und rieche den Gasgeruch vom Herd in der Küche. Ich ernte in meiner Erinnerung Berge von Stachelbeeren und trinke bei meiner Großtante selbstgemachten Apfelmost. Diese Tante hatte ich besonders ins Herz geschlossen. Ihr Haus war gepflegter als das meiner Großeltern und ihr Garten ein Paradies. Ich sehe mich in ihrem eiskalten Schlafzimmer, in dem es keine Heizung gab, unter riesigen Daunendecken versinken und höre mir ihre Geschichten aus Kriegstagen an. Ich sehe uns durch dunkle Straßen fahren, die nur dürftig von Gaslaternen erleuchtet waren und die alten, verfallenen Häuser gespenstisch aussehen ließen. Meine Mutter war jedes Mal aufs Neue bestürzt über den Verfall der Städte, wohl, weil der Kontrast zu unserem gepflegten Umfeld zuhause immer größer wurde. Ich sehe all die Banner an Häusern und Brücken, auf denen mit roter Aufschrift sozialistische Sprüche standen, die das Volk ermutigen und loben sollten. Wir fuhren durch die „Straße des Komsomolzen“ und ich brütete darüber, woher dieser seltsame Name wohl kam. Ich sehe, wie die Blicke unserem Westauto folgten und die Nachbarn uns wie Außerirdische anstarrten, wenn wir in der kleinen Straße vor dem Haus meiner Großeltern parkten. Meine Mutter scheuchte uns ins Haus, um möglichst jedes Aufsehen zu vermeiden. Wir waren anders und etwas Besonderes, aber wir fühlten uns nicht wohl dabei. Nachdem der Zwangsumtausch deutlich erhöht worden war und wir für jeden Aufenthaltstag in der DDR 25 D-Mark in Ostmark tauschen mussten (Kinder nur 7,50), fielen unsere Geschenke noch großzügiger aus. Es gab kaum etwas, das wir für unser Geld im Osten gerne gekauft hätten, und so verteilten meine Eltern das Geld großzügig unter die Verwandtschaft. Dabei entstand eine seltsame Schräglage, denn während meine Eltern in ihrem Alltag keineswegs im Geld schwammen und sehr bescheiden lebten, müssen sie auf unsere ostdeutschen Verwandten wie Millionäre gewirkt haben. Sie fühlten sich überhaupt nicht gut dabei.

Zu meinen DDR-Geschichten gehören auch die vielen Pakete, die wir verschickten. Zu allen Geburtstagen und Weihnachten bekamen alle nahen Verwandten (und das waren so einige) ein Paket, das wir mit all den Dingen füllten, die sie nach eigenen Angaben dringend brauchten bzw. vermissten. Bohnenkaffee und Ananas in der Dose standen ganz oben auf der Liste, gelegentlich auch Kleidung oder Medikamente. Meine Tante schrieb manchmal Produktnamen auf, die wir gar nicht kannten. Sie hatte sie im Westfernsehen aufgegabelt und war besser informiert als wir. Später sagte meine Mutter mal, sie und mein Vater seien nie zu echtem Wohlstand gekommen, weil sie ihr ganzes Vermögen in diese Care-Pakete gesteckt hatten. Da ist sicher was dran. Manchmal kamen die Pakete stark beschädigt beim Empfänger an, manchmal fehlte auch das ein oder andere Teil. Umgekehrt erhielten auch wir Pakete aus dem Osten. Sie waren in graues, hartes Papier gewickelt und mit dicken Bindfäden verschnürt. Wir freuten uns immer darüber und waren immer gespannt auf den Inhalt. Als wir jünger waren, kamen tatsächlich auch oft nette Spielsachen zum Vorschein. Doch mit den Jahren konnten wir mit den Inhalten immer weniger anfangen. Die Bücher stammten von Autoren, die uns fremd waren, und die kunstgewerblichen Sachen waren für unseren Geschmack hässlich. Und doch war uns die Geste wichtig, das Gefühl, miteinander verbunden zu sein, eine Familie zu sein, trotz Mauer. Dieses Gefühl war sehr stark – vielleicht sogar nicht trotz, sondern gerade wegen der Mauer.

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Montag, 20. Oktober 2008

40 Jahre Feinstrick - heute: AIDS

Die taz feiert in diesen Tagen ihren 30. Geburtstag und brachte anlässlich dieses Jubiläums eine Sonderausgabe heraus, in der in 30 Artikeln und vielen kleinen Randbemerkungen die letzten drei Jahrzehnte bundesdeutscher Geschichte noch einmal lebendig werden. Ich lese mich gerade etappenweise durch die Texte durch und stelle fest, dass fast alle diese Ereignisse Erinnerungen in mir wecken, obwohl ich gerade in den ersten Jahren noch recht jung und alles andere als ein politisch denkendes Mädchen war. Doch die Geschehnisse von damals haben zum Teil Auswirkungen bis heute und sie haben unsere Gesellschaft, und somit natürlich auch mein Leben, nachhaltig verändert.

Ich habe mir überlegt, wie eine Zeitung wohl aussehen würde, die anlässlich meines 40. Geburtstags (der längst rum ist) entstanden wäre – mit Ereignissen, die nur für mich persönlich von Bedeutung waren, aber auch solchen, die eine ganze Generation – meine Generation – geprägt haben. Ich werde in nächster Zeit in loser Folge in diesem Blog ein wenig Rückschau halten und in meinem Gedächtnis wühlen. Eine Chronologie wird es nicht geben, ich veröffentliche die Texte hier dann, wenn sie mir gerade in den Sinn kommen.

Den Auftakt bildet eine Geschichte zum Thema AIDS.

Ich jobbte Ende der 80er Jahre in einem der ersten Bioläden der Stadt. Es war ein kleiner, schmuddeliger Laden, dessen Besitzer ihn aus purem Idealismus betrieb. Ich glaube jedenfalls nicht, dass er damit viel verdiente, obwohl er natürlich den Nerv der Zeit traf. Der Ladenbesitzer, nennen wir ihn mal Thomas, war ein junger Mann, schlank, hoch gewachsen, etwas linkisch in seinen Bewegungen, aber sehr nett. Eines Tages zog er in eine Wohnung in der Straße meiner Eltern. Ich fragte mich, was er in dieser gediegenen Wohngegend suchte, in der überwiegend ältere Leute wohnten. Aber vielleicht gefiel ihm das viele Grün ringsherum und die Nähe zum Wald, der unmittelbar hinter den Häusern begann.

Vielleicht war aber ja auch der Hausbesitzer schwul – so wie Thomas auch. Das kapierte ich damals aber nicht. Da war Homosexualität für mich etwas völlig Fremdes, Exotisches und, ja, auch Verwerfliches. Dass Thomas schwul war, begriff ich noch nicht mal, als in seine Wohnung ein Freund von ihm mit einzog, Olaf, ebenfalls groß, schmal und schlaksig. Es war die große Zeit der Wohngemeinschaften, alle Welt lebte in WGs, warum also sollte nicht auch Thomas sich mit jemandem die Miete teilen? Ich lernte Olaf gut kennen, weil er auch im Laden arbeitete und Thomas uns oft zu gemeinsamen Schichten einteilte. Ich mochte Olaf nicht besonders. Er war ernst und besserwisserisch, ganz anders als Thomas. Einmal begegnete ich den beiden auf der Straße. Sie gingen sehr dicht beieinander, lachten und wirkten glücklich. Als sie mich sahen, stoben sie so deutlich auseinander, dass ich mich irritiert fragte, was das sollte. Zum ersten Mal kam mir in den Sinn, dass mit Thomas und Olaf etwas „nicht stimmte“.

Thomas war häufig krank.
„Mein Immunsystem ist leider total angeschlagen“, erklärte er. „Mich haut einfach alles sofort um.“
Mir tat das Leid, obwohl es für mich bedeutete, dass ich häufiger arbeiten und mehr Geld verdienen konnte. Manchmal nahm Thomas mich in seinem großen, alten Lieferwagen mit heim. Wir unterhielten uns über Kafka, und ich kam mir klug und belesen vor, obwohl ich den „Prozess“ wohl nicht wirklich kapiert hatte. Thomas erzählte, dass er ursprünglich mal Friseur gelernt hatte, was ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte. Er wirkte so uneitel und stylte sich überhaupt nicht. Das passte gar nicht zu einem Friseur.

Dann zog Olaf bei Thomas wieder aus. Ich sah ihn noch ein paar Mal im Laden, er wirkte deprimiert und noch verschlossener als ohnehin schon, bis er eines Tages gar nicht mehr erschien. Und Thomas war immer öfter krank. Irgendwann gab er den Laden auf.
„Ich schaffe das finanziell nicht mehr“, verkündete er. Er zog auch aus der Wohnung in der Straße meiner Eltern aus. Das bekam ich jedoch alles nur noch am Rande mit. Ich war mittlerweile selbst ausgezogen, studierte und war nur noch selten in der Gegend.

Meine Mutter erzählte mir, dass den Bioladen jemand aus dem Ort übernommen hatte, so dass er weiter existieren würde. Das fand ich schön. Die Jahre gingen ins Land, bis ich eines Tages auf dem Weg zu meinen Eltern zufällig Thomas im Bus traf. Er war schon immer schmal gewesen, aber jetzt wirkte er deutlich abgemagert. Seine Haare waren sehr kurz geschnitten, was damals noch nicht in Mode war und das Magere unterstrich. Wir setzten uns nebeneinander und plauderten wie in alten Zeiten nett miteinander. Ich erzählte ein bisschen von meinem Studium, und dann fragte ich Thomas:
„Was machst du denn jetzt eigentlich?“
„Ich arbeite für eine AIDS-Stiftung“, sagte Thomas.
Wir waren mittlerweile in den 90ern angekommen, AIDS war spätestens seit dem Tod von Rock Hudson und Freddie Mercury ein ganz großes Thema, und selbst in meinem Hinterwäldlerleben hatten die Zeichen der Zeit ihre Spuren hinterlassen. Meinen ersten AIDS-Test, in einer Mischung aus großer Panik und noch mehr Scham durchgeführt, hatte ich jedenfalls bereits hinter mir, und Sex ohne Gummi gab es seitdem nicht mehr. Jetzt sah ich Thomas an, dessen Augen in seinem ausgezehrten Gesicht immer noch so warm und fröhlich leuchteten wie früher. Und auf einmal, hier in diesem Bus, in dieser Sekunde, begriff ich. Ich begriff, dass Thomas schwul war. Ich begriff, was er mit „schwachem Immunsystem“ gemeint hatte. Ich begriff, warum er für eine AIDS-Stiftung arbeitete. Ich wollte sagen:
„Du hast es auch, nicht wahr? Du bist auch infiziert. Mensch, Thomas, kann ich irgendwas für dich tun?“
Ich hätte ihm so gerne meine Solidarität bekundet, ihm gezeigt, dass ich auf seiner Seite stand, dass ich inzwischen wusste, dass Homosexualität nichts Unanständiges ist, und dass ich aufgeklärt genug war, um ebenfalls zu wissen, dass ich mich nicht bei Thomas anstecken konnte, wenn ich neben ihm im Bus saß. Aber ich schaffte es nicht. Ich war wie gelähmt in meiner Bestürzung und scheute davor zurück, offen mit Thomas zu sprechen. Vielleicht irrte ich mich ja auch und alles war ganz anders. Das wäre doch peinlich. Thomas musste aussteigen, und als er schon halb aus dem Bus raus war, überlegte ich noch, hinterher zu springen, ihn auf der Straße anzusprechen, wenn all die Leute mit all ihren neugierigen Ohren nicht mehr da waren. Ich spielte diesen Moment noch Monate später immer wieder durch – wie Thomas sich von mir verabschiedete, wie ich ihm hinterher sah, wie ich aufstand und ihm folgte. In Wahrheit folgte ich ihm nicht.

In Wahrheit sah ich Thomas nie wieder. Nur wenige Monate nach dieser Begegnung rief meine Mutter mich an und erzählte mir mit großer Betroffenheit, dass Thomas im Krankenhaus an AIDS gestorben sei.
„Und weißt du was? Nur ein paar Zimmer weiter lag Olaf, der kurze Zeit danach auch gestorben ist. Aber versöhnt haben die beiden sich nicht mehr. Ich glaube, sie wussten nicht mal, dass sie fast Tür an Tür lagen.“

Ich vermute, dass Olaf sich an Thomas infiziert hat und ihm das selbst im Angesicht des Todes nicht verzeihen konnte. Dieser Gedanke bewegt mich heute noch sehr. Thomas und Olaf sind die einzigen Menschen, die ich persönlich kannte und die an AIDS gestorben sind. Durch ihren Tod habe ich stärker als durch all die Aufklärungskampagnen begriffen, dass Sexualität nie einfach nur Spaß ist. Außerdem gehörten Schwule seitdem ganz selbstverständlich sogar in die Welt meiner Eltern. Auf einmal war alles anders. Und es war gut so. Auch, wenn der Preis, den wir dafür zahlen mussten, oft sehr hoch war.

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Mittwoch, 15. Oktober 2008

Mosaik

Ich habe Halsschmerzen und fühle mich krank. Am liebsten würde ich ins Bett gehen und zwanzig Stunden durchschlafen. Ich weiß, dass ich gar nicht so lange am Stück schlafen kann, aber allein den Gedanken finde ich toll.

Ich habe gestern schon wieder eine Firma gegründet – insgeheim. Wenn ich all meine Ideen auch mal zu Geld machen würde, dann hätte ich keine Sorgen mehr. Allein, es fehlen mir dann doch gewisse unternehmerische Fähigkeiten.

Ich gehe seit ein paar Wochen zur Physiotherapie, wegen schlimmster Rückenschmerzen. Letztes Mal habe ich mit dem Therapeuten gestritten und über das subjektive Empfinden von Schmerz diskutiert. Er fand, ich würde mich anstellen, ich fand, es sei mein gutes Recht, empfindlich zu sein und laut zu äußern, dass er mir weh tat. Heute gab es dafür eine sehr sanfte Behandlung, mit beruhigendem, entspannenden Handauflegen. Als er fertig war, drehte ich den Kopf zur Seite und verfing mich dabei in seinen Augen. Zum Abschied sagte ich, das sei ja mal eine Behandlung ganz ohne Aua gewesen. Er lachte: „Ja, das gibt’s auch.“

Ich habe lauter gute Blogtexte im Kopf, komme aber nicht dazu, sie aufzuschreiben. Für andere Texte hingegen fehlen mir sogar die Ideen. Ich glaube, es ist Zeit für eine kreative Pause. Vielleicht sollte ich meine Notgroschen zusammen kratzen und ein paar Tage verreisen, Eindrücke sammeln, das Hirn durchpusten, meine Kreativität ankurbeln. Mal sehen.

Und zum Schluss noch dies: Ich habe eine erstaunliche Gabe, mit Kindern umzugehen. Früher war mir das gar nicht so bewusst, weil ich Kinder anstrengend fand und ihnen weitestgehend aus dem Weg ging. Jetzt aber stelle ich verwundert fest, dass ich selbst sensible, kleine Angsthasen dazu bringe, Vertrauen zu mir zu fassen. Vielleicht, weil sie merken, dass ich auch so ein sensibler, kleiner Angsthase bin.

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Mittwoch, 8. Oktober 2008

Glücksmomente

Das Leben meint es grade richtig gut mit mir. Ich glaube, das ist die ausgleichende Gerechtigkeit für viel Unschönes, das ich in der Vergangenheit aushalten musste. Ich weiß, das klingt hier oft ganz anders. Aber die manchmal sehr düsteren Einträge in diesem Blog spiegeln nur einen kleinen Teil meines Lebens wider. Der ganze Rest besteht aus viel, viel Gutem. Warum ich lieber das Traurige aufschreibe als das Schöne, kann ich gar nicht sagen. Vielleicht, weil ich in einsamen Momenten eher das Bedürfnis habe, mich schreibend mitzuteilen, während ich in den heiteren Zeiten die direkte Kommunikation vorziehe.

Als ich mich selbstständig gemacht habe, wusste ich nicht, was auf mich zukommen und wohin die Reise gehen würde. Das weiß ich immer noch nicht genau. Aber ich habe in den letzten Monaten erste Erfahrungen gesammelt, und die waren alle durchweg positiv. Seit einem Jahr habe ich das Gefühl, ständig die richtigen Entscheidungen zu treffen. Eins fügt sich zum anderen, und ich merke oft erst hinterher, wozu es gut ist, dass ich etwas nun gerade so und nicht so mache. Ich begegne Menschen, die mich auf eine Weise stützen und stärken, dass mir manchmal die Worte fehlen. Die an mich glauben, ohne mich richtig zu kennen. Die mir auf so selbstlose Weise Hilfe anbieten, dass ich zutiefst gerührt bin. Ich staune darüber, was aus kleinen, zufälligen Begegnungen wurde und wie sehr sich persönliches Engagement auszahlt.

Nun hat sich gerade wieder auf wundersame Weise eins zum anderen gefügt. Ich war in einen finanziellen Engpass geraten und bekam zum ersten Mal echte Existenzängste. Tagelang malte ich mir meine Zukunft in den düstersten Farben aus und sah nicht nur die ganze Selbstständigkeit, sondern auch mich baden gehen. Bis heute Morgen. Da bekam ich nämlich vom Briefzusteller persönlich meine Post überreicht, in der sich auch ein Brief vom Finanzamt befand. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich sah, dass ich völlig unerwartet eine sehr hohe Summe erstattet bekomme, die sämtliche Existenzängste auf einen Schlag verschwinden lässt. Stattdessen ist da wieder dieses sichere Gefühl, dass ich auf wundersame Weise vorwärts getragen werde, meinen Zielen, meiner Zukunft entgegen. Und das nur, weil ich zum ersten Mal seit vielen Jahren auf meinen Bauch höre und das mache, wozu ich Lust habe.

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Übermorgen fliege ich in den Urlaub, und wenn ich zurückkehre,...
feinstrick - 15. Mai, 21:06
Hat ja geklappt :)
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steppenhund - 11. Feb, 22:02
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feinstrick - 11. Feb, 20:08
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