Der W. war einer dieser Alt-68er, die mir eigentlich total auf die Nerven gehen: Schluffige, kraftlose Haltung, die wohl Lässigkeit und Abkehr vom Spießertum symbolisieren soll. Unordentliche Frisur und unordentliche Klamotten (noch mehr Abkehr vom Spießertum). Endlose Diskussionen, die nie zu etwas führen, als Ausdruck gelebter Demokratie. Ein Erziehungsstil, der jegliche Autorität vermissen lässt, was bekanntlich zu genauso wenig führt wie ziellose Debatten.
Trotzdem kam ich mit dem W. gut aus. Er hatte Humor und oft einen erfrischend klaren Blick auf die Dinge. Außerdem war er immer gut gelaunt, unkompliziert und sehr hilfsbereit. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er, eine Fluppe im Mundwinkel, Pferdeställe auf dem Hof ausmistete, auf dem wir uns kennenlernten. Obwohl W. erst in hohem Alter anfing zu reiten und es darin nie sehr weit brachte, kaufte er irgendwann zwei Ponies für sich und seinen Sohn. Die Ponies waren genauso unerzogen wie der Sohn. Tiere diskutieren nicht, sie brauchen klare Ansagen. Wie Kinder. Trotzdem freute ich mich, als W. mir anbot, eins der Ponies regelmäßig zu reiten. Anfangs ging das alles gut und machte viel Spaß. Das Pony, ein bildschöner junger Wallach, gehorchte mir zum Glück besser als seinem Herrn. Ich unternahm mit Freunden endlose Ausritte durch wunderschöne Natur. Diese Stunden zählen zu den schönsten Erinnerungen meines Lebens. Auch mit W. bin ich etliche Male ausgeritten. Wir machten unterwegs Rast in seinem Wochenendhaus mitten im Wald und tranken mit seiner Frau Kaffee, während die Pferde im Garten grasten. Das war ein bisschen Immenhof live.
Mit der Zeit wurde es jedoch immer mühsamer, W.s unerzogenes Pony zu reiten. W. ignorierte die Situation völlig („Läuft doch alles super“ - während alles lief, nur das Pony nicht). Meine erzieherischen Bemühungen machte er regelmäßig zunichte. Es war Zeit für eine Veränderung, und ich griff dankbar zu, als ich eine andere Reitbeteiligung angeboten bekam. W. nahm mir das nicht übel, unser Kontakt blieb weiterhin gut. Als ich Jahre später den Hof verließ, verloren wir uns jedoch aus den Augen. Nur ab und zu trafen wir uns noch auf den Geburtstagen einer gemeinsamen Freundin. Das letzte Mal im vergangenen Herbst. Wir saßen bis nachts zusammen, tranken Wein, lachten und erinnerten uns an gemeinsame Zeiten. W. nahm mich mehrmals herzlich in die Arme. Er freute sich sehr, mich zu sehen. Als ich erzählte, dass ich schon länger nicht mehr reite, sagte er: „Komm doch mal wieder mit. Wir könnten zusammen einen gemütlichen Ausritt machen.“ Ich fand den Gedanken toll und sagte zu. Aber dann folgte ein langer, dunkler Winter und ich hatte vieles im Sinn, nur keine Pferde. Im Frühling, so dachte ich oft, wenn das Wetter wieder schön ist, dann fahre ich mal wieder mit raus zu den Pferden.
Nun ist endlich Frühling. Aber ich werde mit dem W. nicht mehr zusammen zu den Pferden fahren. Gestern erfuhr ich von meiner Freundin, dass er kürzlich ganz überraschend verstorben ist. Er wachte eines Morgens einfach nicht mehr auf. Ein schöner Tod für ihn, entsetzlich für seine Frau und den Sohn. Und ich spüre mal wieder: Man sollte Dinge, die einem wichtig sind, nicht zu lange aufschieben.
Heute hat mein Vater Geburtstag. Er wäre 82 Jahre alt geworden, wenn er nicht vor elf Jahren an einem Hirntumor gestorben wäre. Ich habe im letzten Jahr viel an ihn gedacht, oft mit ihm gerungen, war abwechselnd ratlos, traurig, zornig. Ich habe mich gefragt, warum er so war, wie er war. Warum er mir und meinen Geschwistern nicht die Liebe geben konnte, die wir brauchten – obwohl er doch eigentlich ein sehr liebevoller Mensch war, sanft, friedlich, immer mit einem Lachen im Gesicht, immer freundlich, nie mürrisch, schlecht gelaunt, genervt, verärgert. Und doch fiel es ihm schwer, Gefühle zu zeigen, sich auf Nähe einzulassen, seine Kinder beim Heranwachsen zu unterstützen. Je älter er wurde, umso mehr zog er sich in seine eigene kleine Welt zurück, in die niemand vorzudringen vermochte – außer vielleicht meine Mutter. Ihr galt all seine Liebe, all seine Zuwendung, und als sie schwer krank wurde und starb, da ging er einfach mit und folgte ihr nur ein knappes Jahr nach ihrem Tod. Voller Wut dachte ich damals: Hättest du nicht noch ein bisschen durchhalten können? Deine Kinder und Enkelkinder hätten dich noch gut gebrauchen können. Gleichzeitig war ich froh, dass es nun nicht meine Aufgabe war, mich um diesen eigensinnigen Mann zu kümmern, der sich von niemandem außer meiner Mutter gern etwas sagen ließ. Er war eine Autoritätsperson, erfolgreich im Beruf, angesehen in der Familie und Verwandtschaft. Und doch wirkte er oft völlig überfordert mit den Banalitäten des Alltags, war hilfloser als ein Kind, wenn er in ein Restaurant ging oder einkaufen. Dann schämte ich mich oder hatte Mitleid mit ihm – je nachdem, wie ich mich gerade selbst fühlte. Vor allem aber ging mir seine Weltfremdheit auf die Nerven, war ich wütend darüber, keinen Vater zu haben, der mich stützte, sondern auf den ich oft genug selbser aufpassen musste.
Der Mann, der nun seit gut anderthalb Jahren durch mein Leben tanzt, kommt und geht wie er will, mal sehr intensive Nähe zulässt, dann wieder weit, weit weg ist, erinnert mich immer häufiger an meinen Vater. Die Ähnlichkeiten sind so verblüffend, dass ich mich mittlerweile nicht mehr wundere, warum mich dieser Mann so fasziniert, und ich ihn in mein Herz geschlossen habe, obwohl wir so unterschiedlich wie Tag und Nacht sind, und ich keineswegs anhimmelnd an seinen Lippen hänge, sondern mich oft genug verständnislos abwende. Aber wir neigen eben zu Wiederholungen im Leben. Das, was uns vertraut ist, zieht uns an. Dazu gehören sogar negative Gefühle wie Wut, Enttäuschung und Angst. Fast scheint es so, als ob ich diesem Mann begegnen musste, um die Geschichte mit meinem Vater besser zu verstehen, um mich innerlich mit ihm aussöhnen zu können, um vorwärts gehen zu können. Ob ich nun alleine weiter gehe oder wir zu zweit sind – in welcher Form des Miteinanders auch immer – ist eigentlich fast egal. Auf jeden Fall habe ich eine weitere, kleine Stufe in meinem Leben erklommen. Es war eine schwere Hürde, für die ich sehr, sehr viel Anlauf und Kraft brauchte. Viele Male bin ich umgekehrt, weil ich dachte, ich würde es nicht schaffen. Aber nun habe ich auf einmal so ein leises Gefühl von Versöhnung, von Abschied und Loslassen. Könnte sein, dass ich tatsächlich schon die ganze Stufe bewältigt habe.
Und nun werde ich eine Kerze für meinen Papa anzünden und mich an all die schönen Momente mit ihm erinnern, das gemeinsame Lachen, das Malen und Basteln, als ich noch ein Kind war, seine Hilfe bei den Hausaufgaben, die langen Spaziergänge mit unserem Hund, die vielen Urlaube und endlosen Stunden voller Gemütlichkeit an unserem großen Esstisch. Das gab es nämlich alles auch.
Kürzlich war ich mit einer alten Schulfreundin verabredet. Wir waren mal ganz, ganz dicke, aber irgendwann gab es Risse, die sich nicht dauerhaft kitten ließen. Die Freundschaft zerbröselte. Viele Jahre schob ich die Erinnerung beiseite, in meinem Leben waren mittlerweile andere Menschen und Themen wichtig geworden.
Vor einigen Monaten dachte ich nach bald fünfzehn Jahren plötzlich wieder an diese alte Freundin. Ich googelte nach ihr, kam aber nicht weit. Nur drei Wochen später meldete sie sich bei stayfriends an und gabelte mich dort auf. Das sind diese kleinen, magischen Momente im Leben. Wir mailten, telefonierten, und schließlich verabredeten wir uns zum Kaffee.
Sie erkannte mich sofort und rief mir wie früher schon von Weitem einen fröhlichen Gruß zu. Ich musste zweimal hingucken, um meine alte Freundin zu entdecken. Fünfzehn Jahre und drei Kinder hatten aus einem heißen Feger einen ausgefransten Lappen gemacht. Schnell wurde deutlich, dass sie liebend gern mit mir tauschen würde, meine Unabhängigkeit, meine Freiheit ersehnt, während sie in einer unglücklichen Ehe festhängt und der Alltag sie zerfrisst.
Früher war das alles ganz anders. Da war sie die Vorreiterin in allem, diejenige, die viel mehr ausprobierte als ich, viel mutiger war, viel weltgewandter. Ich war das Mädchen aus der Provinz, erst mit siebzehn in die Großstadt gezogen, unfassbar brav und naiv. Ehrführchtig schaute ich zu meiner Freundin auf, die bereits mit dreizehn ihren ersten Sex hatte, rauchte wie ein Schlot, sich die Haare schwarz färbte, zuhause auszog, während sie noch zur Schule ging und immer mit den richtig coolen Jungs abhing.
Gestern erzählte ich meinem Bruder von unserer Begegnung und davon, wie bieder meine Freundin geworden ist. „Ach“, sagte er erstaunt. „Die war doch immer so obercool, allein schon von ihren Klamotten her. Neben der kam ich mir vor wie ein kleiner, unscheinbarer Bubi.“ Ich musste lachen über dieses ausgesprochen niedliche, späte Bekenntnis meines kleinen Bruders, der damals zumindest nach außen hin natürlich auch immer sehr cool tat. Undenkbar, dass er sich von einem Mädchen eingeschüchtert fühlte. Aber mit Mitte vierzig ist es wohl nicht mehr uncool, das zuzugeben. Und er hat leider auch recht: Auch ich fühlte mich neben der Freundin in jungen Jahren extrem uncool.
Nun, die Zeiten haben sich geändert. Sieht ganz so aus, dass ich es heute bin, die mit den coolen Typen abhängt und die cooleren Klamotten trägt. Wie das gekommen ist, weiß ich auch nicht, aber ich finde es gerade total gut.
Und weil es so schön passt, hier ein ganz besonders cooler Kerl, den ich damals sehr verehrt und dank eines anderen coolen Typenwiederentdeckt habe:
Ich spiele mit Kindern und einer "antiken" Kinderpost aus den 70er Jahren. Dabei wird mir bewusst, wie sehr sich die Welt verändert hat. Die durchsichtige Plastikwand der Kinderpost erinnert mich an die Glasscheiben vor den Postschaltern, hinter denen sich mit finsterer Miene die Beamten verschanzten, während man durch einige Löcher in der Scheibe seine Wünsche sprechen musste. Geld und Formulare wechselten durch einen Schlitz die Seiten. Und kinderfreundlich war auch niemand. Ich erinnere mich an einige äußerst traumatische Erlebnisse im Kontakt mit einem besonders grimmig drein blickenden Postbeamten. Wörter wie Kundennähe und Kundenbindung waren damals noch unbekannt.
„Was ist ein Telegramm?“ fragen die Kinder.
Ich erzähle und erinnere mich daran, wie es war, wenn bei uns zuhause ein Telegrammbote geklingelt hat, abends spät manchmal. Ein Geburtstagstelegramm, überreicht auf einer großen Schmuckkarte, war etwas sehr Besonderes. Aufgeregt starrten wir auf die wenigen Worte als seien sie uns direkt vom Mars gesandt worden. Wenn es keinen außergewöhnlichen Anlass gab, dann enthielten die Telegramme in der Regel Hiobsbotschaften. Unsere Verwandten in der DDR hatten fast alle kein Telefon. Im Notfall schickten sie ein Telegramm, das uns in hilflosen Schrecken versetzte.
„Wie teuer war denn so ein Telegramm?“ fragt eins der Kinder.
„Sehr teuer“, sage ich. Eine genaue Vorstellung habe ich auch nicht. „Ich habe nie selbst eins aufgegeben.“
In meiner Generation verschwand das Telegramm in der Bedeutungslosigkeit, lange bevor es Handys und Internetanschlüsse in jedem Haushalt gab.
„Wofür sind diese Scheine hier da?“
Ich muss erst mal genauer hinschauen, so fremd kommen selbst mir die Formulare vor.
„Ach richtig, die musste man ausfüllen, wenn man am Schalter Geld abgehoben hat. Da gab es noch keine Geldautomaten.“ Während ich das sage, frage ich mich, wie das überhaupt ging – bei den mageren Öffnungszeiten von Postämtern und Banken.
„Und wie rum hält man den Hörer bei diesem Telefon mit der Wählscheibe?“
Ich schaue irritiert. Wie – das wissen die Kinder nicht? Nein, woher auch. Sie sind im Zeitalter der Schnurlostelefone aufgewachsen. Ich überlege, wann meine Eltern ihr erstes Schnurlostelefon hatten und kann mich nicht mehr genau daran erinnern. Davor gab es ja noch die Tastentelefone. Das meiner Eltern war grün, das in meiner Studenten-WG rot. Es blieb dort, als ich wieder auszog. Telefone gehörten einem schließlich nicht, man mietete sie nur.
„Und der Anrufbeantworter stand in einem kleinen Gerät daneben. Die Nachrichten wurden auf kleinen Kassetten aufgenommen.“
„Hä? Wie seltsam. Hast du so was auch gehabt?“
„Ja, natürlich. Meine Eltern hatten allerdings überhaupt nie einen Anrufbeantworter.“
Ich komme mir wie ein Fossil aus der Steinzeit vor, dabei ist das alles ja Teil meines eigenen Lebens – und so alt bin ich nun wirklich noch nicht. Ich erinnere mich an das graue, schwere Telefon mit dem riesigen Hörer, das auf dem Schreibtisch meines Vaters stand. Weil mein Vater manchmal nachts Bereitschaftsdienst hatte, gehörten wir zu den fortschrittlichen Haushalten, die auch noch einen zweiten Telefonanschluss im Schlafzimmer besaßen. Das bedeutete, dass ich mich für ungestörte Telefonate mit meinen Freundinnen zurückziehen konnte und nicht von neugierigen Familienmitgliedern belauscht wurde. Einziger Nachteil: Im Schlafzimmer meiner Eltern war es im Winter eiskalt. Und wenn ich zu lange fort blieb, schaute meine Mutter vorbei und mahnte, dass das Gespräch zu teuer würde.
Ich erzähle von den Telefonzellen, die an jeder Ecke standen und von den holzverkleideten Telefonkabinen auf dem Postamt. Im Spiel zeige ich, wie nervig es war, immer das passende Kleingeld parat zu haben und mitten im Gespräch unterbrochen zu werden, weil das Geld alle war.
Die Mädchen, mit denen ich spiele, lachen sich schlapp. Für sie sind das alles reine Märchen. Für mich selbst Jugenderinnerungen.
Heute wird das älteste Kind aus der großen Schar meiner Neffen und Nichten dreizehn Jahre alt. Dreizehn – das ist so eine seltsame Zeit. Man ist nicht mehr richtig Kind, aber auch nicht jugendlich. Man hängt irgendwo dazwischen, pubertiert vor sich hin und lässt alle Welt den eigenen Unmut über diese schwierige Suche nach einer neuen Identität spüren.
An meinen eigenen dreizehnten Geburtstag kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nicht, was ich geschenkt bekam und wie der Tag ablief. Mit wem habe ich wie gefeiert? Ich habe Bilder im Kopf von gackernden Mädchen, die basteln und Cluedo spielen. Aber war das der dreizehnte Geburtstag? Oder der zwölfte? Seltsamerweise erinnere ich mich jedoch recht genau an den dreizehnten Geburtstag meiner Grundschulfreundin S.. Ich sehe uns gemeinsam mit einem Dutzend Mädchen aus der Schule an dem langen Tisch im Wohn-Esszimmer ihrer Eltern sitzen und Kuchen in uns hinein stopfen. Wir kreischen laut durcheinander, wie Mädchen das so machen, und beißen uns fest an dem Wort Teenager und seiner deutsch ausgesprochenen Variante Tee-Nager. Wir finden dieses Wortspiel zum Brüllen. „Mit Dreizehn sind wir keine Kinder mehr“, verkündet die S., „wir sind jetzt Jugendliche.“ Und sie und die anderen kommen sich wahnsinnig erwachsen vor. Ich hingegen bin verwirrt. Wieso bin ich jetzt auf einmal ein Teenager, eine Jugendliche? Was ist denn da so anders im Vergleich zu vorher? Ich bin sehr unreif für mein Alter und fühle mich genau genommen immer noch wie ein Kind.
Erst ganz allmählich dämmert mir, dass ich in ein Niemandsland geraten bin, in dem ich nirgendwo mehr richtig hingehöre. Seit der Konfirmation werde ich plötzlich immer häufiger gesiezt – das fühlt sich seltsam falsch an. Die S. zieht mit ihrer Familie fort und ich verliere einen wichtigen Halt in meinem Leben. In der Tanzschule will ich nur tanzen und bin verstört, weil alle meine Freundinnen dort Ausschau nach ihrem ersten Freund halten. Ich fühle mich nirgendwo mehr zuhause – weder in meiner eigenen Haut, noch in meiner Familie oder meinem Freundeskreis. Ich beginne Dinge in Frage zu stellen, an die ich ein Leben lang geglaubt habe. Ich spüre die Enge, in der ich aufgewachsen bin, aber ich sehe keinen Weg, um ihr zu entfliehen. Stattdessen lasse ich mich klein machen. Ängstlich und unsicher stolpere ich in den nächsten Jahren durchs Leben. Alles, was mit Spaß, Vergnügen und Entdecken zu tun hat, ist für mich tabu – weil meine Eltern es nicht erlauben und ich nicht den Mut habe, die Welt ohne das Einverständnis meiner Eltern zu erobern. Ich bleibe ein Kind im Körper eines jungen Mädchens, das fast schon an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht. Es dauert lange, bis ich mich endlich befreien kann, Schritt für Schritt mein eigenes Leben entdecke und aus dem Dornröschenschlaf erwache. Manchmal kommt es mir heute so vor, als sei ich noch immer nicht ganz aufgewacht.
Mein Neffe, der heute Geburtstag feiert, hat mehr Glück als ich. Er wächst sehr offen und frei auf. Seine Pubertätskrisen werden von seinen Eltern richtig gedeutet und verstanden. Ich bin sehr gespannt, wie er sich weiter entwickelt und wünsche ihm sehr, dass die Freiheit, in der er aufwächst, ihm hilft, die Welt mutiger und selbstbewusster zu erkunden als ich es damals konnte.
zehn Jahre sind eine lange Zeit. Vor zehn Jahren habe ich mir mein allererstes Handy gekauft und gelernt, was eine SMS ist. Ich habe mein erstes Notebook gekauft und konnte nun auch zuhause mit einem Modem ins Internet. Dieses Modem machte zwar ziemlich laute Geräusche, aber man musste die Zeit im Netz eh auf einige Minuten begrenzen, weil die Telefonrechnung sonst unbezahlbar wurde. Vor zehn Jahren habe ich beruflich entscheidende Weichen gestellt. Aus heutiger Sicht hätte ich damals eine andere Richtung eingeschlagen, aber wer weiß, eines Tages wird mir vielleicht klar, wozu das alles gut war. Vor zehn Jahren war ich glücklich verliebt und glaubte, das würde ewig so bleiben. Ich dachte, ich würde meinen Liebsten heiraten und mit ihm eine Familie gründen. Dass dann alles ganz anders kam – nun, vielleicht begreife ich irgendwann auch den tieferen Sinn dieser Entwicklungen. Vor zehn Jahren sind wir alle mit viel Krawumm in ein neues Jahrtausend gehüpft und bildeten uns ein, dass sich die Welt nun kolossal verändern würde – ob zum Guten oder Schlechten wusste aber niemand so genau.
Zehn Jahre sind rund ein Viertel meines Lebens. In den vergangenen zehn Jahren habe ich geliebt, gelacht, gelebt. Ich habe meine Leidenschaften ausgelebt, die körperlichen ebenso wie die emotionalen. Ich habe schöne Reisen gemacht, bin viele Kilometer auf kleinen Pferden durch die Wälder geritten, habe Romane geschrieben, mich zur besten Tante aller Zeiten entwickelt, neue Freundschaften geschlossen, die große Liebe gefunden und wieder verloren – mehrfach gleich. Ich habe gehasst, geweint, geflucht, gelitten. Ich habe Falten bekommen und Cellulite und eine Brille. Ich habe Ängste überwunden und neue aufgebaut. Manche meiner Hoffnungen sind zerbrochen, manche Sehnsüchte konnte ich nie stillen. Ich bin vorwärts gegangen, manchmal verzagt, manchmal unsicher, ratlos, orientierungslos. Aber ich bin nie stehen geblieben, obwohl ich oft zurückschaue.
Zehn Jahre bewegtes Leben. Zehn Jahre auf und ab. Vor allem aber: zehn Jahre ohne dich. Heute vor zehn Jahren hast du aufgehört zu atmen, abends um kurz nach sechs. Zehn Jahre ist das her, und doch kommt es mir manchmal erst wie zehn Wochen vor. Es tut mir immer noch weh, dass du so früh gegangen bist, so vieles verpasst hast. Manchmal ärgere ich mich direkt über diese Ungerechtigkeit. Wer denkt sich so einen Mist aus? Wer schickt den Menschen diese fiesen Krankheiten, die sie krepieren lassen wie Ungeziefer? Wer fügt uns so viel Leid und Schmerz zu?
Und ich frage mich, wie es wohl wäre, wenn du noch da wärst. Würdest du mir auch gelegentlich eine SMS oder Mail schicken? Oder wäre deine größte technische Herausforderung weiterhin der Kampf mit meinem Anrufbeantworter? Würdest du dich über meine beruflichen Veränderungen freuen oder nur sorgenvoll den Kopf schütteln? Und diese ganzen Liebhaber, Herzensbrecher, Taugenichtse? Hätte es sie vielleicht nie gegeben, wenn du noch da wärst? Oder hätten wir uns ihretwegen zerstritten? Hättest du deshalb schlaflose Nächte? Oder wärst du im Alter eine gelassene Mutter, die lieber mit ihren Enkeln spielt, statt sich über die Irrungen und Wirrungen im Leben ihrer Tochter aufzuregen?
Ich zünde eine Kerze für dich an und denke darüber nach, wie viel du verpasst hast, wie viel ich verpasst habe, weil du so früh gegangen bist. Es gäbe noch so viel zu sagen. Aber vielleicht ist das gar nicht nötig. Vielleicht weißt du sowieso schon alles. Zehn Jahre. Ein Viertel meines Lebens. Aber ein Fliegenschiss im Universum.
In diesem Sinne lebe wohl – bis irgendwann mal,
Dein Käthchen
Früher dachte ich, die Trauer um geliebte Menschen würde im Laufe der Jahre verblassen wie die Bilder an längst vergangene Zeiten. Doch ich stelle immer häufiger fest, dass das nicht stimmt. Meine Mutter ist nun seit fast zehn Jahren tot, mein Vater seit neun. Aber weder bleichen die Erinnerungen an die beiden aus, noch verschwindet dieses schmerzhafte Gefühl von Trauer, wenn ich an sie denke. Im Gegenteil, fast scheint es mir so, als würde mir der Verlust erst jetzt richtig bewusst werden. Nach all den Jahren fange ich an zu begreifen, was mir alles genommen wurde, was ich verloren habe, verstehe ich, wie traumatisch das Sterben meiner Eltern war. Jahrelang war ich wie betäubt, habe einfach weitergelebt, vergnügt, lebenshungrig und begierig, mich lebendig zu fühlen und Schmerz und Verzweiflung nicht zu nah an mich heranzulassen. Das war sicher gut so.
Doch ich werde dünnhäutiger. Als ich heute auf dem Friedhof stand, ein Grablicht anzündete und ein Tannengesteck auf die feuchte Erde legte, befiel mich ein fast unerträgliches Gefühl großer Verlassenheit. Während mir die Tränen übers Gesicht liefen, erinnerte ich mich an mein letztes Gespräch mit meiner Mutter, daran, wie sie mir zum Abschied zugewinkt hatte, in einer fast kindlichen Geste. Ich wusste damals nicht, dass sie 24 Stunden später nicht mehr leben würde. Ob sie selbst es ahnte oder sogar fühlte? Überall auf dem Friedhof standen und gingen Menschen umher und gedachten ihrer eigenen Lieben. Ich war nicht alleine mit meinen Tränen, meiner Trauer. Vor der Kapelle spielte ein Posaunenchor. Ich erinnerte mich an die Posaunenchöre meiner Kindheit und musste erneut weinen. War das ein Zeichen von Alterssentimentalität? Oder lag es nur an diesem trüben November, der mit diesem dunklen, regnerischen Totensonntag seinen Höhepunkt erreichte?
Zuhause tröstete ich mich mit einem großen Becher heißer Schokolade mit Schlagsahne. Und mit Erinnerungen. Ich holte meine alten Fotoalben aus dem Schrank und blätterte durch vergilbte Seiten und unscharfe, fehlbelichtete Fotos. Ein wenig bedauere ich es ja, dass es vor dreißig Jahren noch keine digitale Fotografie gab. Ich erinnerte mich an unseren großen Esstisch, an dem wir halbe Tage mit Essen und Reden verbrachten. Ich entdeckte im Regal meiner Mutter eine Vase, die jetzt in meinem eigenen Regal steht. Ich sah meine Geschwister, klein und niedlich, und mich selbst, ebenfalls klein und niedlich. Ich lachte über meine Dauerwellenphase – schick, aber heute natürlich völlig indiskutabel. Ich ging in Gedanken auf Reisen – erst mit meiner ganzen Familie, später mit meiner Schwester, mit Freunden oder ganz alleine. Mit dem Fahrrad durch Skandinavien. Per Interrail durch Großbritannien und Frankreich. Mit dem Flugzeug nach Kreta. Jeder Urlaub endete wieder bei meinen Eltern, auch dann, als ich schon gar nicht mehr bei ihnen wohnte. „Ich vermisse Mamas Essen“, stand irgendwo unter einem Bild. „Ich sehne mich danach, Ostern wieder zuhause bei Mama und Papa zu sein.“ So schön es draußen in der Welt war, irgendwann trieb es mich immer wieder nach Hause.
Das ist auch heute noch so. Nur dass es mich eben in meine eigenen vier Wände zieht, denn ein anderes Zuhause habe ich nicht mehr. Aber ich habe viele reiche Erinnerungen an ein buntes, bewegtes Leben, an intensive Familienzeiten voller Geborgenheit, Lebendigkeit und Liebe. Und dennoch – das vergesse ich bei aller Sentimentalität nie – waren das auch Zeiten voller Konflikte, pubertärem Unwohlsein und dem Gefühl, zu ersticken.
Im Fernsehen rät ein buddhistischer Meister, dass wir mehr im Jetzt leben und achtsam jeden Augenblick wahrnehmen sollen. Lächelnd stelle ich die Fotoalben zurück in den Schrank. Stimmt. Viele Augenblicke meines Lebens habe ich nicht bewusst gelebt, weil ich zu sehr in der Vergangenheit festhing oder schon in die Zukunft schaute. Dennoch möchte ich nicht losgelöst von all meinen Erinnerungen leben. Sie machen schließlich mein Leben aus. Was wäre ich denn ohne sie? Nur ein kleiner Moment im Jetzt? Ein bisschen wenig, finde ich.
Ich wühle mich durch alte Fotos. Vergilbte, verkratzte, verblichene Papierbilder, Negativstreifen, Dias. Viele Bilder sind unscharf – weil wir alle schlechte Fotografen waren oder weil das Filmmaterial mies war oder wir die Bilder schlecht gelagert haben oder alles zusammen. Viele der Menschen auf den Bildern sind längst tot oder aus anderen Gründen aus meinem Leben verschwunden. Manche der Orte werde ich nie wieder sehen. Andere haben sich so sehr verändert, dass ich mich an ihnen nicht mehr zurecht finde.
Von einer großen Sehnsucht gepackt, möchte ich in die alten Fotos hineinsteigen, an die Orte meiner Kindheit zurück kehren, noch einmal am ersten Schultag die Schultüte in den Armen halten und dabei diesen kuscheligen blauen Nicki tragen, den ich so geliebt habe. Ich möchte mit meinen Geschwistern in unserem alten Haus unter dem Weihnachtsbaum stehen und meinem Vater entgegen grinsen, der uns mit seiner Stimme alle ordentlich in Position bringt und auf Kommando lachen lässt. Ich möchte in der Ostsee plantschen, nur mit einer Turnhose bekleidet, und ich möchte mit meinem kleinen, blauen Rucksack auf dem Rücken durch die Berge wandern, meinem Vater und großen Bruder hinterher, meine Mutter mit den kleinen Geschwistern im Schlepptau. Ich möchte mit meinen Freundinnen in unserem Garten spielen, der einem Dschungel gleicht und für mich der Inbegriff von Glück ist. Ich möchte, dass meine Mutter, die auf manchen Bildern modischer, aber auch ernster aussieht, als ich sie in Erinnerung habe, mein Lachen erwidert und mir nicht so stumm und verschwommen entgegen starrt. Ich möchte ihre Stimme hören und ihre Wärme fühlen.
Es tut mir weh, zu sehen, wie alt diese Bilder sind, wie viele von ihnen wohl für immer ruiniert sind und nur noch in meiner Erinnerung leuchtend klar erstrahlen. Aber wenn ich in sie eintauchen würde, sie zum Leben erwecken könnte, dann würde ich eben nur Altes, Verkratztes, Angeschlagenes sehen und nicht mehr das Neue, Junge, das diese Bilder vor dreißig und mehr Jahren festgehalten haben. Ich weiß, dass diese Bilder viel mehr Wahrheiten erzählen als so manches hochglanzpolierte Digitalbild. Sie erzählen von Vergänglichkeit, vom Wandel der Zeiten und vor allem von einer Vergangenheit, die keineswegs immer nur strahlend und fröhlich war – ganz im Gegenteil. Diese alten, angeschlagenen Bilder sind vielleicht ein viel ehrlicheres Zeugnis meines Lebens als so manche knallbunte Erinnerung in meinem Kopf.
Als 1989 die politischen Ereignisse ganz Deutschland veränderten, saß ich mit meiner Familie in ungläubigem Staunen vor dem Fernseher. Ich dachte an all die Geschichten meiner Eltern, an die Erfahrungen, die ich selbst mit der Grenze gemacht hatte und vor allem an unsere Verwandten im Osten. Was für eine unfassbare Entwicklung! Während mir vor Glück die Tränen in die Augen schossen, als ich im August zusah, wie Tausende Ostdeutscher in Ungarn über die offenen Grenzen gingen, kam mir eine Politikstunde in der Schule in den Sinn, die kein Jahr her war. Wir hatten über die Frage diskutiert, ob es jemals ein wiedervereintes Deutschland geben würde. Ich war mir sicher, dass alles noch hundert Jahre so bleiben würde wie bisher. Mir kamen die Machthaber in der DDR viel zu unnachgiebig und die Bürger viel zu angepasst vor. Wie sehr ich mich doch getäuscht hatte – vor allem, was den Kampfgeist des Volkes anging.
Als am 9. November schließlich die ersten Grenzübergänge geöffnet wurden, waren wir wie im Rausch. Spontan beschlossen meine Schwester und ich einige Tage später, nach Berlin zu fahren. In einem total überfüllten Zug ließen wir uns von der Begeisterung der anderen Reisenden anstecken, die auch alle den Drang verspürten, bei diesen historischen Ereignissen dabei zu sein. In Berlin spazierten wir bei schönstem Herbstwetter an der Mauer entlang, auf der die Grenzsoldaten mit sehr entspannten Gesichtern Wache schoben. Sie scherzten mit westdeutschen Passanten, ließen sich Blumen und Zigaretten hinauf reichen und wirkten wie ausgewechselt – fast so, als falle von ihnen allen eine ungeheure Last ab. Wir schlugen aus der bunt angemalten Mauer ein paar Bröckchen heraus, die ich heute noch besitze, und schauten staunend zu, wie am Potsdamer Platz Mauerelemente beseitigt wurden und ein offener Grenzübergang entstand.
Nur wenige Tage später hatten wir den ersten Besuch aus Ostdeutschland, Bekannte meiner Eltern. Während sie in unserem Wohnzimmer saßen und noch nicht richtig begreifen konnten, was geschehen war, erhielten wir die Nachricht, dass mein Großvater in Sachsen gestorben war. Er war schon einige Wochen ernsthaft krank gewesen und die Sorge um ihn hatte unsere Euphorie überschattet. Ich stellte mir später oft vor, wie er vor dem Fernseher saß und vor lauter Begeisterung über die Öffnung der Grenzen einen Herzschlag erlitt. Ich glaube nicht, dass es wirklich so war, aber diese Art von Tod hätte zu meinem Großvater gepasst, der ein ungewöhnlicher Mann gewesen war – von der Familie verkannt und verschätzt, im Sozialismus nicht fähig, seine Talente frei zu entfalten, aber stets auf eigenwillige Weise unangepasst, mit einem sehr wachen, kreativen Geist, der leider zunehmend verkümmerte.
Wieder reisten wir in die DDR, den Kofferraum voll mit Blumenkränzen und –gestecken, da im Osten gerade ein Mangel an Blumen herrschte und wir im Namen unserer Verwandten gleich mit eingekauft hatten. Die Kontrolle an der Grenze verlief schnell und so freundlich und entspannt wie nie zuvor. Auf einmal war alles anders. Für mich markiert rückblickend nicht der Mauerfall, sondern der Tod meines Großvaters das Ende unserer Familienurlaube in der DDR. Meine Großmutter lebte schon länger nicht mehr, und so wurde das alte, kleine Haus verkauft, in dem ich so manchen Sommer verbracht hatte. Die noch lebenden Verwandten meines Vaters kamen uns nun regelmäßig besuchen. Die Verwandten meiner Mutter kamen nicht. Die Mauer hatte vorher alle zusammen geschweißt. Nun trennte sie auf einmal gerade dadurch, dass sie nicht mehr da war. Ich habe die Orte meiner Kindheit, die Städte, in denen meine Eltern aufgewachsen sind, seit damals nie mehr besucht, obwohl es doch heute so schnell und einfach geht. Es ergab sich einfach nicht. Aber manchmal verspüre ich das Verlangen, diese Orte noch einmal aufzusuchen, zu schauen, wie es dort heute aussieht, in Erinnerungen zu schwelgen und auf Spurensuche zu gehen nach den unbeschwerten Tagen meiner Kindheit, damals, als ich im Garten meiner Großeltern Stachelbeeren erntete und mir im Winter an ihrem Kachelofen den Rücken wärmte. Damals, als es die DDR noch gab.
Die deutsch-deutsche Mauer verlief mitten durch meine Familie. Sowohl die Wurzeln meines Vaters als auch die meiner Mutter befanden sich in Sachsen. Der mütterliche Clan war offenbar deutlich freiheitsliebender als der väterliche, denn neben meiner Mutter waren auch fast alle ihre Geschwister bereits in den fünfziger Jahren gen Westen gezogen. Mein Vater und seine Verwandtschaft blieben hingegen, wo sie waren – bis mein Vater bei einer Familienfeier meiner Mutter begegnete. Das war 1960. Es setzte ein reger Briefwechsel zwischen meinem Vater im Osten und meiner Mutter im Westen ein, und nachdem die beiden sich insgesamt nur dreimal gesehen hatten, heirateten sie im Mai 1961. Mein Vater stellte einen Ausreiseantrag, der abgelehnt wurde, weswegen die Braut nach der Hochzeit ihre Heimreise in den Westen alleine antreten musste. Ich frage mich manchmal, wie sie sich damals wohl gefühlt haben muss, voller Sehnsucht und Angst, ob sie jemals eine normale Ehe würde führen können. Mein Vater, der wie gesagt nicht sonderlich abenteuerlustig war, nahm dieses eine Mal allen Mut zusammen und ging für seine Liebste in Berlin illegal über die Grenze – nur wenige Tage, bevor die Mauer kam.
Angst war ein ständiger Begleiter im Leben meiner Eltern gewesen. Sie hatten als Kinder die Nazi-Diktatur erlebt und als Jugendliche und junge Erwachsene die SED-Diktatur. Sie hatten nicht gelernt, offen ihre Meinung zu sagen, sich politisch zu engagieren und ihren Nachbarn zu trauen. Mein Vater durfte als Republikflüchtling acht Jahre lang nicht mehr nach Hause zu seinen Eltern fahren. Als ihm die Einreise in die DDR endlich gestattet wurde, war ich alt genug, um diese Reisen bewusst wahrzunehmen. Sie begannen stets mit dem Antrag auf ein Einreisevisum, das manchmal erst sehr kurzfristig genehmigt wurde. Reisen in die DDR waren kein Urlaub, sondern eine Strapaze. Wir stopften das Auto mit Geschenken voll, in der Hoffnung, dass uns die Grenzer nichts davon abnehmen würden. Wir fuhren immer über den Grenzübergang Helmstedt, und ich sehe jetzt noch die Wachtürme vor mir, die Zäune, den Stacheldraht und die Grenzsoldaten der DDR, die uns mit versteinerten Gesichtern musterten, Marionetten, die nicht zu eigenen Handlungen fähig zu sein schienen. Sobald wir in die Nähe der Grenze kamen, machte sich ein Gefühl der Beklemmung in unserem überfüllten Auto breit. Meine Eltern flüsterten nur noch, als fürchteten sie, dass wir abgehört und verhaftet werden könnten, falls wir laut über diese Zustände lästerten. Bloß nichts Falsches sagen oder tun, lautete ihr oberstes Gebot, während wir uns in endlos langen Autoschlangen im Schneckentempo vorwärts bewegten. Genutzt hat das Flüstern selten was, wir mussten meistens alle aussteigen und nicht selten musste mein Vater schon auf der Hinreise das Auto komplett leer räumen. Unter den Roboterblicken der Soldaten türmten sich Koffer und Taschen auf der Straße und mein Vater, der vor innerer und äußerer Anspannung keuchte, klappte auch noch die Rückbank hoch. Irgendwann war der Spuk vorbei und wir durften alles wieder einräumen und unsere Reise zu Oma und Opa fortsetzen.
Meine Erinnerungen an die Besuche in Sachsen sind die eines Kindes. Ich freute mich auf meine Großeltern und alle anderen Verwandten. Noch heute zählen die Besuche bei ihnen für mich zu ganz besonderen Erinnerungen. Ich sehe meine rußgeschwärzten Füße, wenn wir im Sommer in Sandalen liefen, und meine Mutter, die uns in der Küche meiner Großeltern abends in einer großen Plastikschüssel den Kohlenstaub von der Haut wusch. Es gab zwar ein Badezimmer, aber das war kalt, ungemütlich und vor allem sehr alt. Wir Kinder wuschen uns immer in der Küche. Ich sehe die Kachelöfen und rieche den Gasgeruch vom Herd in der Küche. Ich ernte in meiner Erinnerung Berge von Stachelbeeren und trinke bei meiner Großtante selbstgemachten Apfelmost. Diese Tante hatte ich besonders ins Herz geschlossen. Ihr Haus war gepflegter als das meiner Großeltern und ihr Garten ein Paradies. Ich sehe mich in ihrem eiskalten Schlafzimmer, in dem es keine Heizung gab, unter riesigen Daunendecken versinken und höre mir ihre Geschichten aus Kriegstagen an. Ich sehe uns durch dunkle Straßen fahren, die nur dürftig von Gaslaternen erleuchtet waren und die alten, verfallenen Häuser gespenstisch aussehen ließen. Meine Mutter war jedes Mal aufs Neue bestürzt über den Verfall der Städte, wohl, weil der Kontrast zu unserem gepflegten Umfeld zuhause immer größer wurde. Ich sehe all die Banner an Häusern und Brücken, auf denen mit roter Aufschrift sozialistische Sprüche standen, die das Volk ermutigen und loben sollten. Wir fuhren durch die „Straße des Komsomolzen“ und ich brütete darüber, woher dieser seltsame Name wohl kam. Ich sehe, wie die Blicke unserem Westauto folgten und die Nachbarn uns wie Außerirdische anstarrten, wenn wir in der kleinen Straße vor dem Haus meiner Großeltern parkten. Meine Mutter scheuchte uns ins Haus, um möglichst jedes Aufsehen zu vermeiden. Wir waren anders und etwas Besonderes, aber wir fühlten uns nicht wohl dabei. Nachdem der Zwangsumtausch deutlich erhöht worden war und wir für jeden Aufenthaltstag in der DDR 25 D-Mark in Ostmark tauschen mussten (Kinder nur 7,50), fielen unsere Geschenke noch großzügiger aus. Es gab kaum etwas, das wir für unser Geld im Osten gerne gekauft hätten, und so verteilten meine Eltern das Geld großzügig unter die Verwandtschaft. Dabei entstand eine seltsame Schräglage, denn während meine Eltern in ihrem Alltag keineswegs im Geld schwammen und sehr bescheiden lebten, müssen sie auf unsere ostdeutschen Verwandten wie Millionäre gewirkt haben. Sie fühlten sich überhaupt nicht gut dabei.
Zu meinen DDR-Geschichten gehören auch die vielen Pakete, die wir verschickten. Zu allen Geburtstagen und Weihnachten bekamen alle nahen Verwandten (und das waren so einige) ein Paket, das wir mit all den Dingen füllten, die sie nach eigenen Angaben dringend brauchten bzw. vermissten. Bohnenkaffee und Ananas in der Dose standen ganz oben auf der Liste, gelegentlich auch Kleidung oder Medikamente. Meine Tante schrieb manchmal Produktnamen auf, die wir gar nicht kannten. Sie hatte sie im Westfernsehen aufgegabelt und war besser informiert als wir. Später sagte meine Mutter mal, sie und mein Vater seien nie zu echtem Wohlstand gekommen, weil sie ihr ganzes Vermögen in diese Care-Pakete gesteckt hatten. Da ist sicher was dran. Manchmal kamen die Pakete stark beschädigt beim Empfänger an, manchmal fehlte auch das ein oder andere Teil. Umgekehrt erhielten auch wir Pakete aus dem Osten. Sie waren in graues, hartes Papier gewickelt und mit dicken Bindfäden verschnürt. Wir freuten uns immer darüber und waren immer gespannt auf den Inhalt. Als wir jünger waren, kamen tatsächlich auch oft nette Spielsachen zum Vorschein. Doch mit den Jahren konnten wir mit den Inhalten immer weniger anfangen. Die Bücher stammten von Autoren, die uns fremd waren, und die kunstgewerblichen Sachen waren für unseren Geschmack hässlich. Und doch war uns die Geste wichtig, das Gefühl, miteinander verbunden zu sein, eine Familie zu sein, trotz Mauer. Dieses Gefühl war sehr stark – vielleicht sogar nicht trotz, sondern gerade wegen der Mauer.