Regen klatscht gegen die Fenster, Sturm wirbelt das gelbe Laub im Hof durcheinander, der Himmel ist so finster und wolkenverhangen, als hätte es nie eine Sonne gegeben. Alte Wunden brechen noch mal in mir auf, lassen mich erst zornig, dann melancholisch werden und schließlich erschöpft aufgeben. Das ist es doch alles nicht wert.
„Das Umdrehen und nicht mehr Hinschauen ist das einzige, was du selbst steuern kannst“, schreibt mir eine wunderbare Freundin in einer bewegenden Mail, und ich weiß, dass sie recht hat. Umgedreht habe ich mich schon lange, aber ich schaue immer wieder über die Schulter zurück. Ein völlig sinnloses Prozedere, das mich nur zum Stolpern bringt und am Vorwärtsgehen hindert.
Innerhalb von einer Woche habe ich die zweite Todesnachricht erhalten. Mir ist kalt und ich fühle mich erschöpft. Beruflich trete ich auf der Stelle, das aber dafür mit großer Energie. Andere Menschen schütten mir ihr Herz aus, erzählen mir von eigenen Nöten. Ich höre zu, gebe Ratschläge und staune selbst über meine abgeklärten, professionell klingenden Worte. Innen drin bin ich doch so unsicher, kämpfe so sehr mit mir selbst, plage mich mit Zweifeln und Ängsten. Wieso merken die anderen das denn nicht?
Ich habe heute Morgen meine Winterjacke aus dem Schrank geholt, um mich für die kalte Zeit zu rüsten. Aber reicht das, um gut durch das dunkle Halbjahr zu kommen?
Das alte Paar bringt mich zum Schmunzeln. Sie ist 74, er 89 Jahre alt. Im Seniorenheim haben sie sich frisch verliebt und – geheiratet.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so glücklich sein könnte. Darauf habe ich die letzten dreißig Jahre gewartet“, sagt die strahlende Braut. Und während ihr Gatte sie küsst und ihr dabei vor laufender Kamera beherzt an die Brust greift, grübele ich noch darüber, wie traurig es ist, dass man manchmal dreißig Jahre Pech zu haben scheint – und wie wundervoll, wenn man dann im hohen Alter doch noch tiefe, innige Liebe erfahren darf.
Und dann ruft mich eine Freundin an und erzählt mir, dass ihr Schwiegervater ganz überraschend gestorben ist. Auf einmal bin ich in einem ganz anderen Film. Ich spüre, wie aufgelöst meine Freundin ist, die eine Dienstreise abgebrochen hat und nun von sonst wo nach Hause fährt. Zuhause wird sie Verzweiflung erwarten, Fassungslosigkeit, das Unvermögen, etwas Unbegreifliches zu begreifen. Sie weiß noch nicht mal, woran ihr Schwiegervater gestorben ist und ob er im Krankenhaus oder daheim liegt. Da ist nur ein dumpfer Schmerz, der Schock, der alle Beteiligten ergreift. Selbst ich spüre, wie mir kalt wird und meine Stimme anfängt zu zittern. Und während meine Freundin mich um Rat fragt, was nun zu tun sei und ich sachlich-konfuse Antworten gebe, denke ich daran, wie es sich anfühlen muss, wenn man nach über vierzig Jahren den Mann verliert.
Ich bin bestürzt, betroffen, bewegt, während sich zwischen meine nüchternen Tipps Bilder mischen, die so neu aussehen, als seien sie erst gestern entstanden. Ich sehe wieder zu, wie ein Sarg geschlossen wird, ich blättere in Katalogen von Bestattungsinstituten, ich schreibe unendlich viele Adressen auf Umschläge mit schwarzen Rändern, ich stehe an einem offenen Grab und werfe Erde hinein. Es ist bitter kalt, auch in meinem Herzen. Irgendjemand weint und ich merke erst später, dass ich das bin. Und dann esse ich belegte Brötchen und mache Scherze mit Verwandten, die mir vollkommen gleichgültig sind. Erst Tage später weine ich zum ersten Mal richtig, aus tiefster Seele, aus abgrundtiefer Einsamkeit heraus. Manchmal kommt diese tiefe Verzweiflung heute noch in mir hoch. Man hört nie auf, um Menschen zu trauern, die man geliebt hat.
Das alte, junge Ehepaar gibt im Fernsehen ein Interview. Es gehört sehr viel Lebensmut dazu, in diesem Alter noch einmal von vorne anzufangen, Enttäuschungen, Verletzungen, die Angst vor Abschied, vor Verlust, vor Tod einfach zu ignorieren. Der Bericht über die Beiden tröstet mich ein wenig. Das Leben geht weiter. Und man weiß nie, was der nächste Tag bringen wird.
Wohnzimmer -
feinstrick - 24. Sep, 22:28
Ich habe gestern kurz nach Feierabend die letzten Erdbeeren der Saison auf dem Wochenmarkt erstanden. Drei Schalen für zwei Euro. Neben mir kaufte ein Türke eine ganze Stiege voll. Einen Stand weiter gab es den ersten Rosenkohl.
Später saß ich auf meinem Balkon, aß Erdbeeren und genoss diese wunderbar goldene, sanfte Sonne. Es sind solche Kleinigkeiten, die das Leben einfach vollkommen machen.
Heute kullerten mir die ersten Kastanien vor die Füße, noch ganz jungfräulich sauber und glänzend. Ich hob sie auf und legte sie auf das Schränkchen in meinem Flur, direkt neben einen Zierkürbis aus dem Supermarkt.
Ich habe heute einen ekelhaften Text geschrieben und hatte eine diebische Freude daran. Ich nehme mir wieder mal vor, dem Schreiben in Zukunft viel mehr Raum zu geben. Wenn es läuft, macht es einfach wahnsinnig viel Spaß. So viel, dass ich manchmal gar nichts anderes mehr machen möchte. Auch wenn mir all das Ekelhafte zwischenzeitlich den Appetit verschlug, kochte ich mir später trotzdem ein köstliches Risotto mit Frühlingszwiebeln (warum heißen die eigentlich so, wenn es sie auch noch im Herbst gibt?) und frischen Pfifferlingen.
Meine körperlichen Beschwerden geben mir in letzter Zeit immer häufiger das Gefühl, eine alte Frau zu sein. Das erschreckt mich. Wenn mir jetzt schon jeder Knochen weh tut, wie soll das dann erst in zehn Jahren sein? Aber vielleicht ist das auch nur eine Phase, die wieder vorüber geht. Meine Gedanken hingegen werden immer jünger. Und das ist hoffentlich keine Phase, sondern ein Trend, der noch sehr lange anhält.
Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich doch gerne Kinder hätte. Um mir von ihnen die Welt erklären zu lassen. Und um die Liebe mit ihnen teilen zu können, die in meinem Innersten still darauf wartet, dass sie von jemandem gebraucht wird.
Mein kleines Leben ist trotzdem im Moment ganz groß und ich genieße es. Sehr.
Wohnzimmer -
feinstrick - 21. Sep, 22:42
Mein nächster Mann ist groß, hat eine kräftige Figur, braune Haare, die er aus der Stirn nach hinten gekämmt hat, trägt gerne mal hellblaue Oberhemden, ist sehr erwachsen, sehr vermögend und heißt Alexander. Das bedeutet so viel wie „der Beschützer“.
Ich habe das Gefühl, dass dieser Held bereits im Anmarsch ist. Und in echt werde ich dann im Gegensatz zu meinen nächtlichen Träumen vor so viel Mann auch keine Angst haben, sondern ihn mit offenen Armen empfangen.
Nur, damit Sie Bescheid wissen, meine Herren.
Edit: Normalerweise parken in meiner Straße überwiegend kleine, alte Stadtautos. Aber heute stehen alleine direkt vor meinem Haus sechs große, teure, sehr neu aussehende Wagen. Das ist ein Zeichen, da bin ich mir ganz sicher.
Ich habe meinen Balkon entsommert. Die verwelkten, einjährigen Pflanzen sind in den Müll gewandert und in die leeren Töpfe habe ich Astern und Chrysanthemen gesetzt. Die Kräuterpflanzen habe ich großzügig verschnitten, die Blätter von den abgeschnittenen Zweigen gezupft, feingehackt und eingefroren. Meine ganze Küche war erfüllt von dem intensiven Duft nach Rosmarin, Afrikanischem Basilikum, Thymian, Oregano und Majoran. Wenn ich im Winter diese Kräutermischung aus dem Gefrierschrank hole, dann erinnere ich mich an den vergangenen Sommer, an Wärme und Leichtigkeit, an die vielen Stunden, die ich auf meinem Balkon verbracht habe, lesend, essend, arbeitend, entspannend. Und wenn ich den Tee aus einer Mischung aus getrockneter Pfefferminze, Salbei und Anis-Ysop trinke, dann werde ich mich danach sehnen, abends einfach auf den Balkon zu treten und ein paar Zweige frische Minze zu schneiden, um daraus einen Tee zu zaubern, der nur aus frischen Kräutern so aromatisch schmeckt. Meine kleine Kräuterzucht ist wirklich etwas Feines, wenn nicht gar das Feinste am Sommer. Nun habe ich die erste Phase eingeleitet, um die Pflanzen auf den Winter vorzubereiten. Der Sommer ist endgültig vorbei.
Balkonien -
feinstrick - 13. Sep, 21:59