Es ist ein milder Abend, den die Menschen draußen vor den Cafés und Kneipen genießen. Ich lasse mich von der heiter-gelassenen Stimmung anstecken und überlege einen Moment lang, noch irgendwo einen Absacker zu nehmen, aber dann lasse ich es doch. Ich war mit einer Freundin essen, habe anschließend meinen Laptop vom PC-Doktor abgeholt und will jetzt eigentlich nur noch heim.
Ich biege in eine kleine, stille Straße ein, in der kaum jemand unterwegs ist und gehe zielstrebig meinen Weg. Auf der anderen Straßenseite schlendern zwei junge Männer, wohl eher noch Jungs, wie mir scheint. Ich sehe sie in der Dunkelheit nicht richtig, aber ihre Stimmen hallen laut zu mir herüber. Sie sprechen deutsch mit türkischem Einschlag.
Einer von ihnen fängt auf einmal an, mich quer über die Straße hinweg anzumachen. Er pfeift, ruft, versucht mit allen Mitteln meine Aufmerksamkeit zu wecken. Seine Stimme klingt frech und provozierend. Einen Moment lang ertappe ich mich dabei, wie ich mich verstohlen nach anderen Passanten umsehe. Wer weiß, was in diesen hormonverseuchten Hirnen so vor sich geht. Und ich möchte meinen Laptop nur zu gern heil bis nach Hause befördern. Ich gehe noch ein bisschen schneller, als ich höre, wie sich zwischen den Jungs folgender kleiner Dialog entspinnt:
„He, lass doch die Frau in Ruhe.“
„Wieso Frau? Das is’n Mädchen, Alter.“
„Quatsch, Mann, Mädchen. Das is' nicht mal ne Frau. Das is' ne Oma.“
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, verlangsame mein Tempo und entspanne mich wieder. Schließlich bin ich ja eine Oma. Und wer interessiert sich schon für die?
Unterwegs -
feinstrick - 11. Sep, 15:31
Ich fühle mich heute so richtig freitagsmäßig erschöpft. In der vergangenen Woche habe ich sehr deutlich erfahren, was selbstständig sein bedeutet: Man muss ständig alles selbst machen. Es gibt niemanden, an den man unangenehme Jobs abgeben kann, und wenn man etwas nicht weiß, dann ist man manchmal ganz schön aufgeschmissen. Ich hätte nie gedacht, dass ich die Systemadministratorin meines alten Arbeitgebers mal vermissen würde, denn sie war eine intrigante, mit den Jahren zunehmend boshafter und launischer werdende Person. Aber in den letzten Tagen hätte ich tatsächlich gerne mal den einen oder anderen Tipp von ihr erhalten, während mein Laptop immer größere Ausfallerscheinungen hatte.
Der Computer ist mein wichtigstes Arbeitsmittel. Und da ich, wie das bei Existenzgründern so ist, im Moment sehr viel mehr Geld ausgebe als einnehme, muss der Laptop noch eine Weile durchhalten, obwohl er schon drei Jahre alt ist, was ja wohl bedeutet, dass er kurz vor der Rente steht. Bis zum Sommer lief er auch tadellos, aber seit einigen Monaten häufen sich die Abstürze, es kommen neuerdings noch andere Ausfallerscheinungen dazu, und vor ein paar Tagen hatte ich das Gefühl, dass ich mir entweder einen Trojaner eingefangen habe oder etwas anderes im Rechner richtig kaputt gegangen ist. Mein Opera-Browser verabschiedete sich komplett, was eine ziemliche Katastrophe war, da ich in ihm nicht nur haufenweise Feeds gespeichert hatte, sondern in den letzten Wochen auch meinen ganzen Mailverkehr darüber abwickelte. Nur mit größter Mühe habe ich es geschafft, die wichtigsten Mails zu retten, den ganzen Rest habe ich dem Cybermüll übergeben. Manchmal ist es auch gar nicht schlecht, sich von überflüssigem Ballast trennen zu müssen, ich neige eh dazu, viel zu viel aufzubewahren.
Nun ist es so, dass ich aus der Not heraus schon immer vieles selbst gemacht habe, wenn mein Rechner nicht richtig lief. Bevor Freunde mit ihrem ebenfalls nur laienhaften Wissen anrückten und mich ganz verrückt machten, recherchierte ich lieber so lange, bis ich eine Lösung für mein Problem fand. Meistens klappte das auch mehr oder weniger gut. Aber jetzt komme ich an Grenzen, zumal ich meinen Rechner eben nicht mehr nur für meine privaten Spielereien brauche, sondern ihn beruflich nutze. Jetzt bin ich darauf angewiesen, dass er zehn Stunden am Tag rund läuft. Ich habe weder die Zeit noch die Lust, mich noch mal eine ganze Woche lang mit nichts anderem zu befassen als mit einem streikenden Laptop.
Ich suche daher auf Stundenbasis einen IT-Experten, der mir hilft, wenn gar nichts mehr geht. Ich kann, wie gesagt, vieles selbst machen, aber ich habe das Gefühl, dass mein Laptop eine Generalüberholung braucht, um wieder reibungslos zu arbeiten. Das überfordert mich. Vielleicht genügt es auch schon, wenn ich mal eine grundlegende persönliche Schulung erhalte, um meine Wissenslücken zu füllen, so dass ich in Zukunft doch noch mehr alleine machen kann. Wie auch immer. Jedenfalls bin ich dankbar für Tipps und Adressen (gerne per Mail), falls jemand jemanden kennt, der im Hamburger Raum lebt und solche Dienste verlässlich und vor allem gut anbietet.
Ich werde mich heute Nachmittag erst mal in ein langes Wochenende verabschieden. Denn bei allem Druck, den ich in letzter Zeit manchmal verspüre, ist es mir doch auch wichtig, durchzuatmen, den Kopf frei zu kriegen und wieder Energie zu tanken. Das kam in den letzten Wochen ein bisschen kurz und muss sich dringend ändern. Sonst habe ich bald ähnliche Ausfallerscheinungen wie mein Computer.
Ich bin es ja eigentlich gewohnt, belogen zu werden. Von der Werbung, von Politikern, von Männern. Und von den Meteorologen. Darum war ich gestern auch sehr überrascht, als der Radiosprecher verkündete: „Es folgt nun eine langanhaltende Phase mit“ – dramatische Pause – „sehr viel Regen und Kälte.“ Diese Nachricht erzeugte bei mir Beklemmungen, denn wenn schon in den Nachrichten verkündet wird, dass es sehr lange schlechtes Wetter geben wird, dann kann man eigentlich von einem Weltuntergangsszenario mit jahrelangem Dauerregen ausgehen.
Ich beschloss daher, den letzten Tag, an dem ich noch mal das Sonnenlicht sehen könnte, richtig zu genießen. Hausputz und Schreibtisch mussten warten, stattdessen packte ich einen Picknickkorb und verstaute ihn zusammen mit einer Decke auf meinem Fahrradgepäckträger. Ich radelte durch die schicken Villenvororte an der Elbe in meinen Lieblingspark, brutzelte erst eine Weile in der Sonne und suchte mir dann ein schattiges Plätzchen unter einer großen, alten Eiche. Ich lag im Bikini auf meiner Decke, beobachtete aus schläfrigen Augen Kinder beim Fußballspielen, Liebespaare, die eng umschlungen in der Sonne lagen und ältere Damen, die sich trotz Gehbehinderung langsam quer durch die Wiesen bewegten. Wie aus dem Nichts tauchten am blassblauen Himmel auf einmal zwei Fallschirmspringer auf, die langsam zur Erde herabsegelten und dann irgendwo hinter den Bäumen am Horizont verschwanden.
Es war ein wundervoll friedlicher Sonntagnachmittag, und auch ohne die apokalyptische Wettervorhersage hätte ich dieses Gefühl von Abschied verspürt, diese Ahnung, dass ich wohl das letzte Mal in diesem Jahr die Wärme der Sonne auf meiner nackten Haut fühlte, dass ich noch einmal die Leichtigkeit des Sommers atmen konnte, bevor er dem Herbst Platz machen würde.
Ich rollte auf den Rücken und schaute hinauf in das dichte Blattwerk der Eiche. Ihr hohler Stamm wurde mit Eisenstangen gestützt und schimmerte stellenweise in einem eigentümlich phosphoreszierenden Blassgrün. Oben in der Baumkrone ließen sich direkt über mir ein paar Krähen nieder und ich dachte, dass es ausgesprochen ungünstig sei, wenn eine von ihnen gerade jetzt das Bedürfnis verspüren würde, zu verdauen. Ich fragte mich, wie lange dieser Baum wohl schon hier stand, zusammen mit den anderen großen, alten Bäumen, wie viele Menschen schon in seinem Schatten gelagert hatten, was er dabei alles gesehen und gehört hatte.
Und ich dachte an einen eigentümlichen Traum, den ich in der Nacht zuvor gehabt hatte. Darin wurden vor meinem Haus mehrere große, alte Bäume gefällt. Ich war entsetzt und wütend. Man konnte doch nicht einfach diese schönen alten Bäume fällen, was fiel denen denn ein? Es war mir egal, dass es nun viel heller und sonniger in meiner Wohnung war, dafür blickte ich jetzt nämlich auch auf ein paar seltsam verbaute, hässliche Häuser, die vorher von den Bäumen schön verdeckt worden waren. Ich ging hinunter auf die Straße und schaute mir das Spektakel aus der Nähe an. Die Baumstämme hatten die Arbeiter in rund zwei Metern Höhe stehen lassen. Wie Mahnmahle ragten sie nun in den Himmel. Etliche der alten Stämme waren innen hohl und sahen bei näherem Betrachten gar nicht mehr so standfest aus wie ich gedacht hatte. Von den gefällten Überresten konnte man sich Rindenskulpturen als Andenken mitnehmen, doch mich interessierte das nicht. Ich wollte diese Bäume ganz haben oder gar nicht.
Ein braunes, trockenes Eichenblatt wurde vom sanften Sommerwind auf meine Picknickdecke geweht. In meinen Träumen waren Bäume gefällt worden, Symbole für alte, tief verwurzelte Ansichten, Gefühle, Erinnerungen, Ereignisse. Ich nahm das trockene Eichenblatt in die Hand, dachte an die Fallschirmspringer von vorhin und fragte mich, was eigentlich mehr Mut erfordert: In ein paar tausend Metern Höhe aus einem Flugzeug zu springen oder alte Bäume zu fällen. Dann stand ich auf, packte meine Sachen ein und radelte nach Hause, dem Herbst entgegen.
Unterwegs -
feinstrick - 1. Sep, 10:42
Ich könnte dringend jemanden gebrauchen, der für mich Fenster putzt, einkauft, die Haare schneiden lässt, Sport treibt. Ich selbst werde derweilen vollkommen von meiner Arbeit absorbiert. Das gab es lange nicht in meinem Leben, dass meine Gedanken ganz und gar von beruflichen Fragen dominiert werden. Ob das immer so ist, wenn man seine Leidenschaften zum Beruf macht? Dass die Trennung zwischen Beruflichem und Privatem zunehmend verschwindet?
Allerdings wird einiges sicher anders werden, wenn ich erst mal ein paar grundlegende Dinge geklärt habe, wenn sich der Knoten in meinem Hirn gelöst hat und ich mich den wesentlichen Dingen zuwenden kann. Im Moment besteht mein Tun hauptsächlich aus der Arbeit vor der Arbeit. Aber auch das ist wohl normal, wenn man sich soeben selbstständig gemacht hat.
Ich erschrak sehr, als ich entdeckte, dass es jetzt schon um neun dunkel wird. Habe ich nicht erst gestern mittsommernächtliche Spaziergänge an der Elbe gemacht, während die Dämmerung kein Ende nahm? Ich habe nicht mitbekommen, wie der August vergangen ist, ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Sandalen getragen habe - wohl weniger, weil es ständig so kalt war, sondern weil ich so viel am Schreibtisch saß, und da trage ich keine Schuhe.
Ich stelle jedoch verwundert fest, dass ich zwar ein leises Bedauern darüber verspüre, dass dieser Sommer ohne mich stattgefunden hat, insgesamt aber so glücklich und zufrieden wie schon lange nicht mehr bin. Ich spüre zwar immer noch viele Wunden in Herz und Seele, die sich oft genug in körperlichen Schmerzen bemerkbar machen. Ich bin manchmal sehr ängstlich und angespannt und voller Selbstzweifel. Aber da ist andererseits auch viel Energie, Begeisterung, Neugier, Freude, da sind wundervolle Menschen, die mich bei meinem Start in ein neues Leben unterstützen, mir Mut machen, mir selbst dann ihre Hilfe anbieten und ihr Vertrauen entgegen bringen, wenn wir uns überhaupt noch nicht kennen. Ich habe in den letzten vier Wochen beruflich mehr gute Erfahrungen gemacht als in den letzten vier Jahren. Das trägt mich und hilft mir, die Angst vor meiner eigenen Courage ebenso auszuhalten wie die einsamen Nächte und die schmerzhaften Erinnerungen, die ich manchmal einfach nicht ausblenden kann.
Draußen in der Natur wird es langsam Herbst. In meinem Inneren scheint es nach einem sehr langen Winter jedoch endlich Frühling zu werden.
Wohnzimmer -
feinstrick - 26. Aug, 11:17
Es gibt Geschichten, die treiben einem die Tränen in die Augen. Sie erzählen von Menschen, die schreckliche Tragödien erleiden, mit denen es das Leben gar nicht gut meint. Und denen dann plötzlich doch noch großes Glück zuteil wird, über das sie sich auf eine Weise freuen und das sie zu schätzen wissen, wie es nur Menschen können, die durch ganz tiefe Tiefen gegangen sind.
Ich stehe überhaupt nicht auf große, dicke Männer jenseits der 100-Kilo-Marke. Und Gewichtheben ist nicht gerade mein Lieblingssport. Genau genommen schaue ich mir nie Wettkämpfe darin an, außer bei den Olympischen Spielen, da kommt man irgendwie nicht dran vorbei. Gestern Mittag wollte ich eigentlich die Turner sehen, und dann waren da auf einmal die Bilder dieses Gewichthebers,
Matthias Steiner, der ganz überraschend Gold holte und dessen unbändige Freude ansteckend war. Ich sah ihn auf dem Siegertreppchen stehen, das Foto seiner verstorbenen Frau fest in der Hand, während der Reporter die
Geschichte der beiden erzählte. Sie berührte mich sehr und ich stellte mir vor, wie es sich anfühlen muss, wenn kurz nach der Hochzeit, dem Tag meines größten Glücks, die Liebe meines Lebens einfach stirbt. Was sich da für Abgründe auftun müssen, wie einem der Schmerz die Brust zerreißt und die eigene Seele sich am liebsten auch davon machen und dem geliebten Menschen folgen würde. Und ich stellte mir vor, was für Kraft es kostet, sich aus diesem Loch wieder zu befreien, wie viel Stärke, Mut und Lebenswillen man braucht, um die Seele wieder ins Hier und Jetzt zurück zu holen und das eigene Leben weiter zu leben, alleine, wie amputiert, mit blutendem Herzen. Und ich empfinde großen Respekt vor diesem Matthias Steiner, der genau genommen zwei Goldmedaillen gewonnen hat. Eine mit dieser großartigen körperlichen Leistung und eine im Kampf mit dem Leben, dessen Gewichte eigentlich zu schwer für ihn schienen. Aber er hat sich der Herausforderung gestellt und am Ende die gesamte Last gestemmt, voller Mut und Optimismus, den Blick nach vorne gerichtet, in ein Leben alleine, voller Erinnerungen, aber berührt, bewegt, gereift, gestärkt. So sehen echte Helden aus.
Und dann denke ich an Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als Geschichten dieser Art zu erfinden, nur, um sich wichtig zu machen und weil sie sich einbilden, ihr echtes Leben würde nicht genug Sensationen abwerfen. Was auch stimmt. Wer nicht trainiert und nicht kämpft, kann auch nicht gewinnen und nicht in die Geschichtsbücher eingehen. Wer vor den großen, den tiefen Kämpfen des Lebens zurückschreckt, kann nur verlieren. Der bleibt immer nur ein kleiner Möchtegern-Sieger, der am Ende mit leeren Händen dasteht und nichts als Spott und Verachtung erntet. Wahre Helden sehen anders aus. Und von denen wünsche ich mir noch viele, auch und gerade in meinem eigenen, kleinen Leben.
Unterwegs -
feinstrick - 20. Aug, 11:59