Wohnzimmer

Mittwoch, 15. Oktober 2008

Mosaik

Ich habe Halsschmerzen und fühle mich krank. Am liebsten würde ich ins Bett gehen und zwanzig Stunden durchschlafen. Ich weiß, dass ich gar nicht so lange am Stück schlafen kann, aber allein den Gedanken finde ich toll.

Ich habe gestern schon wieder eine Firma gegründet – insgeheim. Wenn ich all meine Ideen auch mal zu Geld machen würde, dann hätte ich keine Sorgen mehr. Allein, es fehlen mir dann doch gewisse unternehmerische Fähigkeiten.

Ich gehe seit ein paar Wochen zur Physiotherapie, wegen schlimmster Rückenschmerzen. Letztes Mal habe ich mit dem Therapeuten gestritten und über das subjektive Empfinden von Schmerz diskutiert. Er fand, ich würde mich anstellen, ich fand, es sei mein gutes Recht, empfindlich zu sein und laut zu äußern, dass er mir weh tat. Heute gab es dafür eine sehr sanfte Behandlung, mit beruhigendem, entspannenden Handauflegen. Als er fertig war, drehte ich den Kopf zur Seite und verfing mich dabei in seinen Augen. Zum Abschied sagte ich, das sei ja mal eine Behandlung ganz ohne Aua gewesen. Er lachte: „Ja, das gibt’s auch.“

Ich habe lauter gute Blogtexte im Kopf, komme aber nicht dazu, sie aufzuschreiben. Für andere Texte hingegen fehlen mir sogar die Ideen. Ich glaube, es ist Zeit für eine kreative Pause. Vielleicht sollte ich meine Notgroschen zusammen kratzen und ein paar Tage verreisen, Eindrücke sammeln, das Hirn durchpusten, meine Kreativität ankurbeln. Mal sehen.

Und zum Schluss noch dies: Ich habe eine erstaunliche Gabe, mit Kindern umzugehen. Früher war mir das gar nicht so bewusst, weil ich Kinder anstrengend fand und ihnen weitestgehend aus dem Weg ging. Jetzt aber stelle ich verwundert fest, dass ich selbst sensible, kleine Angsthasen dazu bringe, Vertrauen zu mir zu fassen. Vielleicht, weil sie merken, dass ich auch so ein sensibler, kleiner Angsthase bin.

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Mittwoch, 8. Oktober 2008

Glücksmomente

Das Leben meint es grade richtig gut mit mir. Ich glaube, das ist die ausgleichende Gerechtigkeit für viel Unschönes, das ich in der Vergangenheit aushalten musste. Ich weiß, das klingt hier oft ganz anders. Aber die manchmal sehr düsteren Einträge in diesem Blog spiegeln nur einen kleinen Teil meines Lebens wider. Der ganze Rest besteht aus viel, viel Gutem. Warum ich lieber das Traurige aufschreibe als das Schöne, kann ich gar nicht sagen. Vielleicht, weil ich in einsamen Momenten eher das Bedürfnis habe, mich schreibend mitzuteilen, während ich in den heiteren Zeiten die direkte Kommunikation vorziehe.

Als ich mich selbstständig gemacht habe, wusste ich nicht, was auf mich zukommen und wohin die Reise gehen würde. Das weiß ich immer noch nicht genau. Aber ich habe in den letzten Monaten erste Erfahrungen gesammelt, und die waren alle durchweg positiv. Seit einem Jahr habe ich das Gefühl, ständig die richtigen Entscheidungen zu treffen. Eins fügt sich zum anderen, und ich merke oft erst hinterher, wozu es gut ist, dass ich etwas nun gerade so und nicht so mache. Ich begegne Menschen, die mich auf eine Weise stützen und stärken, dass mir manchmal die Worte fehlen. Die an mich glauben, ohne mich richtig zu kennen. Die mir auf so selbstlose Weise Hilfe anbieten, dass ich zutiefst gerührt bin. Ich staune darüber, was aus kleinen, zufälligen Begegnungen wurde und wie sehr sich persönliches Engagement auszahlt.

Nun hat sich gerade wieder auf wundersame Weise eins zum anderen gefügt. Ich war in einen finanziellen Engpass geraten und bekam zum ersten Mal echte Existenzängste. Tagelang malte ich mir meine Zukunft in den düstersten Farben aus und sah nicht nur die ganze Selbstständigkeit, sondern auch mich baden gehen. Bis heute Morgen. Da bekam ich nämlich vom Briefzusteller persönlich meine Post überreicht, in der sich auch ein Brief vom Finanzamt befand. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich sah, dass ich völlig unerwartet eine sehr hohe Summe erstattet bekomme, die sämtliche Existenzängste auf einen Schlag verschwinden lässt. Stattdessen ist da wieder dieses sichere Gefühl, dass ich auf wundersame Weise vorwärts getragen werde, meinen Zielen, meiner Zukunft entgegen. Und das nur, weil ich zum ersten Mal seit vielen Jahren auf meinen Bauch höre und das mache, wozu ich Lust habe.

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Donnerstag, 2. Oktober 2008

Dunkel

Regen klatscht gegen die Fenster, Sturm wirbelt das gelbe Laub im Hof durcheinander, der Himmel ist so finster und wolkenverhangen, als hätte es nie eine Sonne gegeben. Alte Wunden brechen noch mal in mir auf, lassen mich erst zornig, dann melancholisch werden und schließlich erschöpft aufgeben. Das ist es doch alles nicht wert.
„Das Umdrehen und nicht mehr Hinschauen ist das einzige, was du selbst steuern kannst“, schreibt mir eine wunderbare Freundin in einer bewegenden Mail, und ich weiß, dass sie recht hat. Umgedreht habe ich mich schon lange, aber ich schaue immer wieder über die Schulter zurück. Ein völlig sinnloses Prozedere, das mich nur zum Stolpern bringt und am Vorwärtsgehen hindert.

Innerhalb von einer Woche habe ich die zweite Todesnachricht erhalten. Mir ist kalt und ich fühle mich erschöpft. Beruflich trete ich auf der Stelle, das aber dafür mit großer Energie. Andere Menschen schütten mir ihr Herz aus, erzählen mir von eigenen Nöten. Ich höre zu, gebe Ratschläge und staune selbst über meine abgeklärten, professionell klingenden Worte. Innen drin bin ich doch so unsicher, kämpfe so sehr mit mir selbst, plage mich mit Zweifeln und Ängsten. Wieso merken die anderen das denn nicht?

Ich habe heute Morgen meine Winterjacke aus dem Schrank geholt, um mich für die kalte Zeit zu rüsten. Aber reicht das, um gut durch das dunkle Halbjahr zu kommen?

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Mittwoch, 24. September 2008

Aus dem Leben

Das alte Paar bringt mich zum Schmunzeln. Sie ist 74, er 89 Jahre alt. Im Seniorenheim haben sie sich frisch verliebt und – geheiratet.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so glücklich sein könnte. Darauf habe ich die letzten dreißig Jahre gewartet“, sagt die strahlende Braut. Und während ihr Gatte sie küsst und ihr dabei vor laufender Kamera beherzt an die Brust greift, grübele ich noch darüber, wie traurig es ist, dass man manchmal dreißig Jahre Pech zu haben scheint – und wie wundervoll, wenn man dann im hohen Alter doch noch tiefe, innige Liebe erfahren darf.

Und dann ruft mich eine Freundin an und erzählt mir, dass ihr Schwiegervater ganz überraschend gestorben ist. Auf einmal bin ich in einem ganz anderen Film. Ich spüre, wie aufgelöst meine Freundin ist, die eine Dienstreise abgebrochen hat und nun von sonst wo nach Hause fährt. Zuhause wird sie Verzweiflung erwarten, Fassungslosigkeit, das Unvermögen, etwas Unbegreifliches zu begreifen. Sie weiß noch nicht mal, woran ihr Schwiegervater gestorben ist und ob er im Krankenhaus oder daheim liegt. Da ist nur ein dumpfer Schmerz, der Schock, der alle Beteiligten ergreift. Selbst ich spüre, wie mir kalt wird und meine Stimme anfängt zu zittern. Und während meine Freundin mich um Rat fragt, was nun zu tun sei und ich sachlich-konfuse Antworten gebe, denke ich daran, wie es sich anfühlen muss, wenn man nach über vierzig Jahren den Mann verliert.

Ich bin bestürzt, betroffen, bewegt, während sich zwischen meine nüchternen Tipps Bilder mischen, die so neu aussehen, als seien sie erst gestern entstanden. Ich sehe wieder zu, wie ein Sarg geschlossen wird, ich blättere in Katalogen von Bestattungsinstituten, ich schreibe unendlich viele Adressen auf Umschläge mit schwarzen Rändern, ich stehe an einem offenen Grab und werfe Erde hinein. Es ist bitter kalt, auch in meinem Herzen. Irgendjemand weint und ich merke erst später, dass ich das bin. Und dann esse ich belegte Brötchen und mache Scherze mit Verwandten, die mir vollkommen gleichgültig sind. Erst Tage später weine ich zum ersten Mal richtig, aus tiefster Seele, aus abgrundtiefer Einsamkeit heraus. Manchmal kommt diese tiefe Verzweiflung heute noch in mir hoch. Man hört nie auf, um Menschen zu trauern, die man geliebt hat.

Das alte, junge Ehepaar gibt im Fernsehen ein Interview. Es gehört sehr viel Lebensmut dazu, in diesem Alter noch einmal von vorne anzufangen, Enttäuschungen, Verletzungen, die Angst vor Abschied, vor Verlust, vor Tod einfach zu ignorieren. Der Bericht über die Beiden tröstet mich ein wenig. Das Leben geht weiter. Und man weiß nie, was der nächste Tag bringen wird.

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Sonntag, 21. September 2008

Herbstzeitlose

Ich habe gestern kurz nach Feierabend die letzten Erdbeeren der Saison auf dem Wochenmarkt erstanden. Drei Schalen für zwei Euro. Neben mir kaufte ein Türke eine ganze Stiege voll. Einen Stand weiter gab es den ersten Rosenkohl.
Später saß ich auf meinem Balkon, aß Erdbeeren und genoss diese wunderbar goldene, sanfte Sonne. Es sind solche Kleinigkeiten, die das Leben einfach vollkommen machen.
Heute kullerten mir die ersten Kastanien vor die Füße, noch ganz jungfräulich sauber und glänzend. Ich hob sie auf und legte sie auf das Schränkchen in meinem Flur, direkt neben einen Zierkürbis aus dem Supermarkt.
Ich habe heute einen ekelhaften Text geschrieben und hatte eine diebische Freude daran. Ich nehme mir wieder mal vor, dem Schreiben in Zukunft viel mehr Raum zu geben. Wenn es läuft, macht es einfach wahnsinnig viel Spaß. So viel, dass ich manchmal gar nichts anderes mehr machen möchte. Auch wenn mir all das Ekelhafte zwischenzeitlich den Appetit verschlug, kochte ich mir später trotzdem ein köstliches Risotto mit Frühlingszwiebeln (warum heißen die eigentlich so, wenn es sie auch noch im Herbst gibt?) und frischen Pfifferlingen.
Meine körperlichen Beschwerden geben mir in letzter Zeit immer häufiger das Gefühl, eine alte Frau zu sein. Das erschreckt mich. Wenn mir jetzt schon jeder Knochen weh tut, wie soll das dann erst in zehn Jahren sein? Aber vielleicht ist das auch nur eine Phase, die wieder vorüber geht. Meine Gedanken hingegen werden immer jünger. Und das ist hoffentlich keine Phase, sondern ein Trend, der noch sehr lange anhält.
Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich doch gerne Kinder hätte. Um mir von ihnen die Welt erklären zu lassen. Und um die Liebe mit ihnen teilen zu können, die in meinem Innersten still darauf wartet, dass sie von jemandem gebraucht wird.
Mein kleines Leben ist trotzdem im Moment ganz groß und ich genieße es. Sehr.

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Dienstag, 26. August 2008

Randnotizen

Ich könnte dringend jemanden gebrauchen, der für mich Fenster putzt, einkauft, die Haare schneiden lässt, Sport treibt. Ich selbst werde derweilen vollkommen von meiner Arbeit absorbiert. Das gab es lange nicht in meinem Leben, dass meine Gedanken ganz und gar von beruflichen Fragen dominiert werden. Ob das immer so ist, wenn man seine Leidenschaften zum Beruf macht? Dass die Trennung zwischen Beruflichem und Privatem zunehmend verschwindet?

Allerdings wird einiges sicher anders werden, wenn ich erst mal ein paar grundlegende Dinge geklärt habe, wenn sich der Knoten in meinem Hirn gelöst hat und ich mich den wesentlichen Dingen zuwenden kann. Im Moment besteht mein Tun hauptsächlich aus der Arbeit vor der Arbeit. Aber auch das ist wohl normal, wenn man sich soeben selbstständig gemacht hat.

Ich erschrak sehr, als ich entdeckte, dass es jetzt schon um neun dunkel wird. Habe ich nicht erst gestern mittsommernächtliche Spaziergänge an der Elbe gemacht, während die Dämmerung kein Ende nahm? Ich habe nicht mitbekommen, wie der August vergangen ist, ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Sandalen getragen habe - wohl weniger, weil es ständig so kalt war, sondern weil ich so viel am Schreibtisch saß, und da trage ich keine Schuhe.

Ich stelle jedoch verwundert fest, dass ich zwar ein leises Bedauern darüber verspüre, dass dieser Sommer ohne mich stattgefunden hat, insgesamt aber so glücklich und zufrieden wie schon lange nicht mehr bin. Ich spüre zwar immer noch viele Wunden in Herz und Seele, die sich oft genug in körperlichen Schmerzen bemerkbar machen. Ich bin manchmal sehr ängstlich und angespannt und voller Selbstzweifel. Aber da ist andererseits auch viel Energie, Begeisterung, Neugier, Freude, da sind wundervolle Menschen, die mich bei meinem Start in ein neues Leben unterstützen, mir Mut machen, mir selbst dann ihre Hilfe anbieten und ihr Vertrauen entgegen bringen, wenn wir uns überhaupt noch nicht kennen. Ich habe in den letzten vier Wochen beruflich mehr gute Erfahrungen gemacht als in den letzten vier Jahren. Das trägt mich und hilft mir, die Angst vor meiner eigenen Courage ebenso auszuhalten wie die einsamen Nächte und die schmerzhaften Erinnerungen, die ich manchmal einfach nicht ausblenden kann.

Draußen in der Natur wird es langsam Herbst. In meinem Inneren scheint es nach einem sehr langen Winter jedoch endlich Frühling zu werden.

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Samstag, 9. August 2008

Zeit

„Ich kann diese Leute nicht verstehen, die ständig behaupten, die Zeit würde so schnell vergehen“, sagt er. „Ich empfinde das gar nicht so. Mein Leben ist voll von schönen Dingen und ich genieße es unendlich, jeden einzelnen Augenblick.“
Ich schaue ihn überrascht an.
„Meine Lebenszeit rast ehrlich gesagt auch ziemlich dahin“, sage ich. „Viel schneller als mir lieb ist. Jetzt zum Beispiel kann ich kaum glauben, dass schon August ist. Hat der Sommer nicht gerade erst angefangen?“
Und ich schüttele ungläubig den Kopf und frage mich, wo all die Wochen hin sind, die langen, lauen Nächte, die Hitze, das Laufen im kurzen Sommerkleid, das Gefühl von Freiheit, das man im Sommer so gerne verspürt. Stattdessen ist es grau und stürmisch und ich fühle mich sehr herbstlich und erkenne beklommen, dass dieses Jahr seinen Zenit schon lange überschritten hat.
„Nun ja“, unterbricht er meine Gedanken und mustert mich aufmerksam, „vielleicht liegt es daran, dass die Zeit schneller vergeht, wenn man auf der Suche nach etwas ist.“
Wieder bin ich überrascht. Und dann beobachte ich ihn nachdenklich, wie er mit seinem Bier in einem Liegestuhl sitzt und dabei eine genauso große Gelassenheit ausstrahlt wie seine Frau, die mit ihrer kleinen Tochter spielt. Sie scheinen beide so glücklich und entspannt zu sein und ganz im Hier und Jetzt zu leben wie ihr Kind, während meine Gedanken dahin jagen, Achterbahn fahren und ich innerlich schon lange wieder zuhause bin, bei neuen Aufgaben und Pflichten. Ja, denke ich, vielleicht stimmt es und die Zeit hört auf zu rasen, wenn man ganz da angekommen ist, wo man immer hinwollte, wenn man eine tiefe innere Zufriedenheit und Erfüllung verspürt. Und ich wünsche mir, dass mein Leben auch ein wenig an Tempo verliert, dass ich mehr in der Gegenwart verweile, statt ständig in der Vergangenheit festzuhängen oder schon in der Zukunft herum zu springen und das Jetzt dabei gar nicht richtig wahrzunehmen.

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Sonntag, 27. Juli 2008

Ausblicke

Ich schaue gerne aus dem Fenster. Als alte Frau werde ich vermutlich mal mit einem Kissen auf dem Fenstersims enden, auf dem ich mich abstütze, während ich die Welt beobachte. Bisher beschränke ich mich jedoch darauf, diskret bei geschlossenem Fenster hinaus zu schauen oder unauffällig zwischen den Blumentöpfen auf dem Balkon hindurch zu schielen. Dabei geht es mir gar nicht so sehr darum, was ich beobachte, sondern was ich dabei fühle, in welcher Stimmung ich bin, wenn ich zum Fenster hinaus schaue.

Ich erinnere mich sehr genau an die Ausblicke aus den jeweiligen Häusern, in denen ich gewohnt habe. Als kleines Kind wohnte ich kurze Zeit in einem Mehrfamilienhaus, in dem ich liebend gerne auf dem Fensterbrett im Ess- und Spielzimmer kniete, mir die Nase an der Scheibe platt drückte und das Treiben auf der Straße verfolgte. Es gibt sogar ein Foto von mir, auf dem ich mit meinem großen Bruder auf besagtem Fensterbrett sitze. An zwei Szenen erinnere ich mich besonders, die mit diesem Fenster verbunden sind. Einmal beobachtete ich voller Faszination dicke Schneeflocken, die wie die Bettfedern von Frau Holle sanft und leise vom Himmel fielen. Während ich in immer wiederkehrendem Singsang „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ sang, wirbelten die großen, weichen Schneeflocken am Fenster vorbei und bedeckten langsam Dächer und Wege mit einem weißen Zuckerguss. Ein andermal hockte ich mit schlimmen Ohrenschmerzen auf dem Fensterbrett und musste das Haus hüten, besonders auch, da draußen ein schlimmer Sturm um die Häuser heulte. Er wirbelte trockenes Laub, Plastiktüten und was sonst noch so auf den Straßen herumlag, durch die Luft und brachte einige Bäume dazu, beängstigend laut zu ächzen. Und dann fiel mit lautem Krach eine Dachpfanne vom Dach der Schule, die genau gegenüber auf der anderen Straßenseite stand. Meine Geschwister gesellten sich zu mir und wir beobachteten aufgeregt, wie noch weitere Dachpfannen vom Dach gefegt wurden und auf dem Fußweg zerschmetterten. Schließlich rückte die Feuerwehr an und sperrte den Weg um die Schule herum ab, damit keine Passanten zu Schaden kamen. Ich vergaß meine Ohrenschmerzen vollkommen, so spannend war das.

Mein späteres Leben ist vor allem von Ausblicken auf Bäume geprägt. In dem Haus, in dem ich den größten Teil meiner Kindheit verbrachte, stand vor meinem Fenster eine große Trauerweide. Ich schob gerne die Gardinen zur Seite und schaute hinaus in den Garten. Manchmal setzte ich mich auch noch auf das Fensterbrett, aber als ich groß genug war, um hinaus sehen zu können, stand ich meistens und stützte meine Ellbogen auf der schmalen Steinplatte ab. Es gab sehr viele Vögel in diesem Garten und durch meinen Bruder, der Mitglied im Vogelschutzbund war, lernte ich schon früh die einzelnen Arten zu unterscheiden, die sich im Winter an dem großen Vogelhaus rechts neben der Trauerweide tummelten oder im Sommer versteckt in den Ästen der Bäume hockten. Im Winter sah die Weide sehr trostlos aus und machte ihrem Namen alle Ehre. Die langen, dünnen Zweige hingen nackt und dunkel vom Baum herab. Doch im Sommer bot der Baum einen prachtvollen Anblick. Fast scheint es mir so, als könnte ich in der Erinnerung jedes einzelne der schmalen, silbrig-grünen Blätter erkennen, als wüsste ich noch genau, wie jeder Ast gewachsen war und wie der dicke Stamm aussah. Immer häufiger träumte ich vor mich hin, während ich am Fenster stand, und meine Gedanken verfingen sich in den ausladenden Ästen und schwangen leise mit ihnen im Wind. Ich wusste, eines Tages würde ich diesen Baum nicht mehr sehen können. Aber die Erinnerung an ihn wollte ich unbedingt festhalten, das war mir eigenartigerweise schon sehr früh wichtig.

Der nächste Baum, der eine große Bedeutung für mich hatte, stand im Garten des Hauses, in dem ich während meines Studiums lebte. Es war ein alter, verwilderter und total ungepflegter Garten. Direkt vor meinem Fenster befand sich eine Reihe dünner Fichten, die mich wenig beeindruckten, obwohl sie den Garten im Winter nicht ganz so trostlos erscheinen ließen. Wichtiger war mir ein alter Apfelbaum mit einem krummen, gewundenen Stamm, der vor dem Küchenfenster stand, den ich aus meinem eigenen Zimmer aber auch gut sehen konnte. Seine üppigen weißen Blüten im Frühling erinnerten mich an die Apfelbäume im Garten meiner Kindertage (die auch eine große Rolle in meinem Leben spielten, aber nicht unter der Rubrik „Fensterblick“). Allerdings trug er längst nicht so viele Früchte wie jene Bäume. Ich schaute oft voller Sehnsucht hinaus auf diesen Baum und verfolgte seine Veränderungen im Wandel der Jahreszeiten. Auch ich veränderte mich. Orientierungslos irrte ich durchs Leben auf der Suche nach neuer Beständigkeit, während ich keine Idee hatte, was ich mit meinem Studium jemals anfangen sollte. Meine Studentenwohnung jedoch wurde mir über die Jahre mit all den anderen Mitbewohnern zu einem neuen Zuhause, in dem ich eine Geborgenheit erlebte, die ich in meinem Elternhaus manchmal vermisst hatte, so sehr mich diese Erkenntnis auch erschreckte. Doch dieser Apfelbaum da draußen in dem alten Garten, der stellte irgendwie eine Verbindung zu meiner Familie, meiner Vergangenheit her. Und er hörte mir zu, wenn ich hilfesuchend hinaus schaute und tröstete mich, wenn mir die Tränen haltlos über das Gesicht liefen, weil ich wieder mal Liebeskummer hatte oder von einer grässlichen Melancholie erfasst wurde, die mir das Leben damals manchmal unnötig erschwerte. Ich machte mehrere Fotos von ihm, bevor ich aus der Wohnung auszog und nahm sehr bewusst von diesem Apfelbaum Abschied.

Heute schaue ich aus einem meiner Fenster auf eine große Kastanie. Sie steht dichter am Haus als all die Bäume in den Häusern, in denen ich früher lebte und schirmt die Sonne ab, so dass es in dem Zimmer leider sehr dunkel ist. Aber ich liebe diesen Baum dennoch und bin sehr glücklich über das üppige Grün inmitten der grauen Großstadt. Im Winter und Frühling turnen Eichhörnchen in den dicken Ästen herum und zaubern mir jeden Morgen ein Schmunzeln ins Gesicht, sobald ich die Vorhänge öffne. Im Frühling kann ich den Blättern zusehen, wie sie sich stündlich mehr aus den Zweigen hervorschälen und sich dann in einer Pracht entfalten, die leider schnell vorüber ist. Die Blütenkerzen sind genauso faszinierend wie die stacheligen Kastanien, die jetzt Ende Juli schon eine beachtliche Größe erreicht haben und von denen ich im Oktober einige aufsammle und meine Wohnung damit schmücke. Leider sind auch die Miniermotten schon wieder aktiv gewesen, so dass viele Blätter zerfressen sind und erste braune Flecken aufweisen. Immerhin scheint der Baum nicht so schlimm betroffen zu sein, wie viele Kastanien in öffentlichen Parks, die zum Teil schon aussehen wie im Spätherbst. Ich leide dennoch jedes Jahr mit dem Baum mit, so wie er wohl auch mit mir mitleidet. Dieser Baum kennt meine Einsamkeiten und Ängste, er weiß um meine Sehnsüchte und auch um mein Glück. Er schaut hinein in das Zimmer, in dem ich arbeite und schlafe, in dem ich kreativ bin, in dem ich Männer geliebt habe und später um sie weinte. Ich frage mich, wie alt dieser Baum wohl sein mag und was er schon alles gesehen hat, bevor ich hier einzog. Aber er ist ein verschwiegener Geselle, schweigsam und erhaben. Doch genau das schätze ich so an ihm, und ich weiß jetzt schon eins: Wenn ich eines Tages aus dieser Wohnung ausziehen werde, so vergesse ich diese alte Kastanie garantiert niemals, wohin auch immer es mich verschlagen wird.

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Samstag, 19. Juli 2008

Virtuelle Liebe

Ich gebe es zu, ich bin leicht verführbar. Wenn ich schöne Worte lese, kunstvoll formuliert, vor Witz sprühend und Wärme ausstrahlend, dann ist es schnell um mich geschehen. Dann lasse ich mich hinreißen zu Fantasien, in denen ich mir selbst all die Geschichten erzähle, die zwischen die Zeilen passen, in denen ich so lange über Glück und Liebe nachdenke, bis mein Herz anfängt zu rasen, sobald ich meinen Rechner hochfahre. Dabei sind es doch nur Worte, die ich dort finde – in meiner Mailbox, einem Blog, bei Twitter oder sonst wo. Es ist kein Mensch, den ich anfassen, dessen Geruch ich atmen, dessen Lachen ich hören kann. Ich habe mich schon in viele zauberhafte Worte verliebt, mich ihnen virtuell hingegeben und dabei eine Nähe und Vertrautheit gespürt, die mich faszinierte. Ich habe mich in Mailwechseln vollkommen verloren und mir eingebildet, dass all diese schönen Worte echt waren, dass ich sie leben konnte. Ein Buchstabe für Buchstabe hingehauchter Kuss erlangte so auf einmal mehr Bedeutung als eine reale Umarmung. Ich war hungrig nach immer neuen Worten, süchtig nach den Gefühlen, die sie in mir erzeugten, nach der Möglichkeit, mich selber zu öffnen, auf eine Weise, wie ich es real nie tun würde – schon gar nicht einem Unbekannten gegenüber, den ich noch nie zuvor gesehen habe.

Irgendwann kommt allerdings in jeder virtuellen Liebe der Punkt, an dem man sich unweigerlich fragt, wie es weiter geht. Zerstört schon ein Foto alle Illusionen der Vollkommenheit? Entzaubert bereits der Klang einer Stimme die geschriebenen Worte? Und was, wenn man noch einen Schritt weiter geht und sich real trifft? Ist das dann ein Ende oder ein Anfang? Will man es überhaupt riskieren, dieser Frage auf den Grund zu gehen?

Daniel Glattauer riskiert es. In seinem Roman "Gut gegen Nordwind". Sehr treffend und genau beobachtet schildert er das Wechselbad der Gefühle, in dem man sich urplötzlich wiederfinden kann, und er lässt den Leser teilhaben an der Auseinandersetzung mit der Frage: Wenn man sich virtuell verliebt, können die Fantasien im Kopf dann der Realität standhalten? Mit feinem Humor beschreibt er, wie der Mailwechsel mit einem Fremden das eigene Leben völlig auf den Kopf stellen kann und ein virtueller Kontakt auf einmal wichtiger wird als das reale Leben. Er beschreibt die Sehnsüchte, die von geschriebenen Worten geweckt werden und schließlich in eine Sucht übergehen – Sucht nach noch mehr schönen Worten, nach Lebendigkeit, aber auch nach Illusion. Manchmal kann eine reale Begegnung dann sehr ernüchternd und heilsam sein. Manchmal aber macht sie auch alles erst recht kompliziert und verwirrend. Ich habe beides erlebt und weiß, dass sich ein Verhältnis total verändert, wenn man es aus dem virtuellen Raum heraus in die reale Welt transportiert. Aufregend ist die Veränderung in jedem Fall. Die Spannung, die sich aus diesem Widerstreit der Gefühle ergibt, hält Daniel Glattauer sehr gekonnt und auf faszinierende Weise bis zum Schluss seines Romans aufrecht. Ein absolutes Lese-Muss für alle, die sich schon mal in eine E-Mail verliebt haben.

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Montag, 30. Juni 2008

Die kleinen Dinge

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die das Leben einfach wundervoll machen. Frankfurter Kränzchen zum Beispiel, die von Tag zu Tag aromatischer werden, weil die Buttercrème den Teig immer mehr durchdringt. Oder Risotto mit Sellerie, Tomaten und gebackenem Ricotta, das auch am nächsten Tag noch großartig schmeckt, besonders, weil die feine Schärfe der Chilis jetzt noch intensiver auf der Zunge zu spüren ist.

Es sind die weinseligen Gespräche auf dem Balkon oder spätabends in der Küche, begleitet von viel Lachen und Heiterkeit, Träumen und Sehnsüchten, Ermutigung und Bestärkung. Die Spaziergänge an Elbe und Alster, das Ausklingen des Tages, in Wolldecken gehüllt, mit Blick auf den Fischmarkt, das Gefühl von großem Vertrauen und viel Nähe, von Verstehen trotz all der Unterschiede – oder vielleicht gerade deswegen.

Manchmal braucht es eben nicht viel für ein vollkommenes Wochenende. Und für eine wunderschöne Freundschaft.

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Übermorgen fliege ich in den Urlaub, und wenn ich zurückkehre,...
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