Schlafzimmer
In einer kleinen Singlebörse stolpere ich beim Durchsehen meiner Kontaktvorschläge über ihn. Wenig Text, aber ein Foto, das mich sofort anzieht und ein wenig an Benjamin Sadler mit langen Haaren und Dreitagebart erinnert. Die sparsamen Worte zeugen von einem humorvollen, intelligenten Mann. Er ist in meinem Alter, lebt knapp 300 Kilometer von Hamburg weg, das geht noch als Entfernung. Ich bin angetan und schicke ihm eine sehr kurze Mail. Die Antwort gefällt mir. Noch mehr Humor. Und viel Freundlichkeit. Und – das überrascht mich, weil es in diesen Singlebörsen ungewöhnlich ist – die Zeilen klingen liebevoll, ohne aufdringlich zu sein.
Ich schalte ihm meine Fotos frei, und daraufhin schlägt er vor, nach Hamburg zu kommen, um mich kennen zu lernen. Als ich das lese, geschieht etwas mit mir. Zum ersten Mal seit vielen Jahren berührt mich die Mail eines Fremden. Schlimmer noch: Ich kriege Herzrasen und werde so aufgeregt wie eine Fünfzehnjährige. Entsetzt erkenne ich, dass ich mich in ein paar dürre Worte und ein unscharfes Schwarz-Weiß-Foto verknallt habe. Und das mir, die ich immer dachte, ich hätte diesen ganzen Dating-Zirkus im Griff wie sonst niemand und könnte mich bis in alle Ewigkeiten mit Männern verabreden, ohne tiefere Gefühle dabei zu hegen. Vor allem aber weiß ich doch genau, dass ein paar schöne Worte überhaupt nichts bedeuten. Ich weiß absolut nichts über diesen Mann. NICHTS. Und in dieses Nichts habe ich mich verguckt. Was für ein schrecklicher Anfängerfehler.
Munter ignoriere ich weitere Regeln, die ich sonst befolge, und gebe ihm meine Telefonnummer. Seine Stimme, die schnodderig und hektisch klingt, ernüchtert mich total. Sie passt überhaupt nicht zu den liebevollen Mails und dem Foto, das einen Mann zeigt, der eher in sich gekehrt wirkt. Fast bin ich geneigt, ihn ziehen zu lassen. Er hingegen ist hingerissen von meiner Stimme, und schließlich denke ich: Wer weiß, vielleicht ist er am Telefon nur aufgeregt. Wir verabreden uns, aber ich bin längst nicht mehr so euphorisch. Doch dann telefonieren wir erneut, und siehe da, diesmal klingt er sehr ruhig und vor allem sehr humorvoll. Wir lachen ausgelassen miteinander, und dann ist mein Herzklopfen wieder da.
Er hat sich den schlechtesten Tag des Jahres für einen Hamburg-Besuch ausgesucht. Es gießt in Strömen, und das ganze Viertel ist wegen des Schlager-Moves abgeriegelt. Er braucht zwei Stunden für den größten Teil der Fahrt und eine weitere geschlagene Stunde für die letzten anderthalb Kilometer. Ich ringe mit mir. Das Verkehrschaos, der Regen – ich möchte nicht länger warten und ihm auch nicht zumuten, weiter durch die Stadt zu irren. Also schlage ich ihm vor, nicht in die verabredete Kneipe, sondern direkt zu mir nach Hause zu kommen. Niemals, niemals gebe ich meine Adresse heraus, ohne jemanden vorher persönlich zu kennen. Er hingegen erhält hundert Vertrauensvorschübe auf einmal. Ich verstehe mich selbst nicht mehr.
Dann steht er in der Tür, sieht mich an – und es ist um mich geschehen. Zur Begrüßung nimmt er mich fest in die Arme und küsst mich auf die Wange. Ich möchte ihn am liebsten nie mehr loslassen. Wir bestellen Pizza, setzen uns aufs Sofa und reden, reden, reden. Er hat eine unglaubliche Ausstrahlung, sehr lebendig, sehr wach, mit leuchtenden Augen und einem breiten, mal herzlichen, mal frechen Lachen. Der Mann auf meinem Sofa passt weder zu dem Foto noch zu den Mails noch zu dem Bild, das er beim Telefonieren in meinem Kopf erzeugt hat. Er ist ganz anders. Positiv anders. Aber auch beängstigend anders. Er ist sehr dominant, sagt unverblümt, was er denkt, kritisiert Kleinigkeiten an mir, als seien wir seit zehn Jahren ein Paar. Meine Gefühle fahren Achterbahn. Ich bin fasziniert – und total verunsichert. Er ist sehr ironisch und zynisch, nachdenklich und sensibel, aufmerksam und chaotisch. Manchmal weiß ich nicht, was er ernst meint und was nicht. Er steckt mich mit seiner Hektik an, macht mich nervös und bringt mich dazu, Dinge zu erzählen, die ich überhaupt nie erzählen wollte. Ich entdecke, dass sein Bindungsproblem noch größer als meins ist oder als das all der Männer, mit denen ich bisher zu tun hatte. Er ist sozusagen der König aller bindungsscheuen Wesen.
Es entsteht sehr schnell eine körperliche Nähe zwischen uns. Ganz selbstverständlich wärmt er meine kalten Füße zwischen seinen Beinen, streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, berührt meine Arme und Beine mit kleinen, liebevollen Gesten. Ich mag das sehr. Wir landen schneller im Bett, als ich dachte, werden so rasch sehr intim miteinander, dass es mich überfordert. Das geht alles viel zu schnell, das ist viel zu viel. Und gleichzeitig so intensiv, so überwältigend. Ich liege die ganze Nacht wach und schaue ihm beim Schlafen zu, während draußen ein Unwetter tobt und in mir drin mein Herz bebt.
Kurzer, wilder Morgensex – und dann rückt er auf einmal von mir ab. Als wäre ein Vorhang zwischen uns gezogen worden, zieht er sich vollkommen in sich zurück. Das ändert sich nicht mehr, bis er abfährt. All meine Komplimente bleiben unerwidert, ebenso die Anspielungen auf weitere Treffen. Kein Wort darüber, ob ihm die Zeit mit mir gefallen hat, ob er mich wiedersehen möchte. Von unterwegs ruft er noch mal an, um mir mitzuteilen, dass er wieder im Stau steckt – diesmal wegen des Halbmarathons. „Hamburg ist wirklich eine beschissene Stadt“, schließt er grimmig, und ich frage mich, ob ich das als Zusammenfassung für die gesamten vergangenen Stunden werten darf und ob ich jemals wieder von ihm hören werde.
Ich bin verstört und völlig übermüdet. Mir ist übel, weil ich in den letzten zwei Tagen viel zu wenig gegessen habe. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen und habe das entsetzliche Gefühl, mitten in einen Tornado geraten zu sein, der quer durch mein kleines, friedliches Leben gewirbelt ist und eine breite Spur der Verwüstung hinterlässt. Ich mache mich jetzt mühsam an die Aufräumarbeiten und frage mich dabei bange, ob es bei diesem einmaligen Tornado bleibt, oder ich in Zukunft noch häufiger von Wirbelstürmen heimgesucht werde, die dieser Mann auslöst und die mich von den Beinen fegen.
Eben wollte ich noch drüben bei
Frau Nessy laut rufen: Ach, so wild ist das alles doch gar nicht mit diesen Kontaktbörsen im Internet. Ich staune zwar, wie viele Leute dort tatsächlich der Liebe ihres Lebens begegnen, weil mir das nämlich nie passiert ist. Aber nette Begegnungen kann man trotzdem haben. Und es ist eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme, die mir schon lange nicht mehr peinlich ist. Sind halt andere Zeiten heute, wo man nicht mehr einen Herrn an die Seite gestellt kriegt, mit dem man die Hochzeit von Annegret und Dieter „machen“ muss, und mit dem man dann – Großmutters Verkupplungskunst sei's gedankt – später selbst vor den Altar tritt. Heute muss Frau sich um alles alleine kümmern, und das ist anstrengend und mühsam.
Nachdem mich der Mann mal wieder aus Zeitmangel versetzte, dachte ich, es könne ja ganz nützlich sein, mir ein Alternativprogramm für die Durststrecken zwischen unseren durchaus erfüllenden Begegnungen zu schaffen. Ich meldete mich also in einer Erotikbörse an, deren Besuch mir als Mitglied einer Singlebörse regelrecht ans Herz gelegt wurde. Die Macher fanden es wohl eine schlaue Idee, all den verzweifelt Suchenden das Warten auf den Prinzen und die Prinzessin ein wenig zu versüßen. Nun ja, dachte ich, mit der Partnersuche läuft es tatsächlich nicht so rund, schaun wir doch mal, wie es mit einem kleinen Zeitvertreib aussieht.
Um es vorweg zu sagen: Es sieht grauenvoll aus. Machen Sie das bloß nie nach! Besagte Börse scheint sich noch in ihrer Vor-Beta-Phase zu befinden. Anders kann ich mir jedenfalls das stellenweise unausgereifte Konzept nicht erklären. Ich kann nicht aktiv nach Kontakten suchen, sondern bin auf die Matching-Ergebnisse irgendeines Computerprogramms angewiesen. Dieses Programm scheint alles Mögliche zu können, nur eins nicht: Daten miteinander abzugleichen. Anders kann ich mir jedenfalls nicht erklären, wie es passiert, dass die Hälfte meiner Kontaktvorschläge angeben, dass sie in einer Beziehung leben, obwohl ich doch ausdrücklich nur ungebundene Männer suche. Was mich ebenfalls erstaunt (aber dafür kann die Technik nun nichts): Ziemlich viele dieser verheirateten Männer, die auf der Suche nach einem Seitensprung sind, setzen ein Foto in ihr Profil, das nur notdürftig mit einer bunten, kleinen Maske verdeckt wird. Jede Frau, die diese Männer von irgendwoher kennt, wird sie garantiert sofort erkennen. Ist ja nicht mein Problem, Jungs, aber bitte beklagt euch dann auch nicht, wenn ihr zuhause Ärger kriegt.
Obwohl ich durchaus dazu neige, mich schnell in Affären und Beziehungen zu stürzen, brauche ich doch einen gewissen Vorlauf, eine Rahmenhandlung, die mir die Möglichkeit gibt, Nähe, Vertrauen, Lust und sehr gelegentlich sogar Liebe zu entwickeln. Dafür reicht manchmal ein anregender Abend in einer Bar. Oder eine Handvoll Mails, fröhlich, frech, pointiert. Ein kurzes, flüchtiges Gespräch, das neugierig macht und nach mehr verlangt. Irgendetwas, das mich aufmerken lässt. Was ich hingegen total öde finde: Wenn mich ein Mann in seiner allerersten Mail mit Obszönitäten zumüllt. Das halte ich selbst in einer Erotikbörse für völlig fehl am Platz und ungemein abtörnend. Alles braucht ein Vorspiel, finde ich, und der Mann, der das nicht verstanden hat, sollte auch nicht diese Einladungen mit dem Aufdruck „Lust, die Kunst der Verführung kennenzulernen?“ verschicken. Männer, ich glaube, ich weiß eine ganze Menge über die Kunst der Verführung. Wie wäre es, wenn ihr mal ein paar Nachhilfestunden nehmt und dann wiederkommt?
Was auch höchst peinlich ist: Wenn ein Mann in besagter Börse behauptet, Single zu sein, mir ein Foto schickt, und ich ihn, wie das Schicksal so will, zufällig zwei Tage später am Bahnhof sehe – im Schlepptau mit Frau und Kindern. Der Herr trug sogar denselben Pullover wie auf dem Bild. Ach Leute, nee, echt nicht. Für so einen Käse bin ich zu alt. Überhaupt bin ich für diesen Internet-Erotik-Mist zu alt. Das ist alles so plump und platt und billig. Und vor allem so schnelllebig. Da lobe ich mir doch meinen Bösen Buben, der zwar wenig Zeit hat, aber sehr treu und verlässlich immer genau dann wieder auftaucht, wenn ich nicht damit rechne. Und dann … ja, dann … hach … Das ist nämlich einer, der hat seine Hausaufgaben schon gemacht und weiß, wie das mit der Verführung geht. Und darum melde ich mich jetzt gleich mal wieder in dieser beknackten Erotikbörse ab, die tut meinen Nerven gar nicht gut.
Wir liegen im Bett und reden, reden, reden. Da ist eine Nähe und Zärtlichkeit, wie ich sie bisher nur erlebt habe, wenn ich sehr verliebt war. Und doch ist es völlig anders. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass es so was geben kann: Freundschaft plus Sex. Ohne Sehnsucht. Ohne Herzwehliebe. Ohne den Anspruch, sich in den grundlegenden Dingen des Lebens einig zu sein. Und trotzdem sehr zärtlich und liebevoll. Für mich ist das neu und ein kleines Wunder. Ich kannte bisher nur leidenschaftliche Liebe oder nüchterne Lust, wenn ich mit Männer im Bett war. Dazwischen gab es eigentlich nichts. Dass ich Gefallen an noch ganz anderen Spielarten des Miteinanders finde, erstaunt mich. Dass ich sie ausgerechnet mit ihm erlebe, verblüfft mich. Und ihn wohl auch.
Das Überraschende: Meine Angst ist weg. Auf einmal kann ich ihm auf Augenhöhe begegnen. Alle unguten Gefühle sind verschwunden, ich bin fröhlich, gelassen und ruhig. Ich kann sogar ein wenig mit ihm streiten und lasse mich dabei nicht einschüchtern. Und ich erzähle ihm sehr private Dinge, ohne mich dabei entblößt zu fühlen. Das ist ein Wunder, jedenfalls für mich.
Mein Leben lang habe ich gegen Übermächte jeder Art angekämpft. Ich bin in schöner Regelmäßigkeit daran gescheitert und habe daher fortan einen großen Bogen um alle Situationen und Menschen gemacht, denen ich nicht gewachsen schien. Und das waren eine Menge. Das hatte zur Folge, dass es viel Stillstand in meinem Leben gab. Stillstand, der mich zutiefst frustrierte und dadurch noch mehr lähmte. Viel zu oft bin ich hinter meinen eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zurückgeblieben, habe an mir selbst gezweifelt und mein Scheitern regelrecht kultiviert. Aber in den letzten Monaten ist spürbar etwas in Bewegung geraten. Etwas in mir hat sich nachhaltig verändert. Und dann passieren auf einmal mehrere Dinge gleichzeitig, und ich denke, dass sich der Sinn mancher Begegnungen tatsächlich erst nach Jahren erschließt.
Er ist nur ein Teil dieser aufregenden Entwicklungen und eine echte Herausforderung für mich. Er verkörpert die männlichen Übermächte meines Lebens mehr als perfekt – selbstsicher verkündet er seine eigenen Weisheiten mit einer Überzeugung, als seien sie in Stein gemeißelt. Ich lasse mich davon einschüchtern und nicke brav zu jedem Unsinn, den er von sich gibt. Kein Wunder, dass mein Bedürfnis, ihn näher kennen zu lernen, lange Zeit nicht sonderlich groß ist. Und doch zieht es mich immer wieder zu ihm hin. Und ihn zu mir. Bis wir auf einmal alle Barrieren überwinden. Erklären können wir das beide nicht, denn eigentlich will jeder von uns etwas ganz anderes.
Es überrascht mich daher auch, dass ich ausgerechnet bei ihm lerne, meine eigene Mitte wiederzufinden und auf männliche Stärke mit weiblicher Stärke zu reagieren. Ich laufe nicht mehr davon, sondern biete ihm trotzig die Stirn – bis ich merke, dass es gar nicht notwendig ist, mich dabei wer weiß wie anzustrengen, es geht ganz einfach. Er hört mir zu, nimmt mich ernst, lacht über sich selbst und sein männliches Klugscheißer-Getue – und trägt ein wenig dazu bei, dass ich einen kleinen Dämon in mir bezwinge. Wir genießen den Moment voller Vertrauen und Nähe miteinander und wissen beide, dass sich zwischen uns etwas verändert hat. Und diesmal fühlt es sich richtig gut an.
Ich schicke
ihm eine Mail und frage, ob wir uns nicht mal wieder treffen wollen – zum Frühstück, oder
zu was anderem Schönem. Genau genommen haben wir uns bisher fast immer nur zum Frühstück verabredet. Das war so unverfänglich und geschäftsmäßig, und unser Job war auch stets Hauptbestandteil unserer Gespräche. Seine Antwort liest sich wie immer – freundlich und neugierig. „Was könnte denn
was anderes Schönes sein?“ fragt er unschuldig. „Keine Ahnung“, schreibe ich zurück und zähle genauso unschuldig auf: „Mittagessen, Abendessen, Kneipe, Kino...“ „Abendessen klingt am besten“, findet er, und ich registrierte aufgeregt, dass er dasselbe denkt wie ich. Es schwingt zwischen den Zeilen mit, genauso wie in all unseren anderen Mails und Gesprächen, seit Jahren schon.
Jawohl, denke ich, Abendessen ist ein großer Fortschritt gegenüber Frühstück, und ich, ich bin jetzt endlich auch bereit dafür. Fürs Abendessen ebenso wie für das anschließende
Ausgehen, das er noch vorschlägt. Hat ja nun echt lange genug gedauert. Ich stelle mir vor, wie wir in einer Bar sitzen, unsere Hände sich wie zufällig berühren, die Beine sich aneinander pressen, auch erst zufällig, dann immer stärker, deutlicher. Wir haben uns vorher nie berührt, von fast schüchternen, steifen Umarmungen zur Begrüßung abgesehen. Jeder noch so kleine Körperkontakt wäre schon ziemlich aufregend. Ich male mir aus, wie unsere Blicke länger werden und er mich küsst, vorsichtig tastend, ob ich das auch mag, ob er nicht zu weit geht. Ich stelle mir vor, dass wir viel Zeit brauchen, um uns aneinander zu gewöhnen.
Dann schickt er mir als Vorschlag zum Essengehen eine Liste mit Kneipen und Imbissen in seiner Nachbarschaft - ob da was Passendes für mich dabei sei? Ich verdrehe die Augen. Männer! So hatte ich mir das jetzt aber nicht vorgestellt. Gut, denke ich ergeben, wenn ich das Schöne nur zusammen mit der Imbissbude kriege, dann ist das halt so. Es gibt einiges Hin und Her wegen des Termins für unser Date. Schließlich rufe ich ihn an. Das mache ich sonst nie, und ich brauche ewig, um seine Nummer zu finden. Er ist im ersten Moment auch irritiert, dann aber sichtlich erfreut. „Heute ist ein verrückter Tag“, sagt er. „Es passieren lauter Sachen, mit denen ich nicht gerechnet habe.“
Er fängt an zu stottern und zu stammeln und unternimmt fünf Anläufe für den nächsten Satz. Ich schweige gespannt. Was dann kommt, haut mir aber fast das Telefon aus der Hand: „Ich muss dir ganz ehrlich was sagen: Ich denke ständig an Sex, wenn ich über dieses Abendessen mit dir nachdenke.“ Da schleichen wir seit Jahren umeinander herum, und dann sagt er das einfach so am Telefon, klar und direkt. Okay, er brauchte fünf Anläufe, aber er sagt es. Erst bin ich sprachlos. Dann platzt ein Knoten, und auf einmal können wir ganz offen reden. Er ist verwundert, dass ich jeden einzelnen seiner Annäherungsversuche haargenau registriert habe, selbst den zartesten, verstecktesten. Ich bin verblüfft, dass er sich an jedes einzelne unserer Treffen zehnmal besser erinnert als ich. Dabei ist er doch nicht verliebt, nur scharf auf mich. Nehme ich jedenfalls an.
„Wie machen wir das jetzt mit unserem Date?“ frage ich. „Dienstag oder Donnerstag?“ Er gerät wieder ins Stottern. „Am liebsten wäre es mir ja, wir würden uns jetzt gleich sehen. Dabei habe ich überhaupt keine Zeit, muss in zwei Stunden zu einem wichtigen Termin.“ Zwei Stunden, denke ich, ohne Aufwärmen, ohne Reden, einfach nur intensives Körpergefühl. Mitten am Tag, zwischen zwei Geschäftsterminen. Ohne Zeit für Angst, vorheriges Anhübschen und stundenlange Auswahl der passenden Kleidung. Mit einem Mann, dem ich bisher immer nur sehr steif und förmlich in Cafés gegenüber saß. Und der ganz anders ist als jeder Mann, mit dem ich vorher zusammen war.
Kann man machen. Oder auch nicht. Ich entscheide mich fürs Machen. Und … erlebe eine Offenbarung.
In letzter Zeit muss ich oft an einen Mann denken, den ich vor vielen Jahren in einer Single-Börse kennenlernte. Er schrieb nette Mails, aber nicht so, dass ich sie in bleibender Erinnerung habe. Auch sein Foto war eher nichtssagend: ein durchschnittlicher Mann mit Halbglatze, runder Nase, vollen Lippen. Nicht hässlich, aber auch keiner, bei dessen Anblick einer Frau ein aufgeregtes „Wow!“ entschlüpft.
Wir verabredeten uns trotzdem – nicht zuletzt, weil er in meinem Stadtteil lebte. Allerdings nicht in so einem schmuddeligen Arbeiterviertel wie ich, sondern in einem der noblen Elbvororte. Er lud mich zum Essen in ein teures Restaurant ein. Ich erschien im Strickpulli, er im Sakko. Die souveräne Art, mit der er das Essen bestellte und später zahlte, zeigte mir, dass er zu den Leuten gehörte, für die Geld ganz selbstverständlich ist. Er war kein neureicher Protz, der seinen Kontostand laut hinaus brüllen muss. Er war ein Mann, der gerade wegen seines Understatements auffiel.
Vom ersten Moment an dachte ich: „Das läuft nicht. Uns trennen Welten. Der hält mich für einen komplett bescheuerten Bauerntrampel. Und ich finde ihn zu elitär.“ Derweilen plauderte er munter über Kunst, Kultur, das Leben und die Liebe. Ich hielt tapfer mit, die ganze Zeit bemüht, klug und belesen daher zu kommen. Dabei wurde ich immer verkrampfter. Erst, als er von seiner gescheiterten Ehe erzählte (seine Frau hatte ihn sitzen gelassen und war mit den Kindern – Skandal und Trauma für jeden Mann! - zu einer anderen Frau gezogen), wurde ich hellhörig. „Ich möchte gerne noch mal ganz von vorne anfangen“, sagte er nachdrücklich. „Mit allem. Auch Kinder hätte ich gern noch mal.“ Kritisch runzelte ich die Stirn und stellte fest: „Aber deine Frau ist erst seit einem Jahr weg. Ist das nicht ein bisschen früh, sich da schon wieder so fest zu binden?“ Entschieden entgegnete er, dass er ganz gut selbst wisse, was für ihn richtig sei und was nicht.
Ich war mir sicher, dass er sich nach dem Essen höflich verabschieden würde, und staunte umso mehr, als er fragte, ob ich noch Lust auf einen Spaziergang hätte. Während wir dicht beieinander an der Elbe entlang flanierten, erkannte ich verwundert, dass der Mann sich ehrlich für mich interessierte. Zum Abschied machte er eine liebevolle Andeutung, mich in die Arme zu nehmen. Ich reagierte unsicher und verlegen darauf. Verwirrt fuhr ich heim.
Wir trafen uns erneut. Und dann noch einmal. Natürlich stand irgendwann die Frage im Raum, wie es denn nun eigentlich mit uns weitergehen solle. Ich hatte meine Entscheidung längst gefällt. Der Mann war wahnsinnig nett, klug und belesen, zärtlich und sensibel – und er berührte mein Herz auf eine eigenartige Weise. Aber er kam aus einer anderen Welt als ich. Ich bekam Beklemmungen bei der Vorstellung, in einem dieser superschönen, supersteifen Luxusviertel zu leben, im Urlaub mit der eigenen Segelyacht durchs Mittelmeer zu schippern, meine Freizeit im Ballett und der Oper statt in schummrigen Kiezkneipen zu verbringen, und vor allem: mich mit einer Exfrau messen zu müssen, die mir präsenter zu sein schien, als dem Mann bewusst war.
Ich gab ihm einen Korb. Er war zutiefst schockiert. „Was machen wir denn jetzt?“ fragte er verstört. „Ich finde dich nämlich total klasse.“ Dabei standen ihm Tränen in den Augen. Jetzt war es an mir, schockiert zu sein. Ich hatte nicht bemerkt, wie sehr er sich bereits verliebt hatte. Und ich hatte auch nicht erwartet, dass ein gestandener Mann, ein so erfolgreicher Unternehmer, in aller Öffentlichkeit (wir saßen gerade wieder in irgendeinem teuren Restaurant) derart emotional reagieren würde. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. In hilfloser Traurigkeit trennten wir uns, und ich verbannte ihn auch gedanklich schnellstmöglich aus meinem Leben.
Die nächsten Jahre meines Lebens waren angefüllt mit Affären, von denen eine wilder war als die nächste. Ich jagte ständig dem großen Glück hinterher, bis ich es am Ende an den unehrlichsten, unaufrichtigsten Mann verlor, den ich finden konnte. Optimal vermasselt, würde ich sagen.
Jahrelang dachte ich nicht mehr an die Begegnung mit jenem Unternehmer von damals. Aber in letzter Zeit kommt er mir seltsamerweise immer wieder in den Sinn. Ich weiß natürlich nicht, was geschehen wäre, wenn ich mich tatsächlich auf ihn eingelassen hätte. Vielleicht hätten wir nach wenigen Wochen gemerkt, dass die Kluft zwischen uns tatsächlich unüberbrückbar war. Vielleicht aber hätten wir auch ganz anderes entdeckt, wer weiß.
Ich glaube, ich denke zurzeit so oft an ihn, weil mir die Erinnerung an diese Begegnung zeigt, wann in meinem Leben ich total falsch abgebogen bin. Das hat gar nicht so sehr etwas mit diesem einen Mann zu tun. Vielmehr geht es darum, dass ich eigentlich nur Angst vor der Ernsthaftigkeit seiner Werbung hatte, davor, große Gefühle zu zeigen, die mit großen Konsequenzen verbunden waren. Es war für mich leichter, mich auf einen Taugenichts einzulassen, der nur Luftschlösser zu bieten hatte, als auf einen realen Mann mit echter Villa. Was mich allerdings am meisten daran schockiert: Ich fürchte, ich würde heute auch wieder davon laufen.
Das war eine Woche im Ausnahmezustand. Fast wie in alten Zeiten kribbelte und prickelte es, schwirrte und surrte um mich herum – und auch in mir drin, ich gebe es zu. Ich habe mich wieder mal in die Niederungen des Online-Flirts begeben, war mir für nichts zu schade, habe nächtelang geduldig die idiotischsten Anfragen beantwortet, freche Mailwechsel gehabt und mich berauscht am Witz und Temperament mancher Herren da draußen. Doch, ja, ich bin immer wieder überrascht, wie viele von ihnen es verstehen, verbal zu spielen, mit Worten zu locken und zu werben, neugierig zu machen, mich zum Lachen zu bringen und mein Herz hüpfen zu lassen.
Freilich sollte ich mittlerweile alt genug sein, um zu wissen, dass dieses Online-Flirten eine Kunstform ist, die mit dem realen Leben absolut nichts zu tun hat. So folgten – wenig überraschend - die Bruchlandungen Schlag auf Schlag. Ein Mann brach den Kontakt mitten im Satz ab, als er mein Foto sah, ein anderer log so plump und durchschaubar, dass ich nur den Kopf schütteln konnte, ein dritter wollte sofort zu mir nach Hause kommen, nachdem wir zehn Worte gewechselt hatten, ein vierter verabredete sich mit mir zu Kaffee und mehr – und versetzte mich dann auf unverzeihliche Weise.
Heute Abend fühle ich mich sehr geerdet und sehr müde. Nach all dem Geschnatter und Gegacker bin ich wieder ernüchtert. Ich merke, dass es in meinem Alter albern und idiotisch ist, bei Minusgraden mit viel zu dünnem Fummel frierend herum zu rennen, um wildfremde Kerle zu beeindrucken, die mich eigentlich überhaupt nicht interessieren. Die fiese Spiele spielen und sich für den Nabel der Welt halten, in Wahrheit aber bloß Windeier sind, die ich nicht brauche – nicht mehr brauche.
Ich sitze daher gemütlich auf meinem Sofa, in Wollsocken und Jogginghose, ohne das Bedürfnis, irgendwen beeindrucken zu wollen. Gerade rechtzeitig fiel mir wieder ein, dass dieser Zirkus da draußen absolut nichts bedeutet, und ich sinke erleichtert in mich zusammen, dankbar, dass ich heute endlich mal wieder zu zivilisierten Zeiten ins Bett gehen kann.
Vielleicht liegt das aber auch nur daran, dass der Vollmond vorbei ist.
„Findest du Humor in einer Beziehung eigentlich wichtig?“
„Ja, natürlich, extrem wichtig. Wieso? Hast du dich mit einer Frau zusammengetan, die total humorlos ist?“
„Ähm … na jaaa … wir verstehen uns super gut, haben ganz viele Gemeinsamkeiten. Aber mir fällt auf, dass wir kaum zusammen lachen.“
„Dann solltest du sie vergessen. Eine Beziehung ohne Lachen ist fast so tot wie eine Beziehung ohne Sex. Ah – Humor beim Sex ist übrigens auch sehr wichtig.“
„Beim Sex???“
„Ja, klar. Oder nimmst du da etwa immer alles bierernst?“
„Äh ...“
„Mit dir möchte ich aber auch nicht in der Kiste landen.“
„ …“
Ich rieche so wahnsinnig gut, sagt er, das sei ihm schon bei unserem allerersten Treffen aufgefallen. Es sieht so aus, als wolle er noch etwas sagen, aber er wendet den Kopf ab und schweigt. Er ist an mir interessiert. Das kapiere sogar ich, die in solchen Dingen in den vergangenen Jahren komplett blind geworden ist.
„Stimmt, ich habe dich noch nie nackt gesehen“, sagt er kurz darauf, als ich feststelle, dass wir uns seltsamerweise immer nur an lausig kalten Wintertagen treffen. Ich lache nervös und mir schießen tausend Erwiderungen durch den Kopf, aber am Ende sage ich irgendwas Belangloses, Unverfängliches.
Später, zuhause, lasse ich mir das mit der Nacktheit durch den Kopf gehen. Ich stelle mir vor, wie das wäre, wenn er mich wirklich nackt sehen würde. Unbehagen beschleicht mich, das ich nicht richtig einordnen kann.
Dann erinnere ich mich an all unsere Gespräche. Sie waren immer intensiv, immer sehr offen, egal ob es um Berufliches oder Privates ging. Manchmal war ich hinterher total erschöpft und hatte das Gefühl, dass er mich komplett ausgezogen, bis auf die tiefsten Gründe meiner Seele entblättert hatte. Ich weiß nicht, wie er das macht, und es ärgert mich, weil ich mir dabei so klein und hilflos vorkomme. Es liegt nicht an den Dingen, die ich ihm erzähle. Manche Menschen erfahren viel, viel mehr von mir – aber das geschieht in einem deutlich entspannteren Rahmen, ja, ich dränge mich ihnen gelegentlich fast auf mit meinen abgründigen Geschichten. Bei ihm ist das anders. Ich sitze wie ein Schulmädchen vor ihm, das vom Lehrer nach seinen Hausaufgaben gefragt wird.
Wieder beschleicht mich Unbehagen, diesmal aus anderen Gründen.
Ich schreibe ihm, dass ich mich sehr wohl schon vor ihm ausgezogen habe, im übertragenen Sinne, und dass ich mich frage, welche Nacktheit eigentlich schwerer wiegt, die körperliche oder seelische. Vermutlich die, bei der man sich verletzlicher fühlt, antwortet er.
Das seelische Entblättern ist für mich ihm gegenüber eine Qual, gemessen daran scheint das körperliche kinderleicht zu sein. Ich habe mich oft genug in meinem Leben vor einem Mann ausgezogen, das ist keine große Sache, warum sollte das bei ihm anders sein?
Dann betrachte ich mich eingehend im Spiegel. Und ich fange an zu rechnen. Geradezu schockiert erkenne ich, wie lange es her ist, seit ich mich das letzte Mal vor einem fremden Mann ausgezogen habe. Und auch mein letzter Sex scheint in der Steinzeit stattgefunden zu haben. Trug man damals nicht noch Dauerwelle und war Elvis in den Top Ten? Das an sich wäre vielleicht noch gar nicht so schlimm. Gewisse Dinge verlernt man schon nicht, das ist wie beim Fahrradfahren, hoffe ich wenigstens.
Aber etwas Grundlegendes hat sich seit damals verändert. Ich bin ein beachtliches Stück gealtert, körperlich jedenfalls. Ich habe an den unpassendsten Stellen zugenommen, und zwar nicht zu knapp. Ich habe eine Menge Falten, noch mehr Cellulite und erste Ansätze zum Doppelkinn bekommen. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag, dass es kein großer Unterschied ist, ob man mit 25 eine Affäre beginnt oder mit 35. Wenn man aber schon jenseits der 40 ist, dann verändern sich gewisse Dinge dramatisch, jedenfalls bei Frauen. Zwischen Mitte dreißig und Mitte vierzig passiert etwas. Mir ist schon oft aufgefallen, dass ich auf der Straße von Männern nicht mehr so angeschaut werde wie früher. In der Single-Börse hatte ich kaum Kontaktanfragen. Und ich selbst habe angefangen, meinen Körper zu ignorieren, weil das, was ich fühle und im Spiegel sehe, nichts mehr mit der Frau zu tun zu haben scheint, die ich jahrzehntelang war.
Auf einmal wird mir klar, dass ich fast mehr Angst habe als damals vor Jahrzehnten, vor meinem allerersten Mal. Die Vorstellung, diesen Altweiberkörper einem Mann zu präsentieren, ist gruselig für mich. Verwundert und erschrocken erkenne ich, dass meine Unbekümmertheit, mein Selbstbewusstsein in den letzten Jahren, zusammen mit dem durchtrainierten, straffen Körper einer jungen Frau, völlig verschwunden sind. Verängstigt verkrieche ich mich wieder und beschließe, dass mir weder körperlicher noch seelischer Striptease im Moment gut tut. Beides lässt mich verletzlich werden, und Verletzungen wurden mir genug zugefügt, da reicht mein Vorrat noch für Jahre.
Ein lautes, langanhaltendes Tuten reißt mich aus dem unruhigen und nicht sehr tiefen Schlaf. Vermutlich verlässt gerade ein Kreuzfahrtschiff den Hafen und bringt seine Passagiere hinaus in die Welt. Ich lausche dem Tuten, das immer leiser wird, lausche dem Rasen meines Herzens, meinem Atem. Hellwach bin ich auf einmal, und voller Panik. Ich wünschte, ich wäre auch auf so einem Schiff und könnte weit, weit weg fahren, mein ganzes Leben hinter mir lassen, und mich selbst am besten gleich mit. Ich glaube, im falschen Leben zu stecken, die falschen Dinge zu tun, die falschen Gefühle zu haben.
Die Existenzangst zerfrisst mich, die Einsamkeit lässt mich verzweifeln. Ich habe nur noch einen Gedanken: Ich schaffe das nicht! Ich schaffe es nicht, beruflich wieder Fuß zu fassen. Ich schaffe es nicht, mein Leben dauerhaft alleine zu bewältigen. Ich schaffe es nicht, all meine Alltagssorgen und -nöte ohne Unterstützung zu meistern. Raus möchte ich aus diesem Gefängnis aus Angst und Isolation. Aber da ist nirgendwo ein Ausgang. Ich drehe mich immer nur um mich selbst, bis ich völlig erschöpft bin. Das, was mir Spaß macht, was mich glücklich macht, kann ich nicht tun, weil meine ganze Kraft ins Geldverdienen geht. Und trotzdem komme ich kaum über die Runden. Am Ende einer harten Arbeitswoche bleibt keine Energie mehr für Freunde, für Lachen, für Liebe. Das ist es, was mich besonders schmerzt. Früher bin ich wenigstens viel ausgegangen - Kultur, Partys, Dates, hübsche und weniger hübsche Affären, ich fühlte mich lebendig, begehrt und geliebt. Das ist lange vorbei. Heute komme ich mir wie so ein altes Weib vor, das niemand mehr haben will, dem kein Mann mehr hinterher schaut. Manchmal fühle ich mich selbst schon nicht mehr als Frau, sondern mehr wie so eine Art Neutrum, ein Wesen jenseits von allem Lebendigen. Ich denke kaum darüber nach, was ich anziehe und laufe in uralten Jeans und Turnschuhen rum. Egal. Sieht mich doch eh keiner. Für die meisten Jobs bin ich zu alt. Für die Singlebörsen auch. Frauen in meinem Alter gelten dort als schwer vermittelbar. Ich hab's gemerkt und mich wieder abgemeldet.
Was nun? Tränen schießen mir in die Augen und ich bemitleide mich eine Weile selbst, suhle mich in diesem grauenvoll schmerzhaften Einsamkeitsgefühl und der Verzweiflung über mein permanentes Scheitern. Es ist einfach bitter, dass sich gewisse Dinge nie ändern, von Jahr zu Jahr gleich bleiben. Es tut weh, zu sehen, wie Paare miteinander reifen und wachsen, während ich meine einsamen Kämpfe ausfechte, als sei ich immer noch 25. Auch der berufliche Erfolg anderer schmerzt, und verzweifelt frage ich mich, was an mir so verkehrt ist, warum alles schief läuft und ich schon mein halbes Leben lang auf der Stellte trete.
Draußen ist es still geworden. Das Kreuzfahrtschiff erreicht vermutlich bald die Nordsee und erobert die Weiten des Meeres. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und hoffe, die finsteren Dämonen schnell wieder zu vertreiben. Ich kann es mir nicht leisten, lange schwach zu sein. Wer Single ist und noch dazu selbständig, darf keine Angst haben, sonst geht er unter. Das Problem ist nur: Ich war mein Leben lang ein riesengroßer Angsthase. Darum klappt ja bei mir auch vieles nicht so leicht und so schnell wie bei anderen Leuten. Darum habe ich oft Albträume und Rückenschmerzen und kriege gelegentlich nächtliche Panikanfälle. Trotzdem mache ich weiter. Was bleibt mir auch anderes übrig?
Er hat eine andere. Es sei nicht die große Liebe, sagt er, aber immerhin. Selten hat mich ja wohl meine weibliche Intuition so im Stich gelassen wie in den letzten Wochen. Na gut, jetzt habe ich wenigstens Klarheit. Das Gute daran: Ich erfuhr von der anderen Frau, bevor ich mich bis auf die Knochen blamiert habe. Ich hatte mir fest vorgenommen, heute mit ihm zu reden. Aber als hätte er es geahnt, fing er aus heiterem Himmel an, von ihr zu sprechen. Das Eigenartige: Es tat nicht eine Sekunde lang weh. Ich war verblüfft, verwirrt, dann gab es einen winzigen Moment der Leere - und dann fühlte ich mich nur noch erleichtert. Endlich habe ich Klarheit. Endlich geht alles wieder in geordneten Bahnen seinen Weg.
Jetzt sitze ich hier und staune darüber, wie meine Fantasie derartige Purzelbäume schlagen, wie ich mich selbst so verrückt machen konnte. Eigentlich war unser Verhältnis doch immer wunderbar, es brauchte nicht mehr. Warum wollte ich das auf einmal unbedingt ändern? Von dem Moment an, wo die Fakten auf dem Tisch lagen, entspannte ich mich endlich wieder. Wir konnten so befreit erzählen und lachen wie lange nicht mehr. Ich kann es selbst kaum glauben. Jetzt sind wir wieder einfach nur gute Freunde. Was bin ich froh!
Zum Abschied schenkte er mir ein Gimmick, in dem sich ein Frosch in einen Prinzen verwandelt. Ob er doch was gemerkt hat?