Schlafzimmer
Ich habe ein Date mit einem unbekannten Mann. Wieder mal. Wir schreiben uns sehr anregende Mails, aber als es ernst wird, schrecke ich immer wieder zurück. Irgendwas gefällt mir nicht. Der Mann will mich unbedingt gleich beim ersten Mal zuhause treffen. Als ich ablehne, reagiert er genervt – nicht gerade sehr vertrauensfördernd. Ich ziehe mich erst mal zurück.
Dann siegt irgendwann doch die Neugier. Seine erotischen Wünsche und Sehnsüchte decken sich gut mit meinen. Vielleicht haben wir doch Spaß miteinander. Am Tag des Dates ist meine Lust allerdings im Keller. Wieder plagen mich Zweifel, wieder möchte ich absagen, und tue es dann doch nicht. Nur widerwillig fahre ich zum verabredeten Ort.
Der Mann sieht genauso aus wie auf dem Foto, das finde ich beruhigend. Wir gehen spazieren, sind schnell im Gespräch, erzählen viel. Er ist offen, freundlich, gefühlvoll. Ganz anders als in seinen letzten Mails, in denen er mich so bedrängt hat. Das gefällt mir.
Als er fragt, ob ich auf ein Glas Wein mit zu ihm nach Hause kommen mag, sage ich ohne zu zögern ja. Meine Bedenken sind weg. Wir werden einen gemütlichen Abend haben, da bin ich mir jetzt sicher.
Und so ist es auch. Wir sitzen entspannt auf seinem Sofa, leeren gemeinsam eine Flasche Wein und reden über Beziehungen, Kinder, Politik. Ich fühle mich wohl, mag seine Sicht auf die Dinge, seine Wohnung, alles, was ihn auf den ersten, schnellen Blick ausmacht. Es wird immer später, wir legen beide die Füße hoch, rücken näher zueinander.
„Werden wir heute eigentlich noch Sex haben?“, fragt er irgendwann.
Seine offene, direkte Art gefällt mir. Trotzdem zögere ich diesmal. So wohl ich mich fühle, so wenig Lust habe ich.
„Ich weiß es nicht“, sage ich wahrheitsgemäß.
„Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht“, entgegnet er.
Prickelnde Leidenschaft sieht ja wohl anders aus.
„Wir können ja mal mit Knutschen anfangen“, schlägt er vor.
Wir rücken noch näher zusammen, küssen uns. Er küsst gut, aber ohne Leidenschaft. Mir geht es genauso. Es fehlt etwas. Wir sollten aufhören, denke ich, aber wir machen weiter. Warum, weiß kein Mensch.
Wir wechseln ins Schlafzimmer. So gemütlich, wie wir angefangen haben, machen wir weiter. Wir massieren uns gegenseitig den Rücken, kuscheln, knutschen. Das ist alles sehr vertraut, als würden wir uns schon ewig kennen. Ich fühle mich nicht fremd in seinem Bett, aber ich bin auch nicht sonderlich erregt. Der Sex verläuft schnell und unspektakulär. Ich finde ihn zwar nicht unangenehm, aber auch nicht aufregend. Das hätten wir uns komplett schenken können.
Hinterher liegen wir noch lange beieinander. Kuscheln mit ihm geht gut. Ich kann seine Nähe aushalten und fühle mich wohl mit ihm. Wir waren viel zu schnell, denke ich voller Bedauern. Wir hätten uns erst mal richtig kennenlernen sollen, das wäre gut gewesen. Reden. Sich näher kommen. Spannung aufbauen. Und irgendwann, beim vierten oder fünften Date vielleicht auch mal Sex. Dann wäre es vielleicht was geworden. So aber bleibt ein derart fader Nachgeschmack, dass wir kaum noch mal die Kurve kriegen werden.
Wir schreiben uns hinterher sehr nette Mails, versichern einander, wie schön der Abend war, fügen aber auch beide an, dass wir nicht sicher sind, ob wir an einer Fortsetzung interessiert sind. Er meldet sich anschließend nicht mehr. Ich mich auch nicht.
Etwas in mir hat sich verändert. Mein Interesse an fremden Männern ist komplett erloschen. Mich nervt das zu sehr. Diese schnellen, kurzen Abenteuer sind nicht mehr mein Ding. Was ich früher mal aufregend fand, ist mir jetzt nur noch lästig. Aufbrezeln, Small-Talk halten, raus aus den Klamotten, rein in die Kiste – für was? Für ein bisschen Körpernähe und vielleicht ein wenig Lust? Das ist es mir nicht wert. Nicht mehr wert. Ich lege mein Profil in der Flirtbörse, in der ich den Mann kennengelernt habe, still. Mein Bedarf an Abenteuern ist gestillt. Ich glaube, für diese Art der Kontaktaufnahme bin ich echt inzwischen zu alt.
Ich habe so viel an mir gearbeitet und denke, dass sich das doch irgendwann mal auszahlen muss, dass ich es schaffen muss, die Schatten der Vergangenheit loszulassen. Aber so leicht ist das nicht. Es gibt Situationen, in denen klappt es schon sehr gut. Vielleicht, weil die Gespenster da nicht so präsent sind. Wenn ich dem Mann begegne, sind sie jedoch leider immer noch alle da. Meine Gespenster der Vergangenheit, und seine auch. Sie stehen neben uns, zwischen uns, hinter uns, machen Kommunikation mühsam, lassen mich angespannt und unruhig sein, verkrampft und unsicher.
Wir sitzen zusammen auf meinem Sofa, aber zwischen uns befindet sich ein riesengroßer Graben, den ich nicht überwinden kann. Ich möchte so gern, dass er mich so sehen kann, wie ich wirklich bin – mit all der Fröhlichkeit und Leichtigkeit, die ich oft habe, mit dem Geist und Witz, der Unbekümmertheit und Energie, die ich selber spüre, wenn ich mal nicht total vernagelt bin. Stattdessen sitze ich neben ihm wie das Kaninchen vor der Schlange. Wie gelähmt. Leere in Hirn und Herz. Ich hasse mich dafür. Aber das macht es nur noch schlimmer. Er erzählt mir gute Sachen, aber ich höre kaum zu. Er stellt mir Fragen, aber mir fallen die passenden Antworten nicht ein. Meine eigenen Fragen habe ich auch komplett vergessen. Was ist das bloß? Ich war mir so sicher, dass es diesmal besser als sonst gehen würde, dass ich ihm anders begegnen könnte. Immerhin kann ich seine Ratschläge und Tipps annehmen, gehe nicht wie früher in die totale Ablehnung. Vielleicht muss ich das als kleinen Fortschritt werten.
Wir haben uns zum Arbeiten getroffen, und er bleibt die ganze Zeit total geschäftsmäßig. Vielleicht ist es das, was mich so verstört. Diese strikte Trennung zwischen Kopf und Herz, Geist und Körper, die er immer wieder vornimmt. Erst als er schon halb zur Tür raus ist, kommt plötzlich die Lust. Der Abschiedskuss wird inniger als geplant, und schlagartig entspanne ich mich. Sobald wir uns anfassen, sprechen wir eine andere Sprache miteinander. Da spürt er genau, wie es mir geht, und ich spüre, was er braucht. Da müssen wir uns nicht verstellen, muss keiner von uns Angst haben. Auf einmal bin ich ganz bei mir. Und bei ihm.
Der Sex ist leise und zärtlich an diesem Tag. Wir stehen beieinander, berühren uns zart, spüren, genießen, schauen. Ganz unaufgeregt, ganz nah. So innig sind wir noch nie miteinander umgegangen. Die Lust ist eigentlich zweitrangig, es geht um etwas ganz anderes. Wieder stehen wir endlos lange gemeinsam vor meinem Spiegel. Das scheint er neuerdings zu lieben. Mehr denn je denke ich, wie gut wir optisch zusammen passen. Viel besser als ich immer dachte. Wir landen doch noch im Schlafzimmer, obwohl er eigentlich gar keine Zeit mehr hat, längst gehen wollte. Behutsam verwöhne ich ihn, er genießt jede noch so zarte Berührung. Hinterher liegen wir eng umschlungen beieinander. Er schläft kurz ein, hält mich dabei fest im Arm. Ich genieße seine Nähe, seine Wärme.
Warum konnten wir den ganzen Nachmittag nicht halb so einfühlsam miteinander umgehen? Warum kriegen wir das immer nur hin, wenn wir uns auf körperlicher Ebene begegnen? Was ist so schwer daran, miteinander zu reden? Sich auszutauschen? Warum stehen diese elenden Gespenster immer nur zwischen uns, wenn wir uns außerhalb des Bettes bewegen?
Ich dachte, ich hätte das alles längst begriffen. Aber etwas zu verstehen und es auch umsetzen zu können, sind eben doch sehr verschiedene Dinge.
„Ich würde keine Frau von meiner Bettkante schubsen“, pflegt mein Schwager zu sagen. Andere Männer verstehen auch nicht, warum ich gelegentlich über fehlenden Sex klage: „Du musst doch bloß auf die Straße gehen, schon bieten sich dir hundert Gelegenheiten.“ Das sagen sie nicht, um meine (ohnehin nur spärlich vorhandenen) weiblichen Reize zu preisen, sondern um mir klar zu machen, dass jeder Mann, wirklich
jeder mit mir ins Bett gehen würde, wenn ich es nur wollte. Tatsächlich? Sind Männer so?
Die Sache ist nur die: Ich bin nicht so. Ich will nämlich keineswegs mit
jedem Mann ins Bett, ganz im Gegenteil. „Ihr Frauen seid aber auch immer wählerisch“, sagen die Männer dann, und manchmal schwingt dabei ein leicht beleidigter Unterton in ihren Stimmen mit. Nun ja, vermutlich ist das noch so ein evolutionäres Überbleibsel. Während Männer von dem Drang beseelt sind, ihren Samen fleißig über die Welt zu verteilen, schauen Frauen doch noch mal genauer hin, wessen Brut sie da später eigentlich aufziehen sollen.
Ich schaue nicht unbedingt, ich fühle und rieche und schmecke. Und dabei geschehen Dinge, die ich nicht vorhersehen kann. Ob ich Lust auf einen Mann habe, hängt erst mal davon ab, ob er mir sympathisch ist, ob da etwas zwischen uns in Schwingungen gerät. Ob es dann aber im Bett auch passt, ob die Chemie stimmt, das weiß ich erst, wenn es zur Sache geht. Und da erlebe ich immer wieder Überraschungen.
Mit
ihm hat es auf Anhieb geklappt. Dabei hatte ich auf zwischenmenschlicher Ebene zunächst große Mühe mit ihm, fühlte mich unsicher und unwohl und hätte im Leben nicht gedacht, dass ich so viel Lust für diesen Mann empfinden könnte. Aber sobald wir intim werden, sprechen wir eine andere Sprache miteinander. Vom ersten Kuss an fühlte sich alles so vetraut, so richtig an, als hätte ich schon hundertmal mit ihm Sex gehabt. Und je länger wir uns kennen, desto größer werden meine Zuneigung und Leidenschaft für ihn, unabhängig von allen emotionalen Spannungen zwischen uns. Für
ihn war ich auch sofort Feuer und Flamme. Wir kannten uns keine zwei Stunden, als wir bereits Arm in Arm auf meinem Sofa lagen und ich ihn am liebsten nie mehr losgelassen hätte. Er hätte in jener denkwürdigen Nacht alles mit mir machen können, das war Leidenschaft pur.
Er ist mir auch sofort sympathisch. In seiner Nähe fühle ich mich wohl und entspannt. Er ist attraktiv, freundlich, humorvoll, gebildet. Auch bei unserem zweiten Date haben wir uns viel zu erzählen, lachen gemeinsam, gibt es eine Verbindung zwischen uns. Wir gehen bald zu mir nach Hause und machen jede Menge aufregende Dinge miteinander. Zu aufregend vielleicht, mit zu wenig Vorlauf für vertrauensbildende Maßnahmen. Wie auch immer, nach einer Weile geschieht etwas, das mir immer wieder mit Männern passiert: Ich entwickele eine zunehmende körperliche Abneigung gegen ihn. Alles Orale wird mir von Minute zu Minute mehr zuwider, beim Küssen angefangen, von anderen Dingen ganz zu schweigen. Während wir uns so wild durch die Laken wälzen, dass ich fürchte, das Bett werde zusammenkrachen, frage ich mich, wie lange er wohl noch zu bleiben gedenkt. Ich muss die Augen schließen, weil ich ihn nicht anschauen mag, und – das ist mir überhaupt noch nie im Bett passiert – ich denke plötzlich über andere Männer nach.
Die innere Distanz, die zwischen uns entsteht, lässt sich nicht mehr rückgängig machen, so sehr er sich auch um mich bemüht und mir Lust bereitet. So lange ich nichts machen muss, ist alles gut. Aber sobald ich ihn anschauen, berühren, riechen und schmecken soll, ist es vorbei. Nun könnte ich natürlich sagen: Ist doch okay, das muss ja auch alles nicht so intim werden. Und beim ersten Mal läuft eh nicht viel, man braucht einfach Zeit, sich aneinander zu gewöhnen. Darum verabschiede ich ihn auch freundlich. Mit ein, zwei Nächten Abstand werde ich sicher alles anders sehen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Je mehr ich über diesen Abend nachdenke, desto deutlicher spüre ich meine Abneigung, die sich bis zum Ekel steigert. Ich verabschiede mich aus dieser Affäre wieder, bevor sie richtig in Gang kommt.
Ich glaube, das sind tatsächlich pure chemische Prozesse, die dafür verantwortlich sind, irgendwelche Enzyme, Hormone, was weiß ich. Anders kann ich mir nicht erklären, warum ich einem Mann total verfalle, obwohl das Miteinander mit ihm so schwierig und kompliziert ist, dass ich es manchmal leid bin, während ich einen anderen fortschicke, mit dem alles ganz leicht und unkompliziert sein könnte. Es liegt nicht an der Attraktivät dieses Mannes und nicht an der Sympathie, die ich für ihn empfinde, und auch nicht an seinen Talenten als Liebhaber. Wenn die Chemie nicht stimmt, können die Männer sich noch so sehr um mich bemühen, dann geht einfach nichts. Darum würde ich, im Gegensatz zu meinem Schwager, viele Männer von meiner Bettkante schubsen, egal wie bedürftig ich wäre. Mein Körper trifft da Entscheidungen, die mein Kopf nicht beeinflussen kann. Ja, ich bin wirklich sehr wählerisch. Da kann man(n) nichts machen.
Ich habe ein Date. Es ist ein halbes Blind Date – ich weiß kaum was über ihn, wir hatten nur einen sehr kurzen Mailkontakt. Er hat nicht mal ein Foto von mir. „Ich lasse mich gern überraschen“, schreibt er, und das gefällt mir. Handynummern haben wir nicht getauscht, ich gebe meine nie vor solchen Dates raus, und er hat, wie sich später rausstellt, überhaupt kein Handy. So was gibt’s – und es gefällt mir, weil es von einem sehr eigenen Charakter zeugt.
Das ganze Wochenende hänge ich in den Seilen, eine Erkältung bahnt sich an. Am Sonntagmorgen denke ich: Boah, nee, das wird nix, ich fühle mich so krank und erschöpft, dass ich niemanden sehen will. Schon gar nicht einen fremden Mann. Aber dann raffe ich mich abends doch auf, und frisch geduscht fühlt sich alles auch gar nicht mehr so schlecht an.
Ich gehe zur Bushaltestelle und warte. Und warte. Und warte. Irgendwann ist klar, dass hier was nicht stimmt. Aus Gründen, die niemand kennt, kommt der Bus nicht. Nervös schaue ich auf die Uhr. Bis zur Verabredung sind es noch fünfzehn Minuten. Das schaffe ich nicht mehr, egal was ich unternehme. Ich gehe zu Fuß los, in der Hoffnung, bei einer der nächsten Bushaltestellen einen anderen Bus einer anderen Linie zu erwischen. Aber Fehlanzeige. In der Gegenrichtung sind alle möglichen Busse unterwegs, nur in meiner nicht. An einer Haltestelle parkt ein Taxi, doch vom Fahrer ist zunächst nichts zu sehen. Per Taxi zu einem Blind Date? Ich wäge ab. Ist es mir das überhaupt wert? Warum drehe ich nicht um und setze mich mit einem heißen Tee auf mein Sofa. Da gehöre ich doch eigentlich hin. In dem Moment kommt der Taxifahrer aus einem Café, und die Würfel sind gefallen.
„Warum haben Sie denn keine Handynummern getauscht?“, fragt der Taxifahrer erstaunt. „So was muss man doch machen.“ Nein, muss man nicht. „Aber“, beruhigt er mich, “der ist bestimmt noch da.“ Ich schiele auf meine Uhr. Mittlerweile bin ich fast eine halbe Stunde zu spät. „Nein“, sage ich, „der ist weg. ICH wäre jedenfalls weg.“ „Ja, Sie vielleicht, aber kein Mann. Der wartet.“ Ist das so? Warten Männer länger als Frauen? „Er ist weg“, seufze ich, während wir im Schneckentempo durch die Stadt kriechen. Wo kommen all diese Autos her? Am Sonntagabend ist doch sonst nie was auf den Straßen los. „Er wartet“, beharrt der Taxifahrer. „Eine Stunde sollte man immer warten. Es kann doch jederzeit was passieren, das sehen Sie ja jetzt selbst.“ Aber nicht bei einem Blind Date, denke ich, da glaubt man immer gleich, der andere habe es mit der Verabredung nicht so ernst gemeint und einen hängen gelassen. Als ich aussteige, bleibt der Taxifahrer mit seinem Wagen vor dem Café stehen. „Ich will wissen, ob er noch da ist.“
Das Café ist groß und verwinkelt, ich gehe von Raum zu Raum und mustere alle Gäste gespannt. In der letzten Ecke sitzt er. Ich erkenne ihn sofort, obwohl er den Kopf gesenkt hat und in ein Buch vertieft ist. Wir begrüßen uns, als würden wir uns schon ewig kennen. „Sorry, dass du so lange warten musstest“, sage ich. „Wieso?“, fragt er. „Wie spät ist es denn?“ Er hatte sich so in seinem Buch festgelesen, dass er die Zeit völlig vergessen hatte. Das bringen auch nur Männer fertig. Ich springe lachend zum Fenster und winke dem Taxifahrer zu. Er winkt zurück. Alles ist gut!
Und dann erlebe ich einen überraschend schönen Abend.
Er sitzt da auf meinem Sofa, als sei er nie weggewesen. Und doch schaue ich ihn an wie einen Fremden. Irgendwas ist anders, auch anders als all die Male, bei denen wir uns zwischendurch trafen, in Cafés und Kneipen. Ich weiß nicht, was es ist, aber sein überraschender Besuch bringt mich total aus dem Konzept. Er hingegen ist mir sehr zugewandt, liebevoll, zärtlich, mit ungewohnter Fröhlichkeit. Unser letztes Gespräch muss einen Schalter in ihm umgelegt haben. Ich bin sprachlos. Und weiterhin irritiert. Behutsam erwidere ich seine Küsse, taste mich zögernd vorwärts. Es ist ein bisschen wie beim ersten Mal, nur dass ich diesmal nicht so aufgeregt bin. Trotz allem ist da schließlich eine große Vertrautheit. Wir schauen uns im Spiegel an, eng umschlungen stehen wir da, er berührt mich zärtlich und beobachtet meine Reaktionen. Überrascht stelle ich fest, wie gut wir zusammenpassen, viel besser als ich immer dachte. Der Sex ist intensiv und wild, wir umklammern einander wie Ertrinkende, immer enger, immer fester, schmerzhaft. Zwischendrin reden wir, leicht und ungezwungen, ich bin dabei viel entspannter als früher. Und doch fehlt etwas. Die Monate währende Kluft zwischen uns haben wir überwunden, aber ein kleiner, feiner Riss ist zurückgeblieben. Die Leichtigkeit und Unbekümmertheit aus früheren Tagen habe ich nicht mehr, und als er von seinen anderen Frauen erzählt, bin ich eifersüchtig. Wie immer geht er irgendwann nach Hause, und ich liege die halbe Nacht wach und spüre ihm nach. Am nächsten Tag bin ich nicht satt und ausgeglichen wie früher immer, sondern einfach nur leer.
Wir sitzen zusammen bei Pasta, Wein und Sekt. Es ist ein entspannter, gemütlicher Abend unter Frauen. Das Gespräch dreht sich bald nur noch um Männer. Je länger wir reden, desto intimer werden die Themen. „Ich hab da mal ne Frage“, sagt meine Freundin, und ich antworte scherzhaft: „Also, mit den Bienen und den Blumen ist das folgendermaßen ...“. Aber dann sind wir plötzlich mittendrin im sehr Privaten. Welche Techniken magst du? Stehst du auf Analsex? Und wie geht das, ohne dass es wehtut und unangenehm ist? Ich versuche, die Sache mit den dominanten Männern zu erklären. „Mit denen macht Sex einfach viel mehr Spaß, weil es ihnen nie nur darum geht, ihre eigene Lust zu befriedigen. Ich als Frau stehe im Mittelpunkt, alles dreht sich um mich. Da wird Sex zum Ereignis, das ist toll.“ Meine Freundin schaut mich zweifelnd an. Ich hole noch mal aus, versuche es deutlicher. „Es ist ein Spiel, das nur bei großem gegenseitigem Vertrauen funktioniert. Dadurch wird es automatisch sehr intim. Das ist wohl das Besondere.“ Ich weiß, viele Frauen setzen Dominanz gleich mit Unterdrückung, mit brutalem Machogehabe. Dabei ist es genau das Gegenteil. Aber es ist schwer, das begreiflich zu machen, man muss es wohl einfach fühlen. Wir trinken noch mehr Wein und reden und reden. „Sprichst du häufiger so offen über Sex?“, fragt meine Freundin. Nein, das tue ich nicht. Gelegentlich schreibe ich anonym im Internet darüber. Aber drüber reden, meine privatesten Neigungen preisgeben? Das kommt sehr selten vor. Und auch nur, wenn ich weiß, dass die Andere ähnlich tickt wie ich. Oder schlichtweg den Mut findet, zu fragen.
„Ich habe Angst, dass du mich übersiehst und vergisst.“ „Das kann gar nicht passieren. Ich kann dich überhaupt nicht mehr vergessen.“ Das klingt wie eine kleine Liebeserklärung, aber natürlich darf es nicht so genannt werden, das würde uns beide nur noch nervöser machen, genauso, wie man das Ganze nicht Beziehung nennen darf. Wir sind lediglich von einer unverbindlichen in eine verbindliche Affäre geglitten, das ist alles. Und doch berühren mich seine Worte sehr. Vor allem aber trösten und beruhigen sie mich.
Vorangegangen ist eine kleine Auseinandersetzung, die, wie die meisten zwischenmenschlichen Konflikte, auf einem Missverständnis beruht. Er fürchtete, ich wolle ihn vereinnahmen (was gar nicht der Fall war) und zog sich etwas zurück. Daraufhin fürchtete ich, er werde mir abhanden kommen (was er gar nicht vorhatte), wurde missgelaunt und fordernd. Wir steckten fest. Doch irgendwie schafften wir zwei Angsthasen es, offen miteinander zu sprechen. Hinterher waren wir beide total erschöpft, aber zufrieden. „Wir führen hier ja Gespräche wie in einer richtigen Beziehung“, sagt er. „Das wollte ich doch gar nicht. Aber wer weiß, wozu es gut ist.“
Ich glaube ja, dass Menschen einander nicht zufällig begegnen, sondern dass wir alle voneinander lernen. Was er durch mich lernt, weiß ich nicht. Aber ich weiß, was ich von ihm lerne: Loslassen und Vertrauen haben. Das ist mein Lebensthema, und ich scheitere immer wieder daran. Jetzt setze ich mich zum ersten Mal bewusst damit auseinander. Dieser Mann kommt mir dabei wie ein Geschenk des Himmels vor. Hochsensibel reagiert er unmittelbar auf alles, was ich sage und tue. Er ruft garantiert immer dann an, wenn ich am wenigsten damit rechne und so richtig gar nicht an ihn denke. Weihnachten zum Beispiel. Aber wehe, ich sehne ihn herbei. Dann ist wochenlang Funkstille, als würde er genau spüren, was ich denke. „Du kriegst alles, was ich geben kann“, sagt er, aber sobald ich den leisesten Druck ausübe, kriege ich gar nichts. Das verwirrt mich und macht mich nervös. Ständig habe ich das Gefühl, etwas falsch zu machen, und manchmal denke ich, dass das alles diese Anstrengung nicht wert ist.
Dabei ist es in Wahrheit überhaupt nicht anstrengend, sondern eigentlich wunderbar bequem. Ich muss nicht mehr strampeln und kämpfen, mich nicht wer weiß wie anstrengen, aus Angst, nur gemocht zu werden, wenn ich die Beste bin. Eigentlich muss ich einfach nur ich sein. Dann bin ich nämlich total entspannt, ganz bei mir und lasse alles andere los. Und prompt werde ich reich beschenkt mit Zuneigung, Leidenschaft, Zärtlichkeit, Fürsorge. Leichter geht es doch gar nicht. Was kann das Leben einfach sein. Theoretisch jedenfalls.
Ich habe mich verirrt im Dickicht meiner Gefühle, stecke fest zwischen Aufregung, Angst und Freude. Es ist so anders als alles andere, so fremd, so neu, so ungewohnt. Kein lauter Knall, der mich um den Verstand bringt, kein „Wow!“, das mir die Schuhe auszieht, wie bei
ihm. Vielmehr ist es ein leises, zaghaftes Vorwärtsgehen. Anfangs habe ich die Signale gar nicht verstanden. Und auch jetzt bin ich nicht sicher, ob ich alles richtig deute. Er ist sehr verschlossen, behält seine Gefühle ganz für sich und öffnet sich nur millimeterweise. Ich habe seltsamerweise alle Zeit der Welt, dränge nicht, fordere nicht, sondern warte einfach ab.
„Ich telefoniere nicht gern“, hat er vor langer Zeit mal gesagt. Also nahmen wir immer nur Kontakt per Mail auf. Bis er irgendwann doch anrief, um irgendwas zu klären, das am Telefon schneller ging. Und dann wieder. Und wieder. Mittlerweile ruft er alle paar Tage an, und die Gespräche dauern nicht selten stundenlang. Meistens hat er einen Vorwand für seinen Anruf, damit uns beiden nicht auffällt, dass es völlig egal ist, worüber wir reden. Hauptsache, wir spüren Nähe und Lachen – und Erregung. Viel Erregung. Sehr viel Erregung.
Neulich gab es keinen Vorwand. „Ich denke ganz viel an dich“, sagte er. Einfach so. Ich freue mich riesig darüber, obwohl er vermutlich vor allem an die Erregung denkt, an diese unfassbare Gier, die wir aufeinander verspüren und die nach all der Zeit noch kein bisschen weniger geworden ist, im Gegenteil. Aber irgendwie ist da noch etwas anderes, schwingt zwischen uns mit, unausgesprochen, von uns beiden ängstlich beäugt. Ich sehe ihn an und denke: Du doch nicht. Und ich schaue noch einmal hin und merke: Doch, genau du!
Auf einmal wünsche ich mir mehr. Ich werde ungeduldig, kann es nicht abwarten, bis sein nächster Anruf kommt, bis wir uns wiedersehen. Und das macht mir Angst. Weil wir so gar nicht zueinander passen. Weil er nicht der Prinz hoch zu Ross ist. Weil mit ihm nichts so wäre, wie ich es mir immer erträumt habe. Vor allem aber, weil jeglicher Druck von mir alles sofort ruinieren würde. „Laufen lassen!“, sage ich mir immer wieder. „Warte einfach ab, dann geschehen die Dinge von selbst.“ Ich fürchte, das ist die schwerste Übung meines Lebens. Wenn ich sie meistere, wird, so glaube ich, sehr vieles richtig gut. Bis dahin kämpfe ich mich weiter durch dieses wirre Dickicht aus Gedanken und Empfindungen und frage mich voller Unruhe, an welcher Stelle meines Lebens ich am Ende herauskomme.
Meine Freundin redet stundenlang auf mich ein, dass ich die Finger von diesem beziehungsgestörten Kerl lassen soll. Er könne sich nie auf mich einlassen, werde immer vor seinen eigenen Ängsten davon rennen, und es sei gut, dass er bereits nach einer Nacht und nicht erst nach ein paar Monaten gegangen sei. So sei der Schaden überschaubar.
Freundin: „Du musst eben wissen, dass dir ein beziehungsgestörter Mann keine Sicherheit bieten kann.“
Ich: „Ich weiß. Das ist ja das Schöne an verlässlichen Männern: Die geben Geborgenheit.“
Freundin: „Ja. Aber dafür haben sie irgendwann keinen Sex mehr. Das willst du doch auch nicht.“
Ich: „Stimmt. Das Tolle an den Chaos-Männern: Der Sex mit ihnen ist gigantisch.“
Freundin: „Eben!“
Ich: „Also soll ich doch … ?“
Freundin: „Wenn ich es mir genau überlege: Ja!“
Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich zu exzessivem, beziehungslosem Sex neigte. Ich hatte eine Affäre nach der nächsten, oft nur für eine Nacht, manches Mal liefen mehrere Geschichten parallel. Das Schizophrene daran: Gleichzeitig war ich in einer der besonders seriösen Singlebörsen angemeldet und auf der Suche nach dem Mann fürs Leben. Ich hatte mit den potenziellen Heiratskandidaten ein Date nach dem nächsten und wurde von Mal zu Mal abgebrühter. Bald kam es mir so vor, als würden die Männer zum Bewerbungsgespräch bei mir antanzen, aufgeregt, voller Hoffnungen, während ich nüchtern wie eine Personalchefin ihre Zeugnisse begutachtete und in sämtlichen Fällen für viel zu schlecht befand. Natürlich. Ich war gar nicht offen für einen Mann, der mich verehrte, der mir sein Herz schenkte und es gut mit mir meinte. Aber das verstand ich damals nicht.
Ich hatte gerade mehrere dramatische Verluste erlitten – Tod meiner Eltern und anderer naher Menschen, Zerbrechen des familiären Gefüges, Scheitern einer Beziehung, Gewalt und Verrat. Mein ganzes Leben war auseinander gebrochen, ich hatte völlig den Boden unter den Füßen verloren, taumelte ziellos durch die Welt, hilflos und überfordert mit Schmerz und Trauer. Der Sex war die einzige Möglichkeit, mich selbst intensiv zu spüren, Lebendigkeit zu fühlen und dabei gleichzeitig alles um mich herum zu vergessen. Die Männer waren dabei bis auf wenige Ausnahmen nur Mittel zum Zweck. Gleichgültig ließ ich sie wieder fallen, wenn ich sie nicht mehr brauchte oder sie meinen Ansprüchen nicht genügten. Ich bin sicher, dass ich einigen sehr weh dabei tat. Aber ich war selbst so voller Schmerz, dass ich mich nicht noch um den Schmerz anderer kümmern konnte.
Das ist lange her. Danach gab es einige Jahre nur noch einen einzigen Mann in meinem Leben (an den ich mich geradezu verzweifelt klammerte, obwohl er mir absolut nichts bieten konnte und wollte) und dann noch länger gar keinen mehr. In dieser Zeit kam ich zur Ruhe. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren fand ich zu mir selbst, ging meinen Bedürfnissen und Sehnsüchten nach, veränderte mich beruflich, setzte mich mit der Vergangenheit auseinander und nahm Abschied von schmerzhaften Gefühlen und Erinnerungen. Trauerarbeit, so erkannte ich, ist wichtig, um vorwärts gehen zu können. Irgendwann war ich so weit, mich auch Männern wieder zu öffnen - auf unverbindliche, leichte Art, für tiefere Gefühle reichte es wohl doch noch nicht.
Bis zum vergangenen Wochenende. Was da passiert ist, begreife ich immer noch nicht. Nur so viel steht fest:
Er und ich sind mit verschiedenen Erwartungen aufeinander zugegangen. Ich suchte tatsächlich Liebe, er aber brauchte wohl nur eine beziehungslose Begegnung – obwohl er in der Singlebörse nicht auf der Suche nach einer Affäre, sondern einer festen Partnerin ist. In dieser Widersprüchlichkeit erinnert er mich sehr an mich selbst. Einerseits ist da die Sehnsucht nach der großen Liebe, nach Nähe, nach Geborgenheit. Andererseits aber steht man sich selbst im Weg mit den eigenen unguten Gefühlen, die sich vor allem in einer riesengroßen, diffusen Angst ausdrücken.
Er mochte mich, das war unübersehbar. Oder war das nur oberflächliche Show, so wie ich früher auch oft unbeabsichtigt eine Intimität vorgegaukelt habe, die ich innerlich nicht wirklich fühlte? Weil ich bloß nett sein wollte, weil ich Lust auf Sex hatte und dafür vorher ein bisschen höflich sein musste? Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich bis jetzt nichts mehr von ihm gehört, und ich gehe davon aus, dass sich daran auch nichts mehr ändern wird. Meine zaghaften Versuche, ihn per SMS zu erreichen, liefen ins Leere. Vermutlich fühlte er sich sogar bedrängt dadurch. Er hat mich abgehakt, so wie ich in der Vergangenheit einen Mann nach dem nächsten abgehakt habe. Dass ich mit wundem Herzen und ganz viel Sehnsucht hier sitze, ist mein Problem, nicht seins. Er denkt vermutlich nicht mal mehr an mich, hat vielleicht sogar schon Kontakt zur nächsten Frau aufgenommen. Meine Enttäuschung, mein Herzweh, meine Fassungslosigkeit ahnt er nicht mal, weil er selbst so zu ist, dass er diese Gefühle für sich selbst vollkommen ausgeblendet hat und gar nicht mehr weiß, wie sich Herzschmerz anfühlt. Vermutlich. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Kann auch sein, dass alles völlig anders ist. Nur eins steht fest: Ich fühle mich sehr, sehr mies.