Liebe Mama,
zehn Jahre sind eine lange Zeit. Vor zehn Jahren habe ich mir mein allererstes Handy gekauft und gelernt, was eine SMS ist. Ich habe mein erstes Notebook gekauft und konnte nun auch zuhause mit einem Modem ins Internet. Dieses Modem machte zwar ziemlich laute Geräusche, aber man musste die Zeit im Netz eh auf einige Minuten begrenzen, weil die Telefonrechnung sonst unbezahlbar wurde. Vor zehn Jahren habe ich beruflich entscheidende Weichen gestellt. Aus heutiger Sicht hätte ich damals eine andere Richtung eingeschlagen, aber wer weiß, eines Tages wird mir vielleicht klar, wozu das alles gut war. Vor zehn Jahren war ich glücklich verliebt und glaubte, das würde ewig so bleiben. Ich dachte, ich würde meinen Liebsten heiraten und mit ihm eine Familie gründen. Dass dann alles ganz anders kam – nun, vielleicht begreife ich irgendwann auch den tieferen Sinn dieser Entwicklungen. Vor zehn Jahren sind wir alle mit viel Krawumm in ein neues Jahrtausend gehüpft und bildeten uns ein, dass sich die Welt nun kolossal verändern würde – ob zum Guten oder Schlechten wusste aber niemand so genau.
Zehn Jahre sind rund ein Viertel meines Lebens. In den vergangenen zehn Jahren habe ich geliebt, gelacht, gelebt. Ich habe meine Leidenschaften ausgelebt, die körperlichen ebenso wie die emotionalen. Ich habe schöne Reisen gemacht, bin viele Kilometer auf kleinen Pferden durch die Wälder geritten, habe Romane geschrieben, mich zur besten Tante aller Zeiten entwickelt, neue Freundschaften geschlossen, die große Liebe gefunden und wieder verloren – mehrfach gleich. Ich habe gehasst, geweint, geflucht, gelitten. Ich habe Falten bekommen und Cellulite und eine Brille. Ich habe Ängste überwunden und neue aufgebaut. Manche meiner Hoffnungen sind zerbrochen, manche Sehnsüchte konnte ich nie stillen. Ich bin vorwärts gegangen, manchmal verzagt, manchmal unsicher, ratlos, orientierungslos. Aber ich bin nie stehen geblieben, obwohl ich oft zurückschaue.
Zehn Jahre bewegtes Leben. Zehn Jahre auf und ab. Vor allem aber: zehn Jahre ohne dich. Heute vor zehn Jahren hast du aufgehört zu atmen, abends um kurz nach sechs. Zehn Jahre ist das her, und doch kommt es mir manchmal erst wie zehn Wochen vor. Es tut mir immer noch weh, dass du so früh gegangen bist, so vieles verpasst hast. Manchmal ärgere ich mich direkt über diese Ungerechtigkeit. Wer denkt sich so einen Mist aus? Wer schickt den Menschen diese fiesen Krankheiten, die sie krepieren lassen wie Ungeziefer? Wer fügt uns so viel Leid und Schmerz zu?
Und ich frage mich, wie es wohl wäre, wenn du noch da wärst. Würdest du mir auch gelegentlich eine SMS oder Mail schicken? Oder wäre deine größte technische Herausforderung weiterhin der Kampf mit meinem Anrufbeantworter? Würdest du dich über meine beruflichen Veränderungen freuen oder nur sorgenvoll den Kopf schütteln? Und diese ganzen Liebhaber, Herzensbrecher, Taugenichtse? Hätte es sie vielleicht nie gegeben, wenn du noch da wärst? Oder hätten wir uns ihretwegen zerstritten? Hättest du deshalb schlaflose Nächte? Oder wärst du im Alter eine gelassene Mutter, die lieber mit ihren Enkeln spielt, statt sich über die Irrungen und Wirrungen im Leben ihrer Tochter aufzuregen?
Ich zünde eine Kerze für dich an und denke darüber nach, wie viel du verpasst hast, wie viel ich verpasst habe, weil du so früh gegangen bist. Es gäbe noch so viel zu sagen. Aber vielleicht ist das gar nicht nötig. Vielleicht weißt du sowieso schon alles. Zehn Jahre. Ein Viertel meines Lebens. Aber ein Fliegenschiss im Universum.
In diesem Sinne lebe wohl – bis irgendwann mal,
Dein Käthchen
Dachboden -
feinstrick - 27. Jan, 16:49
Gestern habe ich erfahren, dass ein Projekt, an dem all meine Träume hingen, endgültig geplatzt ist. Das tat weh. Sehr. Dieses Gefühl von Scheitern und Hoffnungslosigkeit passte wunderbar zu der Stimmung, die mich in den letzten Tagen erfasst hat, während ich krank und schwach auf meinem Sofa herum lag und mich selbst bemitleidete. Prompt kam es mir so vor, als könnte ich nie mehr froh werden in diesem Leben, als hätte sich alle Welt gegen mich verschworen. Warum nur, so fragte ich mich, machen die hinterletzten Trottel ganz groß Karriere, während andere, gute Leute sich erfolglos abrackern und ständig scheitern, so sehr sie sich auch anstrengen?
Am Tiefpunkt des Tages (und überhaupt des ganzen bisherigen Jahres 2010) angelangt, machten mir unabhängig voneinander zwei Leute klar, dass es gilt, trotzdem nicht aufzugeben, durchzuhalten, an sich selbst und die eigenen Talente zu glauben. Und während ich gestern Abend immer wieder dagegen hielt, dass es durchaus auf dieser Welt Menschen gibt, die eben tatsächlich nie Erfolg haben, sondern ganz, ganz böse scheitern, bewegte sich in mir drin doch etwas.
Ich spürte eine Art Trotz aufsteigen, einen grimmigen Widerstand, der keine Lust mehr auf diese Selbstbejammerungstour hatte. Als ich heute Morgen aufstand, war meine erste Maßnahme daher, die Schlabberklamotten, die ich die ganze letzte Woche über auf dem Krankenlager getragen hatte, in die Wäsche zu befördern und mich stattdessen hübsch anzuziehen und zu schminken, als hätte ich einen wichtigen Termin. Dann ging ich spazieren und genoss die wunderschön verschneite Winterlandschaft.
Draußen wurde ich mit viel Ungerechtigkeit konfrontiert, aber auch mit Menschen, die sich engagieren und für eine bessere Welt kämpfen. Das fand ich tröstlich. Zurück daheim wurde ich an den Tod erinnert, daran, dass alles viel schneller und plötzlicher zuende sein kann, als wir alle immer glauben. Und dass Liebe doch wohl eigentlich das Wichtigste im Leben ist. Liebe zu anderen Menschen, zur Natur, aber auch zu uns selbst. Ich glaube, ich bin wieder gesund.
Unterwegs -
feinstrick - 12. Jan, 17:40
- oder Neustart? Das ist hier die Frage.
Ich habe das alte Jahr recht müde und kraftlos beendet. Viele Fragezeichen wogen schwer bis zur totalen Erschöpfung. Kein Wunder, dass diese Erschöpfung mich in den (allerdings sehr zauberhaften) Familienferien krank werden ließ. Im Schneegestöber fuhr ich kurz nach Neujahr wieder heim in die große Stadt, eine dicke Erkältung im Schlepptau. Im Zug schlief ich auf der einstündigen Fahrt mehrmals fast ein. In Hamburg schaffte ich es, kraftlos wie ich war, kaum, meinen Koffer die Treppe an der S-Bahn hoch zu schleppen (Rolltreppe kaputt). Zuhause sank ich erleichtert auf mein Sofa und blieb eine geschlagene Woche fast regungslos darauf liegen.
An den ersten Tagen tat ich nichts außer essen, schlafen und ruhen. Ich lag da, genoss die Stille, bekam meine verquollenen Augen fast nicht auf, hustete mir die Seele aus dem Leib, trank literweise Kräutertee mit Honig und machte - nichts. Der Computer blieb aus. Der Fernseher auch. Der CD-Player ebenfalls die meiste Zeit. Einmal legte ich das
Rilke-Projekt auf. Dabei stellte ich fest, dass ich mir noch nie die Zeit genommen hatte, alle Texte wirklich richtig anzuhören. Ich stellte auch fest, dass es so gut wie nie vorkommt, dass ich still daliege, mich entspanne und selbst in meinem Kopf nicht viel los ist. Nichts arbeitete, ratterte, werkelte vor sich hin. Da war einfach nur eine angenehme, beruhigende Leere.
Gelegentlich schreckte ich auf und mich befiel Panik. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich wollte doch energiegeladen ins neue Jahr starten, die Ärmel aufkrempeln, alle Baustellen gleichzeitig anpacken und möglichst schnell möglichst große Erfolge einfahren. Die Zeit drängt. Stattdessen lag ich da, spielte Sudoku, weil ich selbst zum Lesen keine Lust hatte, und stellte fest, dass der morgendliche Gang zum Arzt oder in die Apotheke zum Abenteuer wurde, von dem ich mich den restlichen Tag erholen musste. Arbeit, Geldverdienen, Karriere rückten in immer weitere Ferne. Ich fluchte leise (laut ging nicht, weil ich keine Stimme mehr hatte) über diesen katastrophalen Fehlstart.
Mittlerweile ist die erste Woche des Jahres rum, ich fühle mich immer noch völlig kraftlos und werde auch in der nächsten Woche sicher nicht voll durchstarten können. Mein Kopf hat seine betriebsame Arbeit allerdings wieder aufgenommen und stellt all die Fragezeichen, die ich schon zum Jahresende hatte, mit neuer Macht und neuem Gewicht in den Raum. Es sind neue Fragezeichen hinzu gekommen, die etwas Beklemmendes haben. Und doch schaffen sie es nicht, mich zu mehr Tempo anzutreiben. Es geht einfach nicht. Selbst die einfachsten Tätigkeiten fordern so viel Energie, dass für größere Arbeiten keine Kraft mehr vorhanden ist.
Ehrlich gesagt genieße ich diese Stille, dieses Nichtstun aber auch. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich nicht getrieben von Sehnsüchten, Lebensgier, existenziellen Ängsten, dieser ewig rastlosen Unruhe, die mich ständig etwas tun lässt, selbst dann, wenn ich gar nichts tue. Ich fürchte nicht, etwas zu verpassen, wenn ich mal tagelang keine Mails lese. Ich schiebe nicht in meinem Kopf sinnvolle und sinnlose Gedanken bis zur Erschöpfung hin und her. Nach jeder noch so kleinen Anstrengung mache ich eine Pause – ohne schlechtes Gewissen, ohne Blick auf die Uhr. Sollte mich diese Erkältung etwa so etwas wie Gelassenheit gelehrt haben? Das wäre ja mal was. Und so gesehen könnte ich diesem schleppenden Jahresbeginn sogar wirklich etwas Gutes abgewinnen.
In diesem Sinne ein gutes Jahr allen da draußen!
Erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man nichts tut. Und wie viel man doch tut, obwohl man eigentlich nichts tun will. Irgendwie gibt es noch eine Menge zu erledigen und zu bedenken, letzte Geschenke zu kaufen, Freunde ein letztes Mal im alten Jahr zu treffen, doch noch ein bisschen zu arbeiten, ein bisschen das neue Jahr zu planen, und einen allerletzten, raschen Blick auf das alte zu werfen, bevor man dann hinüber hüpft, nicht nur in ein neues Jahr, sondern gar in ein neues Jahrzehnt. Immerhin gibt es diesmal keine Weltuntergangsprophezeiungen wie vor zehn Jahren, mal abgesehen von einem gescheiterten Klimagipfel, der dem vielleicht doch recht nahe kommt, aber was haben wir anderes erwartet?
Ich lasse mich träge treiben zwischen all den letzten Dingen, den vielen Erinnerungen an Vergangenes und dem Blick nach vorne. Müde und erschöpft bin ich von einem bunten, bewegten Jahr voller Hochs und Tiefs, voller Hoffnungen und Träume, von denen einige vor allem auf den letzten Metern mit lautem Knall geplatzt sind. Aber ich versuche, die Enttäuschungen zu verdrängen und genieße stattdessen das Plantschen in dampfendem Wasser, während sich am samtigblauen Himmel über mir der Mond immer höher schiebt. Schwerelos treibe ich auf dem Rücken liegend dahin und vergesse alles, was war und was sein wird. Ich könnte ewig hier in diesem kleinen Sprudelbecken liegen, in dem es trotz der frostigen Außentemperatur warm und gemütlich ist, und mich ziellos von den sanften Bewegungen des Wassers mal hierhin, mal dorthin bringen lassen. Ist es nicht egal, wo wir landen, wenn der Weg so entspannend und schön ist?
In den nächsten Wochen werde ich meine Aktivitäten noch weiter runter fahren und auch nicht mehr online sein. Pause auf allen Kanälen. Rechner aus. Telefon aus. Ruhe. So lange und so konsequent hatte ich das ewig nicht mehr. Ob ich es durchhalten werde und wie es mir dabei geht, wird sich zeigen. Aber mein Bedürfnis, ständig verfügbar zu sein, ständig informiert zu sein, geht momentan gegen Null. Es gibt Wichtigeres. Vielleicht tut die Pause auch gut, um endlich mal wieder neue Ideen für gute Geschichten zu haben, um wieder erzählen zu können, schreiben zu können. Das fehlt mir. Und fehlt gleichzeitig nicht. Alles hat seine Zeit, und ich weiß, dass ich sprudeln werde wie ein kleiner Whirlpool, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist. Bis dahin träume und schlafe ich, esse und lese, schwimme und laufe. Leben eben.
Wohnzimmer -
feinstrick - 17. Dez, 12:53
Früher dachte ich, die Trauer um geliebte Menschen würde im Laufe der Jahre verblassen wie die Bilder an längst vergangene Zeiten. Doch ich stelle immer häufiger fest, dass das nicht stimmt. Meine Mutter ist nun seit fast zehn Jahren tot, mein Vater seit neun. Aber weder bleichen die Erinnerungen an die beiden aus, noch verschwindet dieses schmerzhafte Gefühl von Trauer, wenn ich an sie denke. Im Gegenteil, fast scheint es mir so, als würde mir der Verlust erst jetzt richtig bewusst werden. Nach all den Jahren fange ich an zu begreifen, was mir alles genommen wurde, was ich verloren habe, verstehe ich, wie traumatisch das Sterben meiner Eltern war. Jahrelang war ich wie betäubt, habe einfach weitergelebt, vergnügt, lebenshungrig und begierig, mich lebendig zu fühlen und Schmerz und Verzweiflung nicht zu nah an mich heranzulassen. Das war sicher gut so.
Doch ich werde dünnhäutiger. Als ich heute auf dem Friedhof stand, ein Grablicht anzündete und ein Tannengesteck auf die feuchte Erde legte, befiel mich ein fast unerträgliches Gefühl großer Verlassenheit. Während mir die Tränen übers Gesicht liefen, erinnerte ich mich an mein letztes Gespräch mit meiner Mutter, daran, wie sie mir zum Abschied zugewinkt hatte, in einer fast kindlichen Geste. Ich wusste damals nicht, dass sie 24 Stunden später nicht mehr leben würde. Ob sie selbst es ahnte oder sogar fühlte? Überall auf dem Friedhof standen und gingen Menschen umher und gedachten ihrer eigenen Lieben. Ich war nicht alleine mit meinen Tränen, meiner Trauer. Vor der Kapelle spielte ein Posaunenchor. Ich erinnerte mich an die Posaunenchöre meiner Kindheit und musste erneut weinen. War das ein Zeichen von Alterssentimentalität? Oder lag es nur an diesem trüben November, der mit diesem dunklen, regnerischen Totensonntag seinen Höhepunkt erreichte?
Zuhause tröstete ich mich mit einem großen Becher heißer Schokolade mit Schlagsahne. Und mit Erinnerungen. Ich holte meine alten Fotoalben aus dem Schrank und blätterte durch vergilbte Seiten und unscharfe, fehlbelichtete Fotos. Ein wenig bedauere ich es ja, dass es vor dreißig Jahren noch keine digitale Fotografie gab. Ich erinnerte mich an unseren großen Esstisch, an dem wir halbe Tage mit Essen und Reden verbrachten. Ich entdeckte im Regal meiner Mutter eine Vase, die jetzt in meinem eigenen Regal steht. Ich sah meine Geschwister, klein und niedlich, und mich selbst, ebenfalls klein und niedlich. Ich lachte über meine Dauerwellenphase – schick, aber heute natürlich völlig indiskutabel. Ich ging in Gedanken auf Reisen – erst mit meiner ganzen Familie, später mit meiner Schwester, mit Freunden oder ganz alleine. Mit dem Fahrrad durch Skandinavien. Per Interrail durch Großbritannien und Frankreich. Mit dem Flugzeug nach Kreta. Jeder Urlaub endete wieder bei meinen Eltern, auch dann, als ich schon gar nicht mehr bei ihnen wohnte. „Ich vermisse Mamas Essen“, stand irgendwo unter einem Bild. „Ich sehne mich danach, Ostern wieder zuhause bei Mama und Papa zu sein.“ So schön es draußen in der Welt war, irgendwann trieb es mich immer wieder nach Hause.
Das ist auch heute noch so. Nur dass es mich eben in meine eigenen vier Wände zieht, denn ein anderes Zuhause habe ich nicht mehr. Aber ich habe viele reiche Erinnerungen an ein buntes, bewegtes Leben, an intensive Familienzeiten voller Geborgenheit, Lebendigkeit und Liebe. Und dennoch – das vergesse ich bei aller Sentimentalität nie – waren das auch Zeiten voller Konflikte, pubertärem Unwohlsein und dem Gefühl, zu ersticken.
Im Fernsehen rät ein buddhistischer Meister, dass wir mehr im Jetzt leben und achtsam jeden Augenblick wahrnehmen sollen. Lächelnd stelle ich die Fotoalben zurück in den Schrank. Stimmt. Viele Augenblicke meines Lebens habe ich nicht bewusst gelebt, weil ich zu sehr in der Vergangenheit festhing oder schon in die Zukunft schaute. Dennoch möchte ich nicht losgelöst von all meinen Erinnerungen leben. Sie machen schließlich mein Leben aus. Was wäre ich denn ohne sie? Nur ein kleiner Moment im Jetzt? Ein bisschen wenig, finde ich.
Dachboden -
feinstrick - 22. Nov, 21:12