Unterwegs

Montag, 1. Juni 2009

I'm walking

Ich gehe walken – und schäme mich dabei. Ist das nicht ein deutliches Zeichen von Schwäche, das öffentliche Eingestehen, dass ich zu mehr nicht fähig bin? Walken gehen doch übergewichtige ältere Frauen mit Dauerwelle, nicht Leute wie ich, dynamisch, energiegeladen, im besten Alter. Meine Walkingstrecke war früher Teil meiner Joggingstrecke, damals, als ich noch fit war, jeden Monat einen Kilometer weiter lief und nicht bei jedem unsanften Stoß das Gefühl hatte, mir würde gleich die Wirbelsäule brechen. Jetzt verstecke ich meine Augen hinter einer Sonnenbrille, um nicht den erniedrigenden Blicken durchtrainierter, attraktiver junger Männer standhalten zu müssen. Und erst die Schmach, wenn mich x-beinige Frauen flott überholen. Schrecklich!

Dabei weiß ich genau, dass ich lediglich die Schulden dafür zahlen muss, dass ich jahrelang Raubbau mit meinem Körper betrieben habe. Ich bin im Düsenjet durch mein Leben gejagt und habe ignoriert, was das für eine Belastung war. Permanenter beruflicher Stress mit großer Unzufriedenheit, und das über Jahre. Eine Beziehung und Affäre nach der nächsten, von denen manche schön waren und mir gut taten, andere mein Herz zerrissen und meine Seele verletzten. Nächtelanges Chatten und Bloggen, ständig online, ständig präsent sein, immer auf Abruf leben. Große Konflikte, schwere Tragödien, schreckliche Verluste, es ging Schlag auf Schlag. Zehn Jahre lang. Dann zog ich die Notbremse.

Inzwischen bin ich vom Düsenflieger in einen Bummelzug umgestiegen. Mein Leben verläuft so ruhig und friedlich, dass ich es manchmal selbst kaum glauben kann. Freunden habe ich nichts zu erzählen, weil ich nichts erlebe. Es gibt keine Männergeschichten mehr, keine Tragödien, keine skurrilen Anekdoten, keinen Herzschmerz und keine falschen Hoffnungen. Es gibt nur noch mich. Ich orientiere mich beruflich neu, suche meinen Weg und habe das Gefühl, täglich ein Stückchen mehr Klarheit zu finden. Es ist nicht langweilig, dieses stille, ereignislose Leben. Es ist nicht das, was ich bei anderen oft kritisiere: das dumpfe Verharren in einer Situation, die man nicht ändern kann oder will, weil einem die Kraft fehlt. Es ist vielmehr ein ganz leises Bewegen, ein Suchen und Tasten, behutsam, vorsichtig, neugierig. Zum ersten Mal gönne ich mir den Luxus, mich selbst und mein eigenes Leben zu finden, statt dem Leben anderer Leute hinterher zu jagen. Das fühlt sich unfassbar gut an.

Meine Seele spürt bereits die Veränderung. Sie ist nicht mehr so ängstlich und verzagt wie früher. Ich merke, dass ich entspannter bin, gelassener, zufriedener. Das fällt sogar meiner Umgebung auf. Nur mein Körper, der streikt noch. Der hat immer noch den Ballast der Vergangenheit gespeichert, schleppt den Restmüll mit sich herum und erinnert mich täglich daran, dass ich achtsamer mit meinem Leben umgehen muss. So gesehen ist es vielleicht ganz gut, dass mir mein Rücken immer noch weh tut. Der Schmerz ist eine tägliche Warnung an mich selbst, vorsichtig zu sein, nicht wieder in alte Muster zu fallen, mich nicht ausbeuten zu lassen. Darum gehe ich auch weiter tapfer walken. Dieses langsame Tempo passt sowieso viel besser zum Leben im Bummelzug. Es zeigt mir, dass neue Zeiten angebrochen sind, dass ich andere Akzente setze als früher. Nur eins mache ich nicht mit: Ich verwende beim Walken keine Stöcke. So viel Stolz habe ich mir dann doch noch bewahrt.

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Montag, 11. Mai 2009

Glück im Unglück

Manchmal wird einem das Leben einfach aus der Hand genommen, und binnen Sekunden entscheiden andere Mächte über Glück und Unglück. In dem Moment versteht man das gar nicht, sondern man lacht über all den Unsinn, der einem da grade widerfährt. Hinterher aber wird man auf einmal ganz still, ganz nachdenklich, schaut einander an und sieht auch bei den anderen Betroffenen zwischen all dem Schabernack die Dankbarkeit im Blick: „Glück gehabt!“

Ich war mit Freunden auf dem Heimweg von einem gemütlichen Kaffeetrinken. Wir waren in heiterer, fröhlicher Stimmung. An der überirdischen S-Bahnstation Friedrichsberg mussten wir eine Weile auf die Bahn warten, die Verspätung hatte. Auf einmal wurde der Himmel immer dunkler, ein geradezu unheimlich klingendes Rauschen ging durch die hohen Bäume auf der anderen Seite der Gleise, und innerhalb weniger Minuten wurden nicht nur trockene Blütenblätter, sondern auch kleine Zweige von einem plötzlich aufkommenden Sturm auf den Bahnsteig gefegt. Wir flohen in den Windschatten einer Fahrplantafel, so ungemütlich wurde es binnen kürzester Zeit. Als ein kräftiger, feiner Regen einsetzte, kam zum Glück endlich die Bahn, und wir stiegen dankbar ein.
„Wie schön, endlich warm und trocken zu stehen“, sagten wir erleichtert. Der Waggon war voll besetzt, Wir spürten gerade noch dem wohligen Gefühl von Wärme und Windstille nach, da hielt die S-Bahn schon wieder, mitten auf einer Brücke, nur ein kleines Stück hinter dem Bahnhof, den wir soeben verlassen hatten.
„So“, verkündete der Fahrer mit norddeutscher Gelassenheit. „Jetzt sind wir über einen Baum gefahren.“

Irritiertes Gemurmel und vereinzelte Sprüche der Fahrgäste folgten. Keiner konnte die Situation richtig einschätzen. Wir schauten aus den Fenstern. An der Böschung hinter der Brücke stand ein großer Baum, dem es tatsächlich ein Stück aus der Krone gehauen hatte. Auf der anderen Seite der S-Bahn lagen Zweige und Äste verstreut im Gleisbett, ein größerer Ast ragte seitlich unter unserem Waggon heraus. Das sah alles wüst aus, aber nicht dramatisch. Die paar Äste würde man doch schnell beseitigt haben. Der Zugführer meldete sich wieder. Die Feuerwehr sei verständigt, wir müssten uns jedoch sicher auf eine Wartezeit einstellen. Dann ging das Licht aus. Langsam dämmerte uns, dass dieser Zwischenstopp nicht nur zwei, drei Minuten dauern könnte. Aber wir fanden das alles irgendwie nicht weiter tragisch. Ein paar witzige Sprüche flogen durch den Wagen, wir lachten und blickten erheitert in die Runde. Alles schien lustig zu sein, sogar der Güterzug, der auf dem Nachbargleis ungebremst über einige dicke Äste brauste. Das Holz flog durch die Gegend, und wir konnten vermutlich froh sein, dass nicht noch mehr in die Luft ging, denn jemand stellte fest, dass der Zug Gefahrengut transportiert hatte. Aber wir lachten.

Die üblichen gruppendynamischen Prozesse setzten ein. Es bildeten sich Grüppchen, und Menschen kamen miteinander ins Gespräch, die sonst nicht mal zwei Worte miteinander gewechselt hätten. Eine junge Frau engagierte sich lautstark für die Rechte der Raucher, und gemeinsam mit anderen Süchtigen versammelte sie sich schließlich rauchend in der Mitte des Waggons an einem Fenster. Die Nichtraucher schauten irritiert, empört – und dann vor allem amüsiert. Jedenfalls in der Ecke, in der meine Freunde und ich uns niederließen.

„Gut, dass wir vorher alle noch mal auf dem Klo waren“, stellte einer von uns fest. Draußen erschien ein Regenbogen am Himmel, dieses seltsame Unwetter hatte höchstens zehn Minuten gedauert. Pressefotografen tauchten unterhalb der Brücke auf, überall auf den Straßen brausten Feuerwehrwagen entlang, nur zu uns kam erst mal niemand. Der Zugführer hielt uns freundlich und souverän über den Stand der Dinge auf dem Laufenden, meine Sitznachbarn taten ein Übriges, um eine großartige Stimmung zu verbreiten.

Dann kam die Feuerwehr. Der Einsatzleiter sprach zu uns, Feuerwehrmänner gingen durch die Waggons, um sich zu vergewissern, dass es allen Fahrgästen gut ging, es war von schwerem Gerät die Rede, das zum Einsatz kommen müsse, und wir erfuhren, dass dieser kleine Unfall den Zugverkehr auf weiten Strecken der Stadt zum Erliegen gebracht hatte. Wir kamen uns irgendwie wichtig vor. Solche Geschichten erlebten doch sonst immer nur die anderen Leute, oder man las sie am nächsten Tag in der Zeitung. Draußen war schönstes Wetter, dieser Sturm war so weit weg, als hätte es ihn nie gegeben. In anderen Teilen des Waggons schien die Stimmung zu kippen, nicht alle Leute hatten so viel Humor wie wir und gackerten so ausgelassen vor sich hin. Unruhe machte sich breit. Da hieß es zum Glück, wir müssten den Zug alle verlassen.

Eine Leiter wurde an eine offene Tür gestellt. Der Reihe nach kletterten wir alle auf eine Plattform hinter der Brücke. Koffer und Taschen wurden weiter gereicht, die Feuerwehrmänner bildeten eine Kette aus hilfreichen Händen, an denen wir uns festhalten konnten, während wir im Gänsemarsch eine steile, glitschige Böschung hinab zur Straße kletterten. Die Organisation war perfekt, wir dankten den Feuerwehrleuten für ihr umsichtiges und freundliches Handeln, und begaben uns dann, immer noch in sehr heiterer Stimmung, auf den Weg zur nächsten U-Bahn.

Plötzlich wirkte die Welt um uns herum geradezu gespenstisch. Alles war so ruhig und still. Wir hatten soeben anderthalb Stunden festgesteckt, während andere Leute vermutlich kaum etwas von diesem Blitz-Sturm bemerkt hatten. Wir dagegen waren auf einmal in einem komplett anderen Film gelandet, nachdem wir in diese S-Bahn gestiegen waren. Unser Zug hätte auch entgleisen können. Oder der Güterzug mit seiner gefährlichen Fracht. Nicht auszudenken. Auf einmal wurden wir alle ganz still, und der Schreck fuhr uns nachträglich in die Glieder. Ein heiteres Kaffeetrinken hätte sehr tragisch enden können. Und keiner von uns hätte auch nur das Geringste dagegen tun können. Über Glück und Unglück entscheiden manchmal eben nur Sekunden. Oder höhere Mächte. Das Schicksal. Kismet. Wie auch immer.

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Freitag, 23. Januar 2009

Promiglotzen

Ich habe heute Tim Bergmann tief in die Augen gesehen. Nicht im Fernsehen, sondern ganz in echt, im Supermarkt hier im Viertel. Das lag nur daran, dass eine Familie so dümmlich grinste, erst die Mutter, dann der Vater, der sich nicht entblödete, sich noch mal umzudrehen, dann die Tochter, die nicht grinste und nur starrte, vermutlich, weil sie gar nicht wusste, wer Tim Bergmann ist. Ich ging an den Dreien vorbei, fragte mich, wo die eigentlich hinglotzten, dachte noch, dass der Mann, den ich da rechts überholte, von hinten entfernte Ähnlichkeit mit Tim Bergmann hatte und sie den wahrscheinlich anstarrten, dass ich aber diesen Fehler nicht machen würde. Promis anzuglotzen ist nun wirklich nicht mein Ding. Mitten im Gang blieb ich stehen, um meine Gedanken zu sortieren. Joghurt, Mozzarella, Nudeln, Knoblauch – irgendwas fehlte, aber mir fiel nicht ein, was. Ich musterte die Waren in meinem Korb und überlegte. Crème Fraiche könnte ich noch holen, aber eigentlich brauchte ich die für meine Rezepte nicht wirklich, die vergammelte bloß wieder im Kühlschrank. Chips? Nee, von dem Zeug aß ich in letzter Zeit viel zu viel. Also drehte ich mich entschlossen Richtung Kasse um. Und da stand er tatsächlich, Tim Bergmann, in der Obstabteilung neben den Zitrusfrüchten und - er sah mich an. Ja, tatsächlich, er sah zu mir herüber, direkt in meine Augen, die unter einer dicken, schwarzen Wollmütze hervorlugten. Für den Bruchteil einer Sekunde schien sich niemand mehr in diesem Laden zu bewegen, einschließlich mir selbst. Dann grinste ich schief. Tim Bergmann hielt mich vermutlich für total dämlich. Er ist nicht nur sehr attraktiv, sondern auch ziemlich groß, und neben ihm stand eine ebenfalls ziemlich große Frau, vermutlich seine Freundin. Oder ist er verheiratet? Ich bin nicht so genau über das Leben von Tim Bergmann informiert. Jedenfalls dachte er sicher, ich hätte so lange in diesem Gang rumgestanden und vor mich hingestarrt, weil ich überlegte, wer er ist, und als es mir wieder eingefallen war, drehte ich mich um, damit ich ihn genauso anglotzen konnte wie zuvor diese Familie. So war es zwar nicht gewesen, aber das konnte ich natürlich schlecht erklären. Also bog ich rasch nach links ab, bevor ich in Tim Bergmanns Gesicht lesen würde, wie blöd er mich fand. Dabei war er es doch genau genommen, der mich so unverblümt und durchdringend angesehen hatte, ich erwiderte den Blick lediglich. Fast war ich geneigt, zu sagen: „Was starren Sie denn so? Haben Sie nichts Besseres zu tun?“

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Montag, 29. Dezember 2008

Finde den Fehler

Auf der Straße: "Mama, ich hab eine EC-Geldkarte gefunden." "Dann musst du mal gucken, ob da noch was drauf ist."

Im Radio: "Ich wünsche mir diesen Song für meine erste große Liebe und meine Frau."

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Dienstag, 11. November 2008

Mondsüchtig

Während ich vorhin fröhlich, entspannt und vor allem sehr, sehr wach mit einem Freund durch die abendliche Stadt bummelte, fühlte ich mich an Mondsüchtig erinnert, diesen zauberhaften Film (dessen Plakat jahrelang in meinem Büro hing) mit Cher und Nicolas Cage. Damals waren auch alle durch den Vollmond etwas aus der Spur geraten und verbrachten schlaflose Nächte mit allerlei Unsinn und verwirrten Herzen. Mein Herz ist alles andere als verwirrt und Unsinn veranstalte ich leider auch nicht. Vielmehr sitze ich in meinem Bett, obwohl ich das Bedürfnis habe, Bäume auszureißen oder wenigstens tanzen zu gehen. Aber in meinem langweiligen Freundeskreis findet sich natürlich niemand, der mitten in der Woche mit mir auf die Piste geht. Da findet sich nicht mal jemand, der das am Wochenende täte. Ich sollte vielleicht meinen Umgang mal etwas überdenken. Das war doch früher alles ganz anders.

Eigentlich wollte ich jetzt noch eine Filmkritik zu Willkommen bei den Sch’tis schreiben. Aber, ach, was soll man so viel zauberhaften Spaß zerreden? Sicher funktioniert der Film in Deutschland durch die Synchronisation nicht ganz so gut wie in Frankreich, aber ich finde, es kommt erstaunlich viel rüber von der Situationskomik, die entsteht, wenn eine Mundart auf die andere trifft und wenn Klischees sich so gar nicht erfüllen, man sie aber doch gerne aufrecht halten will. Da ist es dann eigentlich egal, ob es um Süd- und Nordfranzosen oder vielleicht um Bayern und Preußen geht. Darum wohl konnten auch wir Deutschen heute im Kino allesamt sehr, sehr viel lachen. Ein kleiner, großer Film. Und dies war nun doch noch eine Mini-Kritik, nun ja.

Und jetzt gehe ich ein wenig den Mond anheulen.

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Montag, 20. Oktober 2008

40 Jahre Feinstrick - heute: AIDS

Die taz feiert in diesen Tagen ihren 30. Geburtstag und brachte anlässlich dieses Jubiläums eine Sonderausgabe heraus, in der in 30 Artikeln und vielen kleinen Randbemerkungen die letzten drei Jahrzehnte bundesdeutscher Geschichte noch einmal lebendig werden. Ich lese mich gerade etappenweise durch die Texte durch und stelle fest, dass fast alle diese Ereignisse Erinnerungen in mir wecken, obwohl ich gerade in den ersten Jahren noch recht jung und alles andere als ein politisch denkendes Mädchen war. Doch die Geschehnisse von damals haben zum Teil Auswirkungen bis heute und sie haben unsere Gesellschaft, und somit natürlich auch mein Leben, nachhaltig verändert.

Ich habe mir überlegt, wie eine Zeitung wohl aussehen würde, die anlässlich meines 40. Geburtstags (der längst rum ist) entstanden wäre – mit Ereignissen, die nur für mich persönlich von Bedeutung waren, aber auch solchen, die eine ganze Generation – meine Generation – geprägt haben. Ich werde in nächster Zeit in loser Folge in diesem Blog ein wenig Rückschau halten und in meinem Gedächtnis wühlen. Eine Chronologie wird es nicht geben, ich veröffentliche die Texte hier dann, wenn sie mir gerade in den Sinn kommen.

Den Auftakt bildet eine Geschichte zum Thema AIDS.

Ich jobbte Ende der 80er Jahre in einem der ersten Bioläden der Stadt. Es war ein kleiner, schmuddeliger Laden, dessen Besitzer ihn aus purem Idealismus betrieb. Ich glaube jedenfalls nicht, dass er damit viel verdiente, obwohl er natürlich den Nerv der Zeit traf. Der Ladenbesitzer, nennen wir ihn mal Thomas, war ein junger Mann, schlank, hoch gewachsen, etwas linkisch in seinen Bewegungen, aber sehr nett. Eines Tages zog er in eine Wohnung in der Straße meiner Eltern. Ich fragte mich, was er in dieser gediegenen Wohngegend suchte, in der überwiegend ältere Leute wohnten. Aber vielleicht gefiel ihm das viele Grün ringsherum und die Nähe zum Wald, der unmittelbar hinter den Häusern begann.

Vielleicht war aber ja auch der Hausbesitzer schwul – so wie Thomas auch. Das kapierte ich damals aber nicht. Da war Homosexualität für mich etwas völlig Fremdes, Exotisches und, ja, auch Verwerfliches. Dass Thomas schwul war, begriff ich noch nicht mal, als in seine Wohnung ein Freund von ihm mit einzog, Olaf, ebenfalls groß, schmal und schlaksig. Es war die große Zeit der Wohngemeinschaften, alle Welt lebte in WGs, warum also sollte nicht auch Thomas sich mit jemandem die Miete teilen? Ich lernte Olaf gut kennen, weil er auch im Laden arbeitete und Thomas uns oft zu gemeinsamen Schichten einteilte. Ich mochte Olaf nicht besonders. Er war ernst und besserwisserisch, ganz anders als Thomas. Einmal begegnete ich den beiden auf der Straße. Sie gingen sehr dicht beieinander, lachten und wirkten glücklich. Als sie mich sahen, stoben sie so deutlich auseinander, dass ich mich irritiert fragte, was das sollte. Zum ersten Mal kam mir in den Sinn, dass mit Thomas und Olaf etwas „nicht stimmte“.

Thomas war häufig krank.
„Mein Immunsystem ist leider total angeschlagen“, erklärte er. „Mich haut einfach alles sofort um.“
Mir tat das Leid, obwohl es für mich bedeutete, dass ich häufiger arbeiten und mehr Geld verdienen konnte. Manchmal nahm Thomas mich in seinem großen, alten Lieferwagen mit heim. Wir unterhielten uns über Kafka, und ich kam mir klug und belesen vor, obwohl ich den „Prozess“ wohl nicht wirklich kapiert hatte. Thomas erzählte, dass er ursprünglich mal Friseur gelernt hatte, was ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte. Er wirkte so uneitel und stylte sich überhaupt nicht. Das passte gar nicht zu einem Friseur.

Dann zog Olaf bei Thomas wieder aus. Ich sah ihn noch ein paar Mal im Laden, er wirkte deprimiert und noch verschlossener als ohnehin schon, bis er eines Tages gar nicht mehr erschien. Und Thomas war immer öfter krank. Irgendwann gab er den Laden auf.
„Ich schaffe das finanziell nicht mehr“, verkündete er. Er zog auch aus der Wohnung in der Straße meiner Eltern aus. Das bekam ich jedoch alles nur noch am Rande mit. Ich war mittlerweile selbst ausgezogen, studierte und war nur noch selten in der Gegend.

Meine Mutter erzählte mir, dass den Bioladen jemand aus dem Ort übernommen hatte, so dass er weiter existieren würde. Das fand ich schön. Die Jahre gingen ins Land, bis ich eines Tages auf dem Weg zu meinen Eltern zufällig Thomas im Bus traf. Er war schon immer schmal gewesen, aber jetzt wirkte er deutlich abgemagert. Seine Haare waren sehr kurz geschnitten, was damals noch nicht in Mode war und das Magere unterstrich. Wir setzten uns nebeneinander und plauderten wie in alten Zeiten nett miteinander. Ich erzählte ein bisschen von meinem Studium, und dann fragte ich Thomas:
„Was machst du denn jetzt eigentlich?“
„Ich arbeite für eine AIDS-Stiftung“, sagte Thomas.
Wir waren mittlerweile in den 90ern angekommen, AIDS war spätestens seit dem Tod von Rock Hudson und Freddie Mercury ein ganz großes Thema, und selbst in meinem Hinterwäldlerleben hatten die Zeichen der Zeit ihre Spuren hinterlassen. Meinen ersten AIDS-Test, in einer Mischung aus großer Panik und noch mehr Scham durchgeführt, hatte ich jedenfalls bereits hinter mir, und Sex ohne Gummi gab es seitdem nicht mehr. Jetzt sah ich Thomas an, dessen Augen in seinem ausgezehrten Gesicht immer noch so warm und fröhlich leuchteten wie früher. Und auf einmal, hier in diesem Bus, in dieser Sekunde, begriff ich. Ich begriff, dass Thomas schwul war. Ich begriff, was er mit „schwachem Immunsystem“ gemeint hatte. Ich begriff, warum er für eine AIDS-Stiftung arbeitete. Ich wollte sagen:
„Du hast es auch, nicht wahr? Du bist auch infiziert. Mensch, Thomas, kann ich irgendwas für dich tun?“
Ich hätte ihm so gerne meine Solidarität bekundet, ihm gezeigt, dass ich auf seiner Seite stand, dass ich inzwischen wusste, dass Homosexualität nichts Unanständiges ist, und dass ich aufgeklärt genug war, um ebenfalls zu wissen, dass ich mich nicht bei Thomas anstecken konnte, wenn ich neben ihm im Bus saß. Aber ich schaffte es nicht. Ich war wie gelähmt in meiner Bestürzung und scheute davor zurück, offen mit Thomas zu sprechen. Vielleicht irrte ich mich ja auch und alles war ganz anders. Das wäre doch peinlich. Thomas musste aussteigen, und als er schon halb aus dem Bus raus war, überlegte ich noch, hinterher zu springen, ihn auf der Straße anzusprechen, wenn all die Leute mit all ihren neugierigen Ohren nicht mehr da waren. Ich spielte diesen Moment noch Monate später immer wieder durch – wie Thomas sich von mir verabschiedete, wie ich ihm hinterher sah, wie ich aufstand und ihm folgte. In Wahrheit folgte ich ihm nicht.

In Wahrheit sah ich Thomas nie wieder. Nur wenige Monate nach dieser Begegnung rief meine Mutter mich an und erzählte mir mit großer Betroffenheit, dass Thomas im Krankenhaus an AIDS gestorben sei.
„Und weißt du was? Nur ein paar Zimmer weiter lag Olaf, der kurze Zeit danach auch gestorben ist. Aber versöhnt haben die beiden sich nicht mehr. Ich glaube, sie wussten nicht mal, dass sie fast Tür an Tür lagen.“

Ich vermute, dass Olaf sich an Thomas infiziert hat und ihm das selbst im Angesicht des Todes nicht verzeihen konnte. Dieser Gedanke bewegt mich heute noch sehr. Thomas und Olaf sind die einzigen Menschen, die ich persönlich kannte und die an AIDS gestorben sind. Durch ihren Tod habe ich stärker als durch all die Aufklärungskampagnen begriffen, dass Sexualität nie einfach nur Spaß ist. Außerdem gehörten Schwule seitdem ganz selbstverständlich sogar in die Welt meiner Eltern. Auf einmal war alles anders. Und es war gut so. Auch, wenn der Preis, den wir dafür zahlen mussten, oft sehr hoch war.

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Donnerstag, 11. September 2008

Andere Liga

Es ist ein milder Abend, den die Menschen draußen vor den Cafés und Kneipen genießen. Ich lasse mich von der heiter-gelassenen Stimmung anstecken und überlege einen Moment lang, noch irgendwo einen Absacker zu nehmen, aber dann lasse ich es doch. Ich war mit einer Freundin essen, habe anschließend meinen Laptop vom PC-Doktor abgeholt und will jetzt eigentlich nur noch heim.

Ich biege in eine kleine, stille Straße ein, in der kaum jemand unterwegs ist und gehe zielstrebig meinen Weg. Auf der anderen Straßenseite schlendern zwei junge Männer, wohl eher noch Jungs, wie mir scheint. Ich sehe sie in der Dunkelheit nicht richtig, aber ihre Stimmen hallen laut zu mir herüber. Sie sprechen deutsch mit türkischem Einschlag.

Einer von ihnen fängt auf einmal an, mich quer über die Straße hinweg anzumachen. Er pfeift, ruft, versucht mit allen Mitteln meine Aufmerksamkeit zu wecken. Seine Stimme klingt frech und provozierend. Einen Moment lang ertappe ich mich dabei, wie ich mich verstohlen nach anderen Passanten umsehe. Wer weiß, was in diesen hormonverseuchten Hirnen so vor sich geht. Und ich möchte meinen Laptop nur zu gern heil bis nach Hause befördern. Ich gehe noch ein bisschen schneller, als ich höre, wie sich zwischen den Jungs folgender kleiner Dialog entspinnt:
„He, lass doch die Frau in Ruhe.“
„Wieso Frau? Das is’n Mädchen, Alter.“
„Quatsch, Mann, Mädchen. Das is' nicht mal ne Frau. Das is' ne Oma.“

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, verlangsame mein Tempo und entspanne mich wieder. Schließlich bin ich ja eine Oma. Und wer interessiert sich schon für die?

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Montag, 1. September 2008

Alte Bäume

Ich bin es ja eigentlich gewohnt, belogen zu werden. Von der Werbung, von Politikern, von Männern. Und von den Meteorologen. Darum war ich gestern auch sehr überrascht, als der Radiosprecher verkündete: „Es folgt nun eine langanhaltende Phase mit“ – dramatische Pause – „sehr viel Regen und Kälte.“ Diese Nachricht erzeugte bei mir Beklemmungen, denn wenn schon in den Nachrichten verkündet wird, dass es sehr lange schlechtes Wetter geben wird, dann kann man eigentlich von einem Weltuntergangsszenario mit jahrelangem Dauerregen ausgehen.

Ich beschloss daher, den letzten Tag, an dem ich noch mal das Sonnenlicht sehen könnte, richtig zu genießen. Hausputz und Schreibtisch mussten warten, stattdessen packte ich einen Picknickkorb und verstaute ihn zusammen mit einer Decke auf meinem Fahrradgepäckträger. Ich radelte durch die schicken Villenvororte an der Elbe in meinen Lieblingspark, brutzelte erst eine Weile in der Sonne und suchte mir dann ein schattiges Plätzchen unter einer großen, alten Eiche. Ich lag im Bikini auf meiner Decke, beobachtete aus schläfrigen Augen Kinder beim Fußballspielen, Liebespaare, die eng umschlungen in der Sonne lagen und ältere Damen, die sich trotz Gehbehinderung langsam quer durch die Wiesen bewegten. Wie aus dem Nichts tauchten am blassblauen Himmel auf einmal zwei Fallschirmspringer auf, die langsam zur Erde herabsegelten und dann irgendwo hinter den Bäumen am Horizont verschwanden.

Es war ein wundervoll friedlicher Sonntagnachmittag, und auch ohne die apokalyptische Wettervorhersage hätte ich dieses Gefühl von Abschied verspürt, diese Ahnung, dass ich wohl das letzte Mal in diesem Jahr die Wärme der Sonne auf meiner nackten Haut fühlte, dass ich noch einmal die Leichtigkeit des Sommers atmen konnte, bevor er dem Herbst Platz machen würde.

Ich rollte auf den Rücken und schaute hinauf in das dichte Blattwerk der Eiche. Ihr hohler Stamm wurde mit Eisenstangen gestützt und schimmerte stellenweise in einem eigentümlich phosphoreszierenden Blassgrün. Oben in der Baumkrone ließen sich direkt über mir ein paar Krähen nieder und ich dachte, dass es ausgesprochen ungünstig sei, wenn eine von ihnen gerade jetzt das Bedürfnis verspüren würde, zu verdauen. Ich fragte mich, wie lange dieser Baum wohl schon hier stand, zusammen mit den anderen großen, alten Bäumen, wie viele Menschen schon in seinem Schatten gelagert hatten, was er dabei alles gesehen und gehört hatte.

Und ich dachte an einen eigentümlichen Traum, den ich in der Nacht zuvor gehabt hatte. Darin wurden vor meinem Haus mehrere große, alte Bäume gefällt. Ich war entsetzt und wütend. Man konnte doch nicht einfach diese schönen alten Bäume fällen, was fiel denen denn ein? Es war mir egal, dass es nun viel heller und sonniger in meiner Wohnung war, dafür blickte ich jetzt nämlich auch auf ein paar seltsam verbaute, hässliche Häuser, die vorher von den Bäumen schön verdeckt worden waren. Ich ging hinunter auf die Straße und schaute mir das Spektakel aus der Nähe an. Die Baumstämme hatten die Arbeiter in rund zwei Metern Höhe stehen lassen. Wie Mahnmahle ragten sie nun in den Himmel. Etliche der alten Stämme waren innen hohl und sahen bei näherem Betrachten gar nicht mehr so standfest aus wie ich gedacht hatte. Von den gefällten Überresten konnte man sich Rindenskulpturen als Andenken mitnehmen, doch mich interessierte das nicht. Ich wollte diese Bäume ganz haben oder gar nicht.

Ein braunes, trockenes Eichenblatt wurde vom sanften Sommerwind auf meine Picknickdecke geweht. In meinen Träumen waren Bäume gefällt worden, Symbole für alte, tief verwurzelte Ansichten, Gefühle, Erinnerungen, Ereignisse. Ich nahm das trockene Eichenblatt in die Hand, dachte an die Fallschirmspringer von vorhin und fragte mich, was eigentlich mehr Mut erfordert: In ein paar tausend Metern Höhe aus einem Flugzeug zu springen oder alte Bäume zu fällen. Dann stand ich auf, packte meine Sachen ein und radelte nach Hause, dem Herbst entgegen.

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Mittwoch, 20. August 2008

Helden

Es gibt Geschichten, die treiben einem die Tränen in die Augen. Sie erzählen von Menschen, die schreckliche Tragödien erleiden, mit denen es das Leben gar nicht gut meint. Und denen dann plötzlich doch noch großes Glück zuteil wird, über das sie sich auf eine Weise freuen und das sie zu schätzen wissen, wie es nur Menschen können, die durch ganz tiefe Tiefen gegangen sind.

Ich stehe überhaupt nicht auf große, dicke Männer jenseits der 100-Kilo-Marke. Und Gewichtheben ist nicht gerade mein Lieblingssport. Genau genommen schaue ich mir nie Wettkämpfe darin an, außer bei den Olympischen Spielen, da kommt man irgendwie nicht dran vorbei. Gestern Mittag wollte ich eigentlich die Turner sehen, und dann waren da auf einmal die Bilder dieses Gewichthebers, Matthias Steiner, der ganz überraschend Gold holte und dessen unbändige Freude ansteckend war. Ich sah ihn auf dem Siegertreppchen stehen, das Foto seiner verstorbenen Frau fest in der Hand, während der Reporter die Geschichte der beiden erzählte. Sie berührte mich sehr und ich stellte mir vor, wie es sich anfühlen muss, wenn kurz nach der Hochzeit, dem Tag meines größten Glücks, die Liebe meines Lebens einfach stirbt. Was sich da für Abgründe auftun müssen, wie einem der Schmerz die Brust zerreißt und die eigene Seele sich am liebsten auch davon machen und dem geliebten Menschen folgen würde. Und ich stellte mir vor, was für Kraft es kostet, sich aus diesem Loch wieder zu befreien, wie viel Stärke, Mut und Lebenswillen man braucht, um die Seele wieder ins Hier und Jetzt zurück zu holen und das eigene Leben weiter zu leben, alleine, wie amputiert, mit blutendem Herzen. Und ich empfinde großen Respekt vor diesem Matthias Steiner, der genau genommen zwei Goldmedaillen gewonnen hat. Eine mit dieser großartigen körperlichen Leistung und eine im Kampf mit dem Leben, dessen Gewichte eigentlich zu schwer für ihn schienen. Aber er hat sich der Herausforderung gestellt und am Ende die gesamte Last gestemmt, voller Mut und Optimismus, den Blick nach vorne gerichtet, in ein Leben alleine, voller Erinnerungen, aber berührt, bewegt, gereift, gestärkt. So sehen echte Helden aus.

Und dann denke ich an Leute, die nichts Besseres zu tun haben, als Geschichten dieser Art zu erfinden, nur, um sich wichtig zu machen und weil sie sich einbilden, ihr echtes Leben würde nicht genug Sensationen abwerfen. Was auch stimmt. Wer nicht trainiert und nicht kämpft, kann auch nicht gewinnen und nicht in die Geschichtsbücher eingehen. Wer vor den großen, den tiefen Kämpfen des Lebens zurückschreckt, kann nur verlieren. Der bleibt immer nur ein kleiner Möchtegern-Sieger, der am Ende mit leeren Händen dasteht und nichts als Spott und Verachtung erntet. Wahre Helden sehen anders aus. Und von denen wünsche ich mir noch viele, auch und gerade in meinem eigenen, kleinen Leben.

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Freitag, 15. August 2008

Aus Mangel an eigenen Ideen...

...und weil ich die Olympischen Spiele mittlerweile nur noch begrenzt unterhaltsam finde, verweise ich heute auf ganz großen Sport bei Herrn Kid: Die Teilnehmer sind garantiert alle ungedopt (hoffe ich jedenfalls!), dafür aber humorvoller, pfiffiger und vor allem selbstironischer als die meisten Athleten, die sich derzeit in China tummeln. Die Blogolympiade ist garantiert ein Riesenspaß für die ganze Familie, gemäß dem Motto: "Hauptsache du bist dabei".

Ich selbst trainiere derweilen in meinem privaten Trainingscamp sehr, sehr hart, um an die Weltspitze der Belanglosigkeitsschreiber wieder anschließen zu können. Ich werde es schaffen, da bin ich mir sicher.

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Klatsch und Tratsch

Danke und tschüss!
Übermorgen fliege ich in den Urlaub, und wenn ich zurückkehre,...
feinstrick - 15. Mai, 21:06
Hat ja geklappt :)
Hat ja geklappt :)
steppenhund - 11. Feb, 22:02
Ja, ich erinnere mich...
Ja, ich erinnere mich gut daran. Ich mache mich mal...
feinstrick - 11. Feb, 20:08
Ich hab meine Statistik...
Ich hab meine Statistik ewig nicht angeschaut, aber...
feinstrick - 11. Feb, 20:08

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Zuletzt aktualisiert: 15. Mai, 21:06

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