Unterwegs

Freitag, 4. März 2011

Folgt der Sandale - nicht!

Ich hatte eigentlich überhaupt nicht vor, mich mit dem Thema intensiver zu befassen. Aber da mir in den letzten Tagen so einiges sehr sauer aufgestoßen ist, müssen Sie neben vielen anderen klugen und weniger klugen nun leider auch meine Gedanken zur Bildungssituation in Deutschland ertragen – oder Sie hüpfen schnell weiter zu unterhaltsameren Seiten, das nehme ich Ihnen nicht übel, wirklich.

Es gab Zeiten, in denen wurde Deutschland mal als das Land der Dichter und Denker gerühmt. Ich glaube, es gibt immer noch sehr viele kluge Köpfe hier, aber sie erhalten immer weniger Gehör. Glaubhaft wirkt heute nicht mehr, wer schön bescheiden intelligente, wahrhaftige Weisheiten preis gibt, sondern wer möglichst laut und bunt daher kommt und mit viel Getöse den letzten Unsinn in die Welt posaunt. Das ist schade. Denn billiges Getöse hat zwar einen großen Unterhaltungswert, bringt aber eine Gesellschaft nicht voran – den Einzelnen sehr wohl, die Masse jedoch nicht.

Das Dumme ist nur: Da lautes Geschrei eben leider diesen enorm großen Unterhaltungswert hat, kann man damit wunderbar die Massen mobilisieren. „Folgt der Sandale!“ - oder so ähnlich, Sie wissen schon. Das ist für Zuschauer einen Moment lang enorm witzig, aber dann kippt es plötzlich und löst Beklemmungen aus. Muss ich tatsächlich der Sandale folgen, bloß, weil das alle anderen auch machen? Sollte ich nicht vielleicht mal innehalten, mein Gehirn einschalten und überlegen, wofür diese Sandale eigentlich steht und wem sie überhaupt gehört? Ja, unbedingt!

Aber da kommen wir zu einem grundlegenden Problem: Um selbstständig denken zu können, um eine Situation losgelöst von der Meinung anderer einschätzen und bewerten zu können, benötige ich viele, viele Informationen, sprich: ich muss gebildet sein. Nun ist das aber mit der Bildung in diesem Land leider so eine Sache. Sie wird nämlich schon lange nicht mehr als eins der höchsten und kostbarsten Güter unserer Gesellschaft erachtet, und das ist nicht nur schade, es ist eine Katastrophe. Denn Bildung ermöglicht es den Menschen, Dinge zu erkennen und zu entdecken, Situationen zu bewerten und zu beurteilen, die Welt zu begreifen und zu verstehen. Wenn ich aber genau daran spare, dann ziehe ich mir ein Volk von Dummköpfen heran. Das mag gewollt sein, denn Dummköpfe kann man mit marktschreierischen Parolen sehr bequem lenken und zufrieden stellen. Und jüngste Beispiele zeigen ja auch, wie leicht das ist und wie gut so mancher davon profitiert. Da wird Unrecht plötzlich zu Recht, ein Betrüger zum Ehrenmann, die gesamte deutsche Wissenschaft (die mal den Ruf genoss, weltweit eine der besten zu sein) lächerlich gemacht. Applaus, liebe Vertreter von Staats- und Medienmacht, das habt ihr großartig hinbekommen!

Allerdings geht so was natürlich nicht lange gut. Man kann unmöglich ein ganzes Volk total verblöden lassen. Es gibt immer Widerständler, Querdenker, Freigeister, die sich trotz Bildungsverbot schlau machen. Die nicht nur das Sprachrohr des Staatsorgans lesen, das staatlich gelenkte Fernsehen schauen, den bunten Clowns folgen. Für die Ehre und Anstand keine hohlen Floskeln sind, die man beliebig einsetzt, um den eigenen Ruhm zu mehren. Denen es nicht um ihr eigenes, persönliches Ansehen geht, sondern um die Sache. Die mal sagen: Hallo, so aber bitte nicht! Von dieser Sorte Mensch waren in den letzten Wochen viele erstaunlich aktiv. Sie verdienen meinen Respekt und meine Hochachtung und machen mir Hoffnung, dass es um dieses Land doch noch nicht so schlecht bestellt ist, wie ich oft denke. Dass diese mutigen Menschen ziemlich viel Gegenwind von der vereinten Dummheit dieses Landes erhalten, überrascht mich hingegen nicht.

Neu daran ist, dass wir daran alle ganz unmittelbar teilhaben können, weil das Internet, eine Technologie, die ursprünglich ausschließlich von Akademikern genutzt und entwickelt wurde, mittlerweile beim gemeinen Volk angekommen ist. Dieses unakademische Volk – auch das vergessen wir gerne mal – stellt den weitaus größten Teil unserer Bevölkerung dar. Und diese Menschen freuen sich darüber, dass sie endlich einen Kanal gefunden haben, auf dem sie Gehör finden und posaunen ihre Meinung fröhlich in die Welt hinaus – zur Begeisterung vieler Gleichgesinnter und zur Bestürzung weniger Andersdenkender. Können wir ihnen das übel nehmen? Nein, natürlich nicht! Ich kann niemanden dafür verachten, dass er in seinem Leben die falschen Dinge gelernt hat. Mein Respekt vor dem anderen verbietet es mir, mich darüber lustig zu machen, dass er keine Ahnung von wissenschaftlichem Arbeiten hat und überhaupt nicht einschätzen kann, welchen Stellenwert so eine Promotion eigentlich hat – vermutlich kennt er das Wort nicht mal. Was ich aber wirklich übel nehmen kann und was mich wahnsinnig aufregt, ist die Tatsache, dass wir alle zuschauen, wie diese Menschen immer mehr verblöden und es keine Aussicht auf Besserung gibt. Es nervt mich maßlos, dass wir in diesem Land jede Menge Geld zum Fenster raus werfen, aber immer weniger in Bildung investieren. Dass wir jedes Jahr in irgendeinem Bundesland irgendeine Schulreform haben, die bald darauf rückgängig gemacht wird – mit fatalen Folgen für die Ausbildung der Schüler. Dass wir bereitwillig glauben, die allgemeine Volksverdummung sei bloß den vielen Zuwanderern zuzuschreiben, statt zu merken, dass die überhaupt nichts dafür können, sondern leider nur die ersten Opfer waren. Und es macht mich echt sauer, dass es viel zu viele kluge, gebildete Menschen gibt, die wissentlich eine Politik stützen und stärken, in der es nur noch um das Wohl einzelner machtgieriger, skrupelloser Leute geht und schon lange, lange nicht mehr um das Wohl der gesamten Bevölkerung. Was für Folgen das haben kann, sehen wir momentan mit erschütternder Deutlichkeit.

Denn auch das hat mit Bildung zu tun: die Vermittlung von Werten. Wer gut von schlecht nicht mehr unterscheiden kann, der hat ein Problem. Wer eine große Lüge zu einer kleinen macht, auch. Wer einem ganzen Land auch noch weismachen will, dass diese Lüge keine Bedeutung hat, der wird selbst zum Problem. Ich wünsche mir daher, dass die Querdenker und Freigeister unter uns viel häufiger laut protestieren und Nein sagen. Dass wir uns nicht mehr nur berieseln lassen, sondern viel öfter mal unsere eigenen Köpfe zum Denken bringen. Und vor allem: dass die, die eine gute Bildung genossen haben und sehr wohl Unrecht von Recht unterscheiden können, ein Vorbild für jene sind, die dies (noch) nicht gelernt haben. Das, so meine ich, sind wir uns allen schuldig. Damit wir in Zukunft eben keiner Sandale (oder Schlimmerem) mehr hinterher rennen und uns von billigen Parolen blenden lassen. Dann klappt das auch wieder mit dem Volk der Dichter und Denker. Und mit dem Respekt. Und dem Anstand. Und dem guten Regieren. Und überhaupt.

And now for something completely different …

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Montag, 21. Februar 2011

Veranstaltungshinweis

Zu dem Thema: „Beseitigung von Schrott, um Platz zu schaffen für neuen Schrott - über das Absurde im öffentlichen Raum“ findet zurzeit eine spektakuläre Performance in der Großen Bergstraße in Hamburg-Altona statt. Geboten wird ein Kampf der Giganten – Abrissbagger gegen Beton und Stahl, Mann gegen Müll. Dabei entstehen farbenprächtige, eigenwillige Einblicke in eine ehemalige Künstlerkolonie und ein noch ehemaligeres Kauf- und Bürohaus, Durchblicke durch Hauswände, Rückblicke auf Vergangenes und Ausblicke auf Zukünftiges. Alles ist im Wandel, alles verändert sich, täglich erwartet die Zuschauer ein neues Programm. Gesponsert wird das tägliche Public Viewing von einem schwedischen Möbelhaus, das sich redliche Mühe gibt, bestmögliche Unterhaltung zu bieten: abwechslungsreiches Programm, Gucklöcher im Bühnenvorhang Bauzaun, damit auch die kleinsten Zuschauern richtig mitfiebern können, Dekoration des Zuschauerraums mit historischen Bildern, die zu Diskussionen anregen („Was glauben Sie, wann das war? In den 70ern?“ „Nee, eher 60er.“). Was ein wenig fehlt, sind Sitzgelegenheiten und Erfrischungen. Aber wer lange genug durchhält, dem werden in rund zwei Jahren Klippans und Hot-Dogs in Hülle und Fülle geboten.

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Samstag, 12. Februar 2011

Bullen

Ich habe zu Bullen ein eher zwiespältiges Verhältnis, zu zweibeinigen genauso wie zu vierbeinigen. Dennoch – oder gerade deswegen – begegne ich beiden mit Respekt.

Einem vierbeinigen Bullen stand ich vor vielen Jahren mal auf einer schwedischen Wiese gegenüber. Und ich muss sagen – mir haben selten so die Knie gezittert. Ich war im Urlaub mit meinem damaligen Liebsten. Das Wetter war erstaunlich gut, und wir waren viel mit den Fahrrädern unterwegs. Wir radelten durch die weite, wenig besiedelte schwedische Natur, immer schön Hügel rauf und wieder runter. Ich halbe Portion strampelte auf meinem nagelneuen Tourenrad immer knapp an meiner Leistungsgrenze tapfer hinter dem Kerl mit seinen langen Beinen her, und als er einmal vorschlug, eine Abkürzung zu nehmen, stimmte ich dankbar und erleichtert zu. Unsere Karte war nicht sehr genau, doch den Wanderweg quer durch Wald und Wiesen erkannten wir beide deutlich auf dem Papier. Es gab sogar Wegweiser an dem kleinen Waldpfad, der auf eine Lichtung führte. Das hier war ein offizieller Weg, da gab es kein Vertun. Auch das Gatter, das plötzlich mitten im Weg auftauchte, konnte uns nicht aufhalten. So was kennt man doch aus ländlichen Regionen. Da führt der Wanderweg halt mal quer über eine Koppel, das ist schon alles in Ordnung so. Wir schoben also unsere Räder durch das Gatter und waren erst irritiert, als der Pfad nicht mehr richtig erkennbar war. Aber wir marschierten einfach geradeaus weiter. Da hinten, auf der anderen Seite des Hofes am Ende der Wiese war laut Landkarte die Straße, zu der wir wollten. „Bleib sofort stehen!“ sagte der Liebste plötzlich, und ich wunderte mich noch, warum er auf einmal so panisch klang – da sah ich ihn auch: den Bullen. Er sah sehr imposant aus, wie er da so seinen Harem bewachte, der sich hinter ihm scharte. Die Tiere standen dicht bei ihrem rotbraunen Stall, darum hatten wir sie nicht gleich entdeckt. Nun aber waren wir nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Und ihr Chef musterte uns nicht gerade sehr gastfreundlich. Er machte einige Schritte auf uns zu, und mir sank das Herz in die Hose. Doch das Riesenvieh blieb zum Glück schnell wieder stehen. Groß und breitbeinig stand es da, den riesigen Kopf leicht gesenkt, die Augen starr auf uns gerichtet, wobei der Ring in seiner Nase in der Sonne glänzte. Ich starrte stumm und atemlos zurück und fragte mich entsetzt, wie angriffslustig so ein Bulle eigentlich ist. Der Liebste, der noch mehr Angst zu haben schien als ich, wies nach rechts auf eine Hecke. „Wir müssen da lang“, sagte er. Im Zeitlupentempo bewegten wir uns seitlich-rückwärts auf die Hecke zu, unter der sich ein Zaun verbarg, die ganze Zeit den Blick starr auf den Bullen gerichtet, der ebenso starr zurückschaute. Der Liebste hievte unsere Fahrräder über den Zaun und dann mich und sich. Die ganze Zeit spürten wir die Blicke des Bullen in unserem Rücken, und wir atmeten erst auf, als wir auf der anderen Seite des Zaunes gelandet waren. Wir mussten noch mehrere solcher Hecken und Zäune überqueren, und bei jedem fluchte mein Liebster mehr. In brütender Mittagssonne war das vor allem für ihn eine schweißtreibende Angelegenheit. Wir gelangten an einer eher ungewöhnlichen Stelle auf die Straße, und einige Dorfbewohner schauten uns irritiert an, als wir mit unseren Fahrrädern durchs Gebüsch brachen. Aber wir waren genau da gelandet, wo wir eigentlich hin wollten. Kraft hatten wir bei dieser „Abkürzung“ allerdings nicht gespart, und der drohende Blick des mächtigen Bullen verfolgte uns noch lange.

Auch zweibeinige Bullen machen mich oft nervös. Das mag daran liegen, dass meine Eltern, die in zwei Diktaturen aufgewachsen waren, ständig Angst vor der Staatsgewalt hatten, und sich diese Angst wohl irgendwie auf mich übertrug. In meiner Jugend gab es eine Phase, in der ich den „Bullenschweinen“ alles andere als wohlgesonnen war und sie mich eher aggressiv machten. Irgendwann legte sich das auch wieder. Ich begriff, dass der Beruf des Polizisten durchaus Sinn macht. Die wenigen Male in meinem Leben, in denen ich mit der Polizei zu tun hatte, waren dann so, dass die Umstände zwar unangenehm, die Männer (Frauen waren tatsächlich nie dabei) aber alle sehr nett waren und ich mich von ihnen ernst genommen fühlte. Heute habe ich großen Respekt vor den Beamten, die ihren Kopf hinhalten, wenn es darum geht, randalierende Fußballfans, gewalttätige Jugendliche oder aufgebrachte Demonstranten in Schach zu halten. Gewalt ist immer sinnloser in Deutschland geworden, immer weniger politisch motiviert. Kein Mensch hat es verdient, sich für ein mieses Gehalt mit solchen Trotteln prügeln zu müssen. Als ich in den Niederungen der weltweiten Partnersuche einen Mann kennenlernte, der sich mir auf seinen Fotos stolz in seiner Polizeiuniform präsentierte, dachte ich dennoch zuerst: Ach, du liebe Zeit, das geht ja gar nicht. Er erklärte mir später, dass er die Fotos extra ausgewählt habe, damit gleich klar sei, welchen Job er ausübt. „Es gibt ja doch eine Menge Leute, die Probleme damit haben.“ Seine Offenheit gefiel mir. Im Chat versagte er kläglich. In jedem Wort waren drei Buchstabendreher, und ich verzweifelte an seiner Mühe, gute Sätze zu formulieren und dann auch noch richtig zu tippen. Aber das, was er schrieb, berührte mich eigenartig. Es klang so sensibel, so … ja, romantisch, ich glaube, dieses aus der Mode gekommene Wort trifft es am ehesten. Wir trafen uns auf einen Kaffee. Ich hatte noch nie privaten Kontakt zu einem Polizisten, und ich nahm mir vor, ihm auf jeden Fall ganz viele Fragen zu stellen. Falls es zwischen uns nicht funkte, wollte ich wenigstens meine Neugier stillen. Hat man Angst, wenn man sich bei gewaltvollen Auseinandersetzungen ins Getümmel stürzen muss? Hasst man die Randalierer? Oder ist das einfach nur ein Job? Was ist es für ein Gefühl, eine Waffe bei sich zu tragen? Und so weiter. Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich stellte keine einzige dieser Fragen. Er war ein sympathischer Mann und sah in echt noch besser aus als auf den Fotos. Und er hatte eine Menge kluger und alles andere als machohafter Gedanken, die er ganz dringend loswerden wollte. Darum redete er und redete und redete. Ununterbrochen schwadronierte er vor sich hin, und es schien ihm dabei völlig egal zu sein, wie ich reagierte. Anfangs, zum Warmwerden, stellte ich alle möglichen unverfänglichen Fragen, wo er wohnte, was für Sport er trieb, wo er in Urlaub fuhr. Er antwortete ausschweifend, langatmig und ein wenig selbstverliebt und fand schließlich seine eigenen Themen, über die er unaufgefordert philosophierte. Mir stellte er keine einzige Frage. Irgendwann verlor ich die Lust an dem Gespräch. Ich blieb höflich, ließ ihn weiter vor sich hin schwafeln, fragte aber nichts mehr. Es ärgerte mich, dass er so wenig an mir interessiert zu sein schien. Wir saßen fast zwei Stunden zusammen, und in dieser Zeit stellte er mir ganze zwei Fragen: „Hast du gut her gefunden?“ Und: „Bist du auch in Hamburg geboren?“ Bei so wenig Interesse an mir als Person schwand auch mein Interesse an dem Bullen komplett dahin. Es war mir plötzlich total wurscht, was er dachte und fühlte, wenn er auch zu meiner Sicherheit für Recht und Ordnung sorgte. Mir wurde klar, dass wir in verschiedenen Welten lebten, und diese nie zueinander finden würden, nicht einmal für einen Nachmittag bei Kaffee und Kuchen. Schade, dachte ich, es war einen Versuch wert. Stumm starrte ich vor mich hin und beschloss, es in Zukunft mit Bullen jeder Art doch wieder so wie meistens zu halten: Sie einfach friedlich in ihrem abgezäunten Revier grasen zu lassen und einen weiten Bogen um sie zu machen.

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Freitag, 7. Januar 2011

Meine Familie und ich

Manchmal muss ich mich schon sehr wundern. Über meine Familie an sich. Und so ganz im Speziellen über meine Familie im Urlaub.

Wir reisen sternförmig aus aller Welt an. Das klappt großartig und alle sind – welch Wunder und eigentlich total undenkbar! - pünktlich. Wir erobern unsere Ferienwelt schnell, präzise und vernichtend. Innerhalb kürzester Zeit machen wir uns zu den unbeliebtesten Gästen im ganzen Ort. Niemand meckert so viel wie wir. Niemand hat so viele Extrawünsche. Mein Bruder wird fast in eine Schlägerei verwickelt, der Mann im Skiverleih kriegt Ausschlag, wenn er uns bloß sieht, die Frauen an der Rezeption im Ferienpark machen sich unsichtbar, sobald einer von uns durch die Tür kommt.

Die Nachbarn aus der Wohnung unter uns hassen uns, weil unsere Kinder bis tief in die Nacht Weitsprung im Wohnzimmer üben, während wir Erwachsenen beieinander sitzen und uns lautstark anbrüllen. Bei anderen Leuten nennt man so was „Unterhaltung“. Bei uns galt aber schon immer die Regel: Der Lauteste hat Recht. Darum brüllen alle gleichzeitig möglichst laut und schnell in die Runde, ohne darauf zu achten, was die anderen sagen. Da meine Stimme aber leider schon immer viel leiser war als die meiner Geschwister, werde ich am seltensten gehört. Daher glauben auch alle meine Verwandten bis heute, ich hätte von nichts eine Ahnung.

Meine Schwester (die über eine besonders kräftige, dunkle Stimme verfügt) schwingt lautstarke Reden gegen die massenhafte Vernichtung von lebendigem, kreativen Leben durch Ritalin und andere Psychopharmaka. Sie zwingt meinen Bruder und seine Frau, die Finger zu heben und vor der versammelten Familie zu schwören, dass sie ihren Kindern so etwas nie verabreichen werden. Beide folgen brav und wie hypnotisiert ihren Anweisungen. Möglicherweise war Ritalin im Spiel.

Es kommt nur noch selten vor, dass wir alle zusammen sind, und wir genießen das sehr. Fast alle jedenfalls. Plötzlich wird es verdächtig ruhig im Haus. Mein Schwager hat sich ausgeklinkt. Und von der Horde Kinder ist auch kein Mucks mehr zu hören. Als wir die Schlafzimmertür öffnen, sehen wir den Schwager im Bett liegen und fernsehen. Und neben ihm liegt ein halbes Dutzend Kinder unter den Decken und glotzt andächtig ebenfalls auf die Mattscheibe.

Beim Essen wird ausführlich über Verdauungsproblematiken geredet. Wer wann wie warum am besten kann. Oder auch nicht. Wer noch mal müsste. Am besten jetzt sofort. Oder doch erst später, wenn alles besser flutscht. Mein Schwager pinkelt bei sperrangelweit geöffneter Klotür. Offenbar ist meine Stimme so leise, dass ich mittlerweile sogar unsichtbar geworden bin und niemanden mehr in seiner Privatsphäre störe.

Entscheidungen fällen wir in ausgefeilten gruppendynamischen Prozessen. Mittags um zwölf gibt es erste Ideen, wie wir den Tag verbringen, gegen zwei zeichnet sich eine Tendenz ab, Lager bilden sich, Mitfahrgelegenheiten werden verteilt, um vier sind wir endlich startklar – und vollkommen überrascht, dass der Skiverleih schon geschlossen hat und die Dämmerung bereits hereinbricht.

Mein Bruder ist immer der Letzte. Überall. Er kommt nicht nur Minuten zu spät, sondern Stunden und Tage. Wir geben das Warten irgendwann auf. Das haben wir ein Leben lang gemacht. Jetzt ist Schluss. „Was ist der Papi?“ fragt seine Frau ihre fünfjährige Tochter. Prompte Antwort: „Trödelig.“ Ob das Kind auch schon ein Trauma hat?

Meine Schwägerin hasst uns alle, weil wir so chaotisch sind. Nur ihr italienisches Blut bewahrt sie davor, sich von der Familie abzuwenden. Mein Schwager hasst unsere Kompliziertheiten und Pingeligkeiten. Er bleibt uns nur treu, weil sein arabisches Blut Familienzusammenhalt fordert.

Ich habe leider nur deutsches Blut in mir. Aber auch das scheint zu binden, denn auch ich tue mir das alles immer wieder an, obwohl ich zwischendrin jedes Mal denke: Hilfe, ich bin ein Single, holt mich hier raus!

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Samstag, 1. Januar 2011

Neujahr

Um es vorweg zu nehmen: Mein Jahreswechsel war grandios. Abgesehen vielleicht von den fünf Tonnen Raclette-Käse, die ich vertilgt habe und die mir die ganze, lange Nacht über eine gewisse … hm, Bodenhaftung verliehen haben. Aber sonst stimmte alles: Ich hatte wunderbaren, liebenswerten, fröhlichen Besuch. Wir hatten ein üppiges Essen mit viel Wein, Sekt und natürlich Käse. Wir waren auf einer großen Party und haben die ganze Nacht getanzt. Als wir heimgingen, waren bereits die Männer von der Stadtreinigung damit beschäftigt, den Silvestermüll auf den Straßen zu beseitigen. Wir haben einen Frosch in einen Prinzen verwandelt – jedenfalls im Wasserglas. Und einige andere Frösche haben wir ausgelacht – sie werden nie Prinzen werden, nicht mal im Wasserglas. Wir haben an einem wunderschönen Platz an der vereisten Elbe das Feuerwerk angeschaut und uns daran erinnert, was für ein gesegnetes Leben wir doch oft haben – trotz all der Täler, die wir gelegentlich durchwandern müssen. Aber vielleicht kann man den Zauber so einer Silvesternacht auch erst richtig erkennen, wenn man nicht nur ein sehr bewegtes Jahr, sondern überhaupt bereits ein sehr buntes, bewegtes Leben hinter sich hat, in dem es viel Lachen, aber auch jede Menge Tränen, Einsamkeit, Verluste gab – nur, um am Ende zu erkennen, dass all das einen nicht umbringt, sondern dem eigenen Leben eine wunderbare Tiefe und Fülle gibt.

Es hat mich getröstet, zu sehen, wie viele attraktive, selbstbewusste Frauen letzte Nacht allein unterwegs waren, und mit wie viel Vergnügen sie sich ins Getümmel gestürzt und ausgelassen getanzt haben. Die Single-Männer hingegen strömten alle erst mal an die Bar, um sich Mut anzutrinken – mit dem Ergebnis, dass etliche von ihnen bereits um Mitternacht kaum noch ihren Namen wussten. Jungs, ich gebe euch mal einen kleinen Tipp: So wird das auch in diesem Jahr nichts mit den Frauen. Ihr werdet weiterhin zu den Fröschen gehören, über die ich lache, und ich werde es weiterhin vorziehen, allein zu sein, statt mich mit einem von euch zusammen zu tun.

Aber es waren auch nette Männer da. Einer schenkte mir ein wirklich zauberhaftes Lachen, und danach haben wir einander immer wieder verstohlen beobachtet - wie man das eben so macht, wenn man sich nicht richtig traut. Und dann gab es da diesen magischen Moment auf der Tanzfläche, als wir uns viel zu lange in die Augen sahen. In einem Film hätte sich die restliche Welt in Slow Motion um uns herum bewegt, während wir wie magisch angezogen aufeinander zugegangen wären. In echt drehte sich die Welt sehr lebendig weiter, und wir standen da und starrten – verlegen, verwundert, überrascht, bis wir beide hilflos woanders hinguckten. Er ist übrigens – und das ist der Clou an der Geschichte! - zufällig auf einem Foto gelandet, das meine Freundin gemacht hat. Falls er sich also in der Menge wiedererkennen sollte … (Was bin ich doch für eine elende Träumerin, hach, aber das Leben wär doch sonst zu öde …).

Silvester 2010

Nächste Woche habe ich noch Urlaub und verreise ein wenig. Danach geht mein täglicher, einsamer Existenzkampf weiter. Es kommen ein paar Dinge auf mich zu, vor denen ich solche Angst habe, dass ich sie momentan total verdränge. Stattdessen gebe ich mich dem Gefühl von Lebendigkeit und Glück hin, das mich in der letzten Nacht erfasst hat. Und der Einbildung, dass vieles im Leben möglich ist, wenn man es nur zulässt. Der Illusion, dass ich längst noch nicht so alt bin, wie mein Ausweis behauptet. Der Hoffnung, dass 2011 ein grandioses Jahr wird und alle meine Sorgen überflüssiges Gedöns sind.

Übrigens: Das Wort des Jahres 2011 heißt Samenfaden. Fragt bitte nicht, warum.

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Sonntag, 19. Dezember 2010

Seltsam

Ein Junge, dunkelhäutig, vielleicht mit indischen oder pakistanischen Wurzeln, spricht mich auf der Straße an, oben in St. Pauli, in diesem merkwürdig toten Brauviertel. Er hat ein Bündel Supermarktprospekte in der Hand und sagt in seltsamer Hilflosigkeit, er wisse nicht, wohin damit, er habe keine Tasche dabei. Nach einigem Hin und Her stopfe ich ihm das Zeug in die Jackentasche und frage mich, warum er das nicht selbst gemacht hat, und was dieser ganze Zirkus überhaupt soll.
„Sie sind sehr nett“, sagt er und blickt mich mit großen, ernsten Augen an. Er ist vielleicht zwölf Jahre alt, wirkt gepflegt, spricht akzentfrei Deutsch. „Darf ich Sie noch etwas fragen?“
„Ja, klar.“ Ich schaue ihn aufmerksam an.
„Kann ich Sie begleiten?“
Scheiße, denke ich alarmiert, und ich sage eine Spur zu laut „Nein!“
Er lässt nicht locker. „Wohin gehen Sie denn?“
„Nach Hause.“
„Und warum darf ich nicht mitkommen? Nur ein Mal?“
„Weil ich das nicht möchte. Fertig.“
Ich stapfe durch den Schnee davon und hoffe, dass der Junge mir nicht folgt. Erst nach etlichen Metern drehe ich mich noch mal um. Ich atme auf. Er ist in die andere Richtung weiter gegangen.
Den ganzen Heimweg über frage ich mich jedoch, ob ich richtig reagiert habe. Ich fühle mich unbehaglich. Die Geschichte war zu schräg, zu uneindeutig. Vielleicht war der Junge ein mieser kleiner Gauner, vielleicht aber auch nur ein Kind in Not. Ich hätte ihm wenigstens noch ein paar Fragen stellen können. Keine Ahnung, ob ich dann mehr Klarheit erhalten hätte, aber irgendwie hätte es mein Herz beruhigt.

Einige Tage später sehe ich vom Fenster aus den Jungen durch meine Straße rennen. Ich erkenne ihn an seiner orangen Jacke. Dass er durch diese Straße läuft, hat sicher nichts mit mir zu tun. Vielmehr scheint er auf der Flucht zu sein. Vor wem oder was auch immer. Mein mulmiges Gefühl wächst.

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Dienstag, 7. Dezember 2010

Befindlichkeiten

Vielleicht liegt es am Winter. Oder an der Weihnachtszeit. Zu viel schwere Lebkuchen, klebriges Marzipan und süßliche Musik verkleistern das Hirn. Alle Welt scheint ein wenig aus den Fugen geraten zu sein und nicht mehr so recht zu wissen, was sie tut. Die Einen werden immer dreister, besonders, wenn sie sich am Frauentag in der Sauna tummeln. Ich habe mir schon beim letzten Mal geschworen, mich dieser Meute rücksichtsloser Schnattergänse nicht mehr auszusetzen, die sämtliche Liegen und Handtuchhaken besetzen, in den Ruhebereichen lauthals telefonieren und den gesamten Außenbereich zur Raucherzone erklären (nichts gegen Raucher, aber wenn ich gerade aus der 90 Grad heißen Sauna komme, in der es einen Eukalyptus-Aufguss gab, ist Nikotin das Letzte, was ich einatmen möchte). Diesmal war es so unerträglich, dass ich nächste Woche nach langer Zeit mal wieder in die gemischte Sauna gehen werde. Zumindest das Gänseschnattern werde ich dort nicht ertragen müssen.

Die Männer sind in diesen seltsamen Tagen allerdings auch nicht besser. Immerhin sind sie unberechenbar, das macht den grauen Winter schon wieder recht bunt. Die einen suhlen sich in ihren Befindlichkeiten und geben mir am Ende auch noch die Schuld daran, dass sie mit ihrem Leben nicht zufrieden sind. Ich übe mich in Geduld und Nachsicht, aber hinterher denke ich: Wieso eigentlich? Für therapeutische Soforthilfe ist mein Stundenlohn eindeutig zu niedrig. Eine bisher recht friedliche berufliche Kooperation hat spürbare Risse bekommen, und ich weiß, dass es an der Zeit ist, Alternativen zu suchen.

Andere wiederum flirten mit mir und lassen mich verblüfft erkennen, dass die Frau, die ich jeden Tag im Spiegel sehe, nicht identisch mit der Frau zu sein scheint, die die Leute auf der Straße sehen. Der Kassierer im Schwimmbad strahlt mich mit einer Herzlichkeit an, die mich umhaut, zumal er die viel jüngere und recht attraktive Kundin vor mir nicht halb so aufmerksam bedient hat. Aber vielleicht liegt es daran, dass mein Gesicht zwischen Pudelmütze und Schal kaum erkennbar ist. Behutsam legt er mir das Plastikbändchen für die Sauna ums Handgelenk.
„Hui, ganz kalte Hände“, sagt er fast liebevoll.
„Ist ja auch Winter draußen“, entgegne ich und schiele auf den breiten Schriftzug, der auf seinen Unterarm tätowiert ist.
„Jetzt wird’s gleich besser“, sagt er und strahlt mich erneut an, als er mir viel Spaß wünscht. Beim nächsten Mal werde ich ihn fragen, was auf seinem Arm steht.

Ich erhalte ein Jobangebot aus einer Ecke, aus der ich sonst nur Unsinn zu hören kriege. Obwohl ich noch nicht weiß, ob es was wird und wirklich was taugt, freue ich mich über die gute Absicht, die dahinter steckt – zumal die Bezahlung ausnahmsweise mal stimmt. Manchen scheint das viele Zuckerzeug offenbar ganz gut zu tun. Nur mir schlägt es dramatisch auf die Hüften. Da hilft auch mein tägliches Fitnessprogramm nicht mehr.

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Dienstag, 14. September 2010

Aus und vorbei

Ich liege auf dem Rücken im warmen Wasser des Außenwhirlpools und lasse mich treiben. Das Wasser trägt mich und schaukelt mich sanft hin und her. Am Himmel funkeln die ersten Sterne. Ein Flugzeug fliegt sehr tief über die Häuser. Wärme umhüllt mich. Doch die Luft ist frisch. Sie schmeckt herb und rau. Da ist nicht der leiseste Hauch mehr von Sommer in ihr.
Es ist dieser winzige Moment, in dem ich mit aller Klarheit spüre: aus und vorbei.

Ich friere. Ich kriege Depressionen. Ich fühle mich betrogen.
Drei Wochen brüllende Hitze. Davor ein halbes Jahr Winter, danach Herbst.
Das war kein Sommer, echt nicht. Das war eine Mogelpackung, ein riesengroßer Betrug. Genau genommen existierte dieser Sommer gar nicht. Doch was mache ich jetzt damit? Wie kann man einen Winter ertragen, wenn man keinen Sommer hatte? Woher soll man die Hoffnung nehmen, dass es ganz sicher irgendwann wieder hell und warm wird, dass man barfuß gehen, laue Abende genießen, Sonnencreme benutzen, in der Ostsee baden kann?

Der Regen klatscht gegen die Fensterscheiben, der Himmel ist so grau, wie er nur in Hamburg grau sein kann. Ich habe kalte Füße und ziehe mir Wollsocken über.
Die Sehnsucht ist unbeschreiblich. Aber was hilft's?

Andere haben schon sehr trefflich über diesen trügerischen Gesellen geschrieben, haben ihn entlarvt als Taugenichts, der uns alle an der Nase herumgeführt hat.
Doch was ändert das? Der Sommer ist weg.
Was bleibt, sind eine Handvoll Erinnerungen. Und das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben.

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Samstag, 17. Juli 2010

Der ganz normale Wahnsinn

Es ist Sommer. So richtig, mit blauem Himmel, Sonnenschein, Hitze und Gewittern. Aber wir stöhnen und meckern, fühlen uns erschöpft und überfordert, schwitzen viel zu viel, finden heraus, welche Deos nicht nur in der Werbung, sondern auch in echt wirken, und dass es keine gute Idee ist, bei diesen Temperaturen rohes Fleisch zu essen. Ich jammere zwar auch, weil ich entweder arbeite oder viel zu müde bin, um dieses grandiose Wetter wirklich zu genießen. Aber ich denke gleichzeitig: Von mir aus kann das jetzt bis Ende September so weiter gehen. Der nächste Winter mit Dunkelheit und Kälte kommt garantiert. Warum kann uns nie etwas recht sein? Im Winter haben wir über Schnee und Eis gejammert, jetzt regen sich alle über Sonne und Hitze auf. Dabei ist das Wetter in diesem Jahr ausnahmsweise mal so, wie es im Kalender steht (von dem verkorksten Frühling mal abgesehen, aber über den breiten wir einfach den Mantel des Schweigens).

Ich mache mich auf die Suche nach neuen Sandalen. Aber in den Schuhgeschäften hängen Schilder mit der Aufschrift „Saisonfinale“. In den Regalen stehen letzte Reste der Sommerkollektion, daneben reihen sich Stiefel und derbe Halbschuhe. Hä? Wir befinden uns mitten im Sommer. Wann bitteschön soll ich denn Sommerschuhe kaufen, wenn nicht jetzt? Etwa im Winter bei Schnee und Eis? Das ist ja fast schon so wie mit den Weihnachtslebkuchen, mit denen ich mich im August eindecken muss, weil im Dezember schon alle ausverkauft sind.

Eine Fahrt mit der Deutschen Bahn ist nur noch für Profi-Abenteurer zu empfehlen, die stets eine Überlebensration an Wasser und Essen dabei haben und in buddhistischer Manier über Zeit im Überfluss verfügen. Ich saß zwar bis jetzt in keinem der Züge, in denen die Klimaanlage ausfiel (die Züge, in denen ich unterwegs bin, besitzen meistens überhaupt noch keine). Dafür komme ich aber so gut wie nie mehr pünktlich ans Ziel. Verspätungen von 30 bis 80 Minuten sind normal geworden – und zwar bei einer offiziellen Reisezeit von anderthalb Stunden. Entschuldigungen seitens der Bahn gibt es selten, dafür aber spaßiges Survivaltraining inklusive Joggen über die Wiese mit schwerem Gepäck und Partystimmung in total überfüllten Bussen, die gemütlich übers Land schaukeln, während die Züge irgendwo in der Pampa verreckt sind. Vielleicht sollte die Bahn ein eigenes Busunternehmen gründen. So häufig, wie ich im letzten Jahr Bus statt Bahn fahren musste, würde sich das direkt lohnen.

Deutschland hat die drittbeste Fußballmannschaft der Welt. Zwischenzeitlich lagen wir sogar ganz vorne. Aber Trainer und Spieler verhalten sich bei ihrer Rückkehr so, als seien sie schon in der Vorrunde ausgeschieden: frustriert, beschämt und irgendwie auch beleidigt. Und die Fans verkriechen sich verkatert und verärgert. Das sah vor vier Jahren aber ganz anders aus. Doch mittlerweile zählen wohl nur noch handfeste Siege, und Sommermärchen werden in das Reich der Mythen verbannt. Schade.

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Donnerstag, 1. Juli 2010

Die Wahrheit über meine Auszeit

Kürzlich begab ich mich in die Notaufnahme eines Krankenhauses, nachdem ich tagelang an starken Bauchschmerzen litt. Ich hatte den Verdacht, dass ich nicht nur eine Magenverstimmung hatte, denn sonst wäre ich natürlich zu meinem Hausarzt gegangen – wenn überhaupt. Kein Mensch begibt sich freiwillig in ein Krankenhaus. Dorthin geht man nur, wenn man glaubt, ein wirklich ernstes gesundheitliches Problem zu haben. Eins, bei dem Eile Not tut, bei dem es eben nicht reicht, zum Arzt um die Ecke zu gehen. Not. Eile. Akut. Wichtige Worte in diesem Zusammenhang.

In der total überfüllten Notaufnahme besagter Klinik waren das jedoch Fremdworte. Es dauerte geschlagene 6,5 Stunden (in Worten: sechseinhalb), bis ich eine brauchbare Diagnose hatte. Sechseinhalb Stunden des Wartens, der Schmerzen und des Unwohlseins. Sechseinhalb Stunden, in denen ich mich über lange Strecken unendlich verlassen und einsam fühlte. Ich stellte bald fest, dass das lange Warten nicht nur daran lag, dass die Mitarbeiter so viel zu tun hatten. Vielmehr waren sie auch unorganisiert. Ich wurde gleich mehrmals gebeten, eine Urinprobe abzugeben, zweimal wollte man meinen Befund aufnehmen, ich wurde mit meiner Bahre von Zimmer zu Zimmer geschoben, weil sich die Ärzte gegenseitig die Räume wegnahmen. Das alles kostete unnötig Zeit und Energie.

Eine Schwester legte mir einen Venenzugang, was ich als extrem schmerzhaft empfand (mittlerweile finde ich auch, dass das nicht zumutbar ist; so lange die Patienten von keinem Arzt untersucht wurden und überhaupt nicht klar ist, ob sie tatsächlich operiert werden, kann man sie nicht einfach prophylaktisch für einen stationären Aufenthalt „präparieren“ - noch dazu, ohne sie nennenswert darauf vorzubereiten und aufzuklären). Ich kann Schmerzen eigentlich gut aushalten. Aber es gibt solche, die sind nicht unbedingt stark, sie sind einfach unerträglich. Und dazu zählte der Schmerz, den mir diese kleine Kanüle in meiner Armbeuge bereitete. Ich konnte ihn nur ertragen, wenn ich meinen Arm so fest quetschte, dass er mir an anderer Stelle noch mehr weh tat. Außerdem kippte ich vor Schreck erst mal um und lag stundenlan zähneklappernd auf einer Bahre mitten im Gang in der Notaufnahme, in der es zuging wie im Taubenschlag. Ständig eilten Mitarbeiter, Patienten und Angehörige an mir vorbei. Als ich der Schwester sagte, dass mir sehr kalt sei, schaute sie mich verwundert an: „Kalt?“ Äh, ja, ich hatte einen Schock, und da friert man meines Wissens selbst bei 30 Grad im Schatten. Ich fand die Situation total entwürdigend, stellte aber schnell fest, dass ich meine Würde an der Anmeldung gleich für mehrere Tage abgegeben hatte. Jedenfalls ist das, was in Emergency Room immer so cool aussah, in Wahrheit ziemlich bedrückend. In meinem größten Elend, als ich mir sicher war, dass ich diese Bahre nie mehr lebend verlassen würde, rief zum Glück meine Schwester an. Entsetzt darüber, wie kraftlos ich klang, ließ sie Haus und Kinder im Stich, setzte sich ins Auto und brauste in Rekordzeit die 120 Kilometer bis zu mir, um mich zu trösten und zu begleiten. Ich war selten in meinem Leben so glücklich darüber, meine kleine Schwester zu sehen.

Die Entscheidung, was zu tun war, überließen die Ärzte am Ende mir. Ein blonder und sehr smarter junger Chirurg zählte vorher tausend schreckliche Krankheiten auf, die Bauchschmerzen verursachen können. Nicht gerade sehr ermutigend und beruhigend. Ich hätte mich allerdings auch ohne dieses Horrorszenario für eine Bauchspiegelung entschieden – zumal ich mir mittlerweile sehr sicher war, dass es mein Blinddarm war, der da muckerte. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, wieder heim zu gehen. Und den Ärzten war wohl auch nicht wohl dabei, denn sie operierten mich noch am selben Tag, abends um halb zehn, und entfernten den kleinen Wurmfortsatz, umgangssprachlich auch Blinddarm genannt. Da hatte ich mittlerweile zwölf Stunden in der Notaufnahme zugebracht, die letzten Stunden immerhin in einem Bett in einem kleinen Zimmer. Ich hatte seit dreizehn Stunden nichts gegessen und getrunken. Drei Chirurgen sprachen mit mir, ein vierter, mir unbekannter, operierte mich schließlich. Auch das empfand ich nicht gerade als vertrauensbildend. Ich weiß schon ganz gerne vorher, wer mir den Bauch aufschneidet. Vor der Operation musste ich noch mal gut eine Dreiviertelstunde in einem schäbigen Gang vor dem OP-Raum warten. Mein Bett stand in einer Ecke, in der lauter Möbel mit Plastikfolie abgedeckt waren. Ab und zu kam mal jemand vorbei und nickte mir aufmunternd zu, ansonsten lag ich hilflos und einsam da und starrte vor mich hin. Ich dachte an Filme wie Anatomie und wartete förmlich darauf, dass gleich mein Peiniger um die Ecke kommen und mich aufschlitzen würde – ohne Narkose natürlich.

Zum Glück wurde ich dann doch ganz fachmännisch aufgeschnippelt und wachte auch vorschriftsmäßig wieder auf. Aus meinem hellen, sonnigen Zimmer hatte ich tatsächlich einen traumhaft schönen Blick über den Hamburger Westen. Allerdings gab es nur ein (sehr altes) Gemeinschaftsbad im Flur. Am ersten Tag brauchte ich gefühlte Stunden, um den Weg dorthin zurück zu legen. Aber was nicht tötet, härtet ab. Schlimmer waren die hygienischen Zustände. Das Bad wurde einmal am Tag sauber gemacht. Wenn überhaupt. Jede Bahnhofstoilette wird jedenfalls häufiger und vor allem besser gereinigt. Desinfektionsmittel fehlte gänzlich im Bad, ein Mülleimer, in dem auch Damenbinden entsorgt wurden, stand offen herum. Auf dem breiten Fensterbrett neben meinem Bett lag fingerdick der Staub. Die Putzfrau feudelte in den drei Tagen, in denen ich da war, einmal den Fußboden und putzte einmal das Waschbecken im Zimmer – beides an verschiedenen Tagen, sonst hätte sie sich vermutlich übernommen. Nur zur Erinnerung: Ich befand mich nicht in einem drittklassigen Hotel auf Mallorca (dort wird besser sauber gemacht), sondern in einem Krankenhaus.

Das Pflegepersonal war sehr nett, und auch die Ärzte gaben sich alle Mühe. Allerdings musste man schon genau wissen, was man wollte, um nicht unterzugehen. Ich bat zum Beispiel mehrmals darum, den operierenden Arzt zu sprechen, um zu erfahren, was genau er nun eigentlich in meinem Bauch entdeckt hatte. Es dauerte zwei Tage, bis ich ihn endlich zu fassen bekam. Hätte ich nichts gesagt, wäre er vermutlich nie erschienen. Meine Bettnachbarin war daher total verloren, weil ihr Deutsch nicht gut genug war. Ihr behandelnder Arzt war jung, smart und unnahbar. Er rauschte täglich für zwei Minuten ins Zimmer, strahlte uns mit perfekten Zähnen an, sprach besonders laut (was man eben so tut, wenn man merkt, dass der andere einen nicht gut versteht …), kam aber nie auf die Idee, sich zu versichern, dass seine Patientin alles begriff. So war ihr überhaupt nicht klar, warum sie eigentlich noch in der Klinik bleiben musste, obwohl keine Untersuchungen mehr stattfanden. Und sie wusste auch nicht, wie sie ihre Medikamente einnehmen sollte. Daher fiel ihr nicht auf, dass die Schwestern vergaßen, ihr eins der Medikamente regelmäßig zu verabreichen. Als der Arzt das endlich bemerkte, hatte die Patientin bereits zwei Tage voller unnötiger Schmerzen hinter sich. Die Schwester brachte ihr daraufhin gleich einen größeren Medikamentenvorrat ans Bett: „Ich stelle Ihnen das jetzt einfach mal hier hin, dann können Sie selbst dreimal täglich Ihre Medizin nehmen.“ So geht’s natürlich auch.

Ich selbst genieße meine unfreiwillige Auszeit mittlerweile. Ich sitze stundenlang auf meinem Balkon und lese, verwöhne mich mit leckerem Essen, schlafe viel und komme endlich dazu, mit Leuten zu telefonieren, bei denen ich mich seit Monaten nicht gemeldet habe. Im Schneckentempo gehe ich spazieren und bin gerührt, dass meine Nachbarn sich gegenseitig damit übertrumpfen, mich zu unterstützen. „Ich werde immer mal nach oben lauschen“, sagte die Nachbarin unter mir. „Und wenn ich ewig nichts höre, komme ich hoch und schaue, ob du umgekippt bist.“ „Passen Sie gut auf sich auf. Ich hätte Sie gerne noch eine Weile bei mir“, sagt eine andere Nachbarin. Sie ist doppelt so alt wie ich, und eigentlich müsste ich mich um sie sorgen. Ein wenig unruhig bin ich schon, denn während ich mich als Angestellte einfach krankschreiben lassen konnte, rauschen jetzt die Tage an mir vorbei, in denen kein Geld in die Kasse kommt. Ich bemühe mich, trotzdem weiter in diesem Carpe diem-Gefühl zu verharren, das mich zwischenzeitlich erfüllt hatte, als es tatsächlich nur den Augenblick gab, die Sonne, den Garten meiner Schwester, ihre Kinder, mein Buch und eine Schüssel voller Kirschen. Fast wünschte ich, ich wäre nie aus meinem Liegestuhl aufgestanden und wieder in die Stadt zurückgekehrt.

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