Leben, unbedingt!
Ich mache einen spontanen Besuch bei meiner Nachbarin Frau W., die 83 ist – ungefähr so alt, wie meine Mutter heute wäre. Ich war ewig nicht bei ihr, hatte schon ein schlechtes Gewissen und dachte oft: Herrje, eines Tages ist sie tot, und du hast es nicht mal mehr geschafft, die paar Stufen zu ihr hinauf zu steigen. Frau W. freut sich riesig, sie hat gerade Plätzchen gebacken, die ich nun unbedingt probieren muss.
Sie sagt zu mir: „Sie sehen großartig aus – so ausgeruht und entspannt. Ich habe immer das Gefühl, dass Sie sehr in sich ruhen.“ Ich sage nicht, dass ich nur so ausgeruht wirke, weil ich vorhin erschöpft auf dem Sofa eingenickt bin. Im Grunde bin ich zurzeit ständig müde. Und dass ich in mir ruhe, ist ohnehin ein Witz. Gerade in den letzten Monaten stand ich oft komplett neben mir und beobachtete hilflos, wie mir mein Leben zu entgleiten schien. Jedenfalls in emotionaler Hinsicht. Erstaunlich, dass ich auf Außenstehende offenbar gelassen und kompetent wirke. Innerlich bin ich ängstlich, unsicher und ratlos. Und unfassbar träge.
Kürzlich sprach ich mit einer Freundin darüber. Wir treffen uns regelmäßig, um uns über Berufliches auszutauschen, uns gegenseitig zu motivieren und Probleme gemeinsam zu meistern. In letzter Zeit fiel uns auf, dass wir uns oft etwas vornehmen, das wir nicht einhalten. So Sachen wie: „Ich gehe zum Sport.“ Oder: „Ich mache richtige Arbeitspausen und einen Tag pro Woche den Computer nicht an.“ Wir grübeln immer wieder darüber, woran es liegt, dass wir diese Vereinbarungen nicht einhalten. Wieso sind wir so inkonsequent? Wieso tun wir alles, um uns selbst auszubeuten und uns schlecht zu fühlen, aber nur sehr wenig, damit es uns gut geht?
„Man muss sich einfach dafür entscheiden, etwas zu tun“, behaupten die Erfolgstrainer gern. „Man muss sich nur vorstellen, wie toll es sich anfühlt, ein Ziel zu erreichen, dann klappt das auch.“ Es gibt genug Techniken und Methoden, die uns genau das vorgaukeln: Klare Ziele vor Augen, klare Entscheidungen treffen – und schwuppdiwupp ist man super erfolgreich. Mag sein, dass es Leute gibt, die für derartige Methoden sehr empfänglich sind. Ich bin es leider überhaupt nicht. Ich kann mir gewisse Dinge hundertmal vornehmen und kriege sie trotzdem nicht hin.
Nun sagte meine Freundin: „Ich glaube, das ist ein sehr grundsätzliches Problem. Mir scheint, es hat mit der Frage zu tun, ob man überhaupt leben will.“ Ich war entsetzt. Natürlich will ich leben, das ist doch gar keine Frage. Also protestierte ich: „Das ist mir zu radikal. Ich glaube, es hat eher damit zu tun, wie ich leben will.“ Meine Freundin sehr energisch: „Nein. Du willst nicht ungesund leben, krank sein, weil du keinen Sport treibst, erschöpft, weil du dir keine Pausen gönnst, überfordert, weil du dich ständig unter Druck setzt. Das willst du gar nicht. Aber das gute Leben, in dem du für dich sorgst, in dem du auf dich acht gibst, in dem du genießt, das willst du offenbar auch nicht haben. Also – willst du überhaupt leben?“
Diese recht provokante Frage lässt mich seitdem nicht mehr los. Hat meine Freundin recht mit ihrer Behauptung? Will ich überhaupt leben? Verweigere ich mich dem Leben, indem ich nicht für mich sorge? Oder ist es nicht doch auch völlig in Ordnung, ein „Sparflammenleben“ zu führen? Wer sagt denn, dass man unbedingt Sport treiben muss? Hängt davon mein persönliches Glück ab? Oder haben die Erfolgstrainer doch recht, und ich habe bisher nie wirklich bewusste Entscheidungen getroffen?
Nach einigem Grübeln wird mir eins klar: Dass ich leben will, habe ich vor sehr langer Zeit sehr bewusst entschieden, in einem äußerst finsteren Moment meines Daseins. Seitdem ist für mich klar: Ich bleibe hier, bis mein Körper nicht mehr mitmacht. Für mich geht es nicht um das Ob, sondern nur um das Wie. Und da hat meine Freundin natürlich recht: Im Grunde ist mir dieses schluffige Sparflammenleben zuwider. Ich möchte rausgehen, mir den Sturm um die Nase fegen lassen, an meine Grenzen gehen – und vielleicht auch darüber hinaus. Andererseits – was heißt denn das nun wieder? Tobte in meinem Inneren in der letzten Zeit nicht ein recht ordentlicher Orkan? Reicht das nicht an Abenteuern? Fallschirmspringen, Nobelpreise gewinnen und Männer vernaschen kann ich doch immer noch später. Und falls dieses Später nicht mehr kommt, ist mein Leben dadurch doch nicht weniger lebenswert.
Während wir Tee trinken und frischgebackene Plätzchen essen, erzählt Frau W., meine biedere, alte Nachbarin, dass sie in den nächsten Tagen mit ihrer Malgruppe zu einer Ausstellung in die Boutique Bizarre auf der Reeperbahn gehen will. Und sie beklagt sich über ihre langweiligen alten Freundinnen, mit denen sie immer weniger anzufangen weiß, weil sie sich für nichts mehr interessieren. Das zeugt von so viel Lebensfreude, dass ich mir wünsche, mit 80 ähnlich gut gelaunt zu sein. Ja, denke ich, es hat doch was mit dem Wollen zu tun, mit der bewussten Entscheidung, ein Leben auf diese oder jene Weise zu führen. Warum man allerdings das eine will und das andere tut, weiß ich trotzdem noch nicht.
Sie sagt zu mir: „Sie sehen großartig aus – so ausgeruht und entspannt. Ich habe immer das Gefühl, dass Sie sehr in sich ruhen.“ Ich sage nicht, dass ich nur so ausgeruht wirke, weil ich vorhin erschöpft auf dem Sofa eingenickt bin. Im Grunde bin ich zurzeit ständig müde. Und dass ich in mir ruhe, ist ohnehin ein Witz. Gerade in den letzten Monaten stand ich oft komplett neben mir und beobachtete hilflos, wie mir mein Leben zu entgleiten schien. Jedenfalls in emotionaler Hinsicht. Erstaunlich, dass ich auf Außenstehende offenbar gelassen und kompetent wirke. Innerlich bin ich ängstlich, unsicher und ratlos. Und unfassbar träge.
Kürzlich sprach ich mit einer Freundin darüber. Wir treffen uns regelmäßig, um uns über Berufliches auszutauschen, uns gegenseitig zu motivieren und Probleme gemeinsam zu meistern. In letzter Zeit fiel uns auf, dass wir uns oft etwas vornehmen, das wir nicht einhalten. So Sachen wie: „Ich gehe zum Sport.“ Oder: „Ich mache richtige Arbeitspausen und einen Tag pro Woche den Computer nicht an.“ Wir grübeln immer wieder darüber, woran es liegt, dass wir diese Vereinbarungen nicht einhalten. Wieso sind wir so inkonsequent? Wieso tun wir alles, um uns selbst auszubeuten und uns schlecht zu fühlen, aber nur sehr wenig, damit es uns gut geht?
„Man muss sich einfach dafür entscheiden, etwas zu tun“, behaupten die Erfolgstrainer gern. „Man muss sich nur vorstellen, wie toll es sich anfühlt, ein Ziel zu erreichen, dann klappt das auch.“ Es gibt genug Techniken und Methoden, die uns genau das vorgaukeln: Klare Ziele vor Augen, klare Entscheidungen treffen – und schwuppdiwupp ist man super erfolgreich. Mag sein, dass es Leute gibt, die für derartige Methoden sehr empfänglich sind. Ich bin es leider überhaupt nicht. Ich kann mir gewisse Dinge hundertmal vornehmen und kriege sie trotzdem nicht hin.
Nun sagte meine Freundin: „Ich glaube, das ist ein sehr grundsätzliches Problem. Mir scheint, es hat mit der Frage zu tun, ob man überhaupt leben will.“ Ich war entsetzt. Natürlich will ich leben, das ist doch gar keine Frage. Also protestierte ich: „Das ist mir zu radikal. Ich glaube, es hat eher damit zu tun, wie ich leben will.“ Meine Freundin sehr energisch: „Nein. Du willst nicht ungesund leben, krank sein, weil du keinen Sport treibst, erschöpft, weil du dir keine Pausen gönnst, überfordert, weil du dich ständig unter Druck setzt. Das willst du gar nicht. Aber das gute Leben, in dem du für dich sorgst, in dem du auf dich acht gibst, in dem du genießt, das willst du offenbar auch nicht haben. Also – willst du überhaupt leben?“
Diese recht provokante Frage lässt mich seitdem nicht mehr los. Hat meine Freundin recht mit ihrer Behauptung? Will ich überhaupt leben? Verweigere ich mich dem Leben, indem ich nicht für mich sorge? Oder ist es nicht doch auch völlig in Ordnung, ein „Sparflammenleben“ zu führen? Wer sagt denn, dass man unbedingt Sport treiben muss? Hängt davon mein persönliches Glück ab? Oder haben die Erfolgstrainer doch recht, und ich habe bisher nie wirklich bewusste Entscheidungen getroffen?
Nach einigem Grübeln wird mir eins klar: Dass ich leben will, habe ich vor sehr langer Zeit sehr bewusst entschieden, in einem äußerst finsteren Moment meines Daseins. Seitdem ist für mich klar: Ich bleibe hier, bis mein Körper nicht mehr mitmacht. Für mich geht es nicht um das Ob, sondern nur um das Wie. Und da hat meine Freundin natürlich recht: Im Grunde ist mir dieses schluffige Sparflammenleben zuwider. Ich möchte rausgehen, mir den Sturm um die Nase fegen lassen, an meine Grenzen gehen – und vielleicht auch darüber hinaus. Andererseits – was heißt denn das nun wieder? Tobte in meinem Inneren in der letzten Zeit nicht ein recht ordentlicher Orkan? Reicht das nicht an Abenteuern? Fallschirmspringen, Nobelpreise gewinnen und Männer vernaschen kann ich doch immer noch später. Und falls dieses Später nicht mehr kommt, ist mein Leben dadurch doch nicht weniger lebenswert.
Während wir Tee trinken und frischgebackene Plätzchen essen, erzählt Frau W., meine biedere, alte Nachbarin, dass sie in den nächsten Tagen mit ihrer Malgruppe zu einer Ausstellung in die Boutique Bizarre auf der Reeperbahn gehen will. Und sie beklagt sich über ihre langweiligen alten Freundinnen, mit denen sie immer weniger anzufangen weiß, weil sie sich für nichts mehr interessieren. Das zeugt von so viel Lebensfreude, dass ich mir wünsche, mit 80 ähnlich gut gelaunt zu sein. Ja, denke ich, es hat doch was mit dem Wollen zu tun, mit der bewussten Entscheidung, ein Leben auf diese oder jene Weise zu führen. Warum man allerdings das eine will und das andere tut, weiß ich trotzdem noch nicht.
Wohnzimmer - feinstrick - 9. Okt, 19:56
12 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
la-mamma - 9. Okt, 21:36
ich find diesen beitrag sehr klug.
feinstrick - 14. Okt, 19:42
Vielen Dank.
arboretum - 10. Okt, 11:35
Ich glaube, es läuft eher auf die Frage hinaus, was man sich zugesteht oder ob man insgeheim glaubt, das gute, schöne Leben, Liebe, Erfolg usw. im Grunde gar nicht zu "verdienen" bzw. irgendwelche anderen Botschaften verinnerlicht hat, die dem zuwider laufen.
feinstrick - 14. Okt, 19:43
Das mit dem "verdienen" ist so eine Sache, ja. Wir tragen ja unbewusst alle irgendwelche seltsamen Glaubenssätze mit uns herum, was für uns gut ist oder nicht und was uns zusteht oder nicht.
bonanzaMARGOT - 14. Okt, 18:23
ich habe so ziemlich dasselbe problem. wer leben will, muss sich einmal im leben gegen das leben entschieden haben. also richtig, meine ich. und wenn man das mal überwunden hat, ist man sich klar, dass man nichts anderes als leben will. nur stellt sich einem dann die frage: "was gehört zu meinem leben (bzw. was nicht)?"
feinstrick - 14. Okt, 19:44
Genau. Und diese Frage scheint man manchmal ein Leben lang nicht richtig beantworten zu können.
Noga (Gast) - 20. Okt, 14:23
Ich finde bei dieser Frage das Konzept vom "inneren Team" aus der Kommunikationspsychologie (Schulz von Thun) sehr hilfreich um die unterschiedlichen Impulse in mir miteinander ins Gespräch zu bringen.
perlentaucherin - 2. Nov, 21:50
klingt interessant.(thun)
oft empfinde ich auch den widerstreit der unterschiedlichen stimmen/anteile in mir als nervig. zeitweise nannte ich mich die personifizierte ambivalenz, weil es so ausgeprägt war. inzwischen versuche ich jedem teil einen platz in mir einzuräumen. (fast) alles darf sein. ich bin das ganze verquere durcheinander.
oft empfinde ich auch den widerstreit der unterschiedlichen stimmen/anteile in mir als nervig. zeitweise nannte ich mich die personifizierte ambivalenz, weil es so ausgeprägt war. inzwischen versuche ich jedem teil einen platz in mir einzuräumen. (fast) alles darf sein. ich bin das ganze verquere durcheinander.
Frentium (Gast) - 13. Nov, 13:06
Ich denke, dass wir in einer Zeit leben, die es einem jeden Menschen sehr schwer macht die ureigenen Wünsche von denen, die man mit dem Brandeisen der Werbung aufgedrückt bekommen hat, zu unterscheiden. Deshalb ist man auch so leicht unglücklich bzw. unzufrieden, weil es das "Werbeleben" eben nicht gibt. Kommt man beim Eigentlichen an, dann wird man auch schneller zufrieden, denn das was man dann noch will, das ist vergleichsweise wenig. Leider ist die Unruhe in der Welt so, dass man sich das ständig aufs Neue klarmachen muss, jedenfalls geht mir das so. Und Wochen, in denen meine Erkenntnis wieder total den Bach runtergeht, die gibt es leider auch immer noch...
rosmarin - 20. Nov, 19:05
gibt's denn auch bei soviel unbedingtem leben auch noch zeit für's blögchen???
lg Ro
lg Ro
feinstrick - 20. Nov, 19:50
Öhm, ja ... das ist in der Tat im Moment ein Problem ...
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