Kinderzimmer
Ich telefoniere mit meiner sechsjährigen Schweizer Nichte.
Sie: „Was machst du grade?“
Ich: „Ich stehe im Wohnzimmer und schaue aus dem Fenster.“
Sie: „Du schaust aus dem Fenster? Warum denn das?“
Ich: „Ach, da sieht man so viele spannende Dinge. Jetzt sehe ich zum Beispiel gerade, wie der Briefträger mit seinem Fahrrad vor unserem Haus hält.“
Sie: „Ja, aber warum schaust du aus dem Fenster?“
Ich: „Weil hier in meiner Wohnung nichts los ist. Da ist ja niemand.“
Sie: „Dann musst du dir einen Freund suchen. Der Pascal (ihr Patenonkel) hat jetzt auch eine Freundin. Die ist immer da, das ist gut.“
Ich: „Das ist wirklich eine gute Idee. Vielleicht musst du mal einen Freund für mich suchen.“
Sie: „Aber das geht doch nicht. Dann finde ich einen, und der ist dann hier bei mir, und du bist bei dir.“
Ich: „Das stimmt natürlich, das ist blöd. Also musst du nach Hamburg kommen.“
Sie: „Ja, das geht, das kann ich machen. Dann komme ich mal zu dir und suche dir einen Freund.“
Werte Herren, falls Ihnen also demnächst ein kleines Mädchen über den Weg läuft, das Schweizerdeutsch spricht und überprüft, ob Sie als Freund für mich taugen, wissen Sie Bescheid. Scheuen Sie sich nicht, Ja zu sagen. Wir könnten dann gemeinsam aus meinem Fenster schauen, das ist gar keine so üble Sache.
Ich führe ein sehr eigenes, eher unkonventionelles Leben. Ich habe einen bunten Freundeskreis, ein schräges Liebesleben, einen abwechslungsreichen Job. Je älter ich werde, desto mehr genieße ich dieses Leben voller Freiheit und Unabhängigkeit. Allerdings bin ich auch viel allein. Ich arbeite allein und lebe allein. Manchmal fühle ich mich deswegen einsam und traurig. Manchmal fürchte ich auch, zur Eigenbrötlerin zu werden und die Stille in meinem Alltag nicht aushalten zu können. Dann telefoniere ich stundenlang mit Freunden. Oder ich treffe meine Familie. Das erdet mich am meisten.
In ihrem Zweitleben verwandelt sich der Großstadtsingle Frau Feinstrick nämlich in Käthe, die Tante von fünf Kindern. Dann tobe ich ohne Rücksicht auf Verluste durch Wald, Wiesen und Wohnzimmer. Ich verstecke mich in Flurschränken und unter Betten, kämpfe verbissen beim Mensch-ärgere-dich-nicht um meine Ehre, verliere haushoch beim Kartenspielen, trage Feenflügel, begleite kleine Prinzen zur Toilette und halte kleinen Prinzessinnen, denen im Auto schlecht wird, die Kotztücher. Ich lese Geschichten vor, gucke Kinderfilme, schneide Grimassen, kugele mich vor Lachen am Boden, japse beim Wii-Spielen nach Luft und verrenke mir beim Bowling den Rücken. Ich wische Krokodilstränen ab und puste Schmerzen fort, höre mir Wünsche und Träume an, Ängste und Sorgen, und seltsame Geschichten ohne Pointe.
Ich bin die Tante, von der ich als Kind immer geträumt habe. Meine Onkels und Tanten waren toll, weil sie mir schöne Geschenke gemacht haben. Aber sie interessierten sich nie wirklich für mich. Sie spielten nie mit mir und nahmen mich nicht ernst. Zwischen uns herrschte eine Distanz, die sich ein Leben lang nicht überbrücken ließ. Wenn sie zu Besuch kamen, musste ich im schicken Kleid brav an einer festlich gedeckten Kaffeetafel sitzen und artig höfliche Fragen von Tante Hilde und Onkel Günter beantworten. Die waren mir weder in schweren Zeiten eine Stütze, noch in guten Zeiten Vorbilder, von denen ich lernen konnte.
Ob ich für „meine“ Kids ein Vorbild bin, weiß ich nicht. Auf jeden Fall bin ich ihnen allen eine Gefährtin, die sie lieben, zu der sie Vertrauen haben, mit der sie kuscheln (undenkbar mit Tante Hilde und Onkel Günter!) und gemeinsam auf einem Matratzenlager übernachten wollen (erst recht undenkbar mit Tante Hilde und Onkel Günter). Ich verbringe Urlaube in Ferienparks, in die ich freiwillig nie einen Fuß setzen würde. Ich nehme es in Kauf, tagelang nicht richtig zu schlafen und tagsüber ständig beansprucht zu werden. „Spiel mit mir! Geh mit mir schwimmen! Lies mir was vor!“, ruft ständig wer, und ich nicke ergeben und sage zu allem Ja. Ich weiß, wir haben nur diese wenigen Jahre gemeinsam, bevor die Kinder hinaus ins Leben gehen. Kostbare Jahre, die ihre kleinen Leben nachhaltig prägen. Später erinnern sie sich vielleicht nicht nur daran, wie sie im Weihnachtsurlaub bis spät in die Nacht miteinander in ihren Betten gekichert haben. Vielleicht erinnern sie sich auch daran, dass ich mit ihnen mitgekichert habe.
Nach fünf Tagen mit fünf Kindern kehre ich erfüllt nach Hause zurück. Die Stille kommt mir im ersten Moment seltsam vor, aber schnell genieße ich es wieder, das Fernsehprogramm selbst aussuchen zu dürfen, niemanden zwischendrin zu Bett bringen zu müssen und heute bis nachmittags am Frühstückstisch sitzen zu können. Aus Käthe wird wieder Frau Feinstrick, die schräge Texte twittert, auf den Anruf ihres Liebhabers wartet und Pläne schmiedet, in denen Kinder so gar nicht vorkommen.
Nach harter Arbeit wollte ich mir heute den Luxus eines Nachmittags auf der Wiese gönnen, entspannt und ruhig mit Blick auf die Elbe und in den Sommerhimmel. Mit Elbe und Himmel haute es soweit hin, mit der Ruhe leider nicht. Dummerweise hatte ich nämlich eine Ecke des Parks erwischt, in der sich sämtliche Jungmütter des Viertels versammelt hatten, um ihren lieben Kleinen ein bisschen die große, weite Welt zu zeigen. Um Missverständnisse gleich mal auszuräumen: Ich mag Kinder.
Was ich nicht mag, sind Eltern, die von Erziehung keine Ahnung haben. Und davon gibt es leider ziemlich viele. Zugegeben, gerade so ein „Erstling“ kann einem schon mal Sorgen bereiten, und vermutlich machen alle Eltern beim ersten Kind sehr viel falsch. Gerade neulich sagte mir eine Mutter von drei Kindern: „Eigentlich müssten alle Eltern mindestens vier Kinder bekommen, um der Welt brauchbaren Nachwuchs hinterlassen zu können, denn die ersten beiden sind doch nur Versuchsobjekte.“ Mit dieser Aussage im Hinterkopf würde ich sagen: Von den Kindern, die ich heute im Park sah, ging der Erziehungsversuch leider bei der Hälfte schief.
Die eine Hälfte der Babys und Kleinkinder (und um diese Altersgruppen handelte es sich hier ausnahmslos) war nämlich ruhig, friedlich und ausgeglichen. Sicher gab es mal Protest, wenn eine Windel gewechselt wurde, oder eine lautstarke Erinnerung, dass Essenszeit war. Das gehört dazu und ist völlig normal. Nicht normal ist aber, wenn so ein Kind den ganzen Nachmittag in einer Tour laut seinen Unmut äußert – mal erbost, mal verzweifelt, mal schon kurz vor der Hysterie. Dann ist Handeln geboten. Aber dieses Handeln habe ich bei den Müttern der Schreibabys durchweg vermisst. Offenbar stand in keinem ihrer Ratgeber, was zu tun ist, wenn das Kind nicht zur Ruhe kommt. Oder sie haben einen dieser Abhärtungsratgeber gelesen, in denen behauptet wird, es sei wichtig, dem Kind zu zeigen, dass es nicht ständig seinen Willen durchsetzen kann, und ein bisschen Schreien habe ja noch niemandem geschadet. Der Meinung bin ich nicht. Ein Baby schreit nicht, weil es bockig ist. Ein Baby schreit nur, weil etwas nicht in Ordnung ist. Und dafür gibt es eigentlich nur vier Gründe:
1. Es hat Hunger
2. Es ist müde
3. Es tut ihm was weh (meistens der Bauch)
4. Ihm ist es zu warm oder zu kalt
Beim Kleinkind kommen gerne noch die Zähne als Schmerzquelle hinzu. Das war es aber im Prinzip. Alle diese Schreigründe verschwinden nicht von selbst. Vielmehr bist du, liebe Mutter, hier gefordert. Und das geht so:
1. Hunger: Gib dem Kind die Brust oder die Flasche. Wie – du traust dich nicht, hier mitten im Park deinen BH zu öffnen? Dann solltest du während der Stillzeiten lieber zuhause bleiben. Du hast die Flasche vergessen, weil du dachtest, ihr wärt schneller wieder daheim? Ach, aber an den Schokoriegel für dich selbst haste gedacht.
2. Müdigkeit: Das ist in der Tat so ein Kapitel für sich. Jedes Kind braucht da eine andere Methode. Finde sie raus und glotz nicht nur teilnahmslos in die Gegend, während dein übermüdetes Kind kurz vorm Hyperventilieren ist! Vielleicht hilft Bewegung. Also auf, auf, trag deinen Liebling dreimal um den Park. Oder schieb den Kinderwagen quer durch die Stadt. Das sanfte Schaukeln ist auch herrlich beruhigend. Vielleicht möchte das Kind aber auch nur in deinen Armen gehalten werden und deinen Herzschlag hören. Oder es braucht ein Tuch über den Augen. Oder totale Stille. Oder es will einfach nur nach Hause und in sein Bett, weil es keine Lust auf das Entertainment-Programm hat, das du ihm aufgeladen hast. Morgens Babyschwimmen, mittags mit der neuesten Baby-Kollektion für Oma und Opa modeln, nachmittags Krabbeln mit Lisa-Marie im Park - das ist vielleicht ein bisschen viel. Denn bloß, weil du selbst es nicht erträgst, nur alleine mit deinem Kind zuhause zu sein, findet dein Schätzchen diese ganze Action noch lange nicht gut. Babys brauchen nämlich kein Entertainment. Die brauchen Essen, Schlaf und Liebe. Kleinkinder wollen zwar schon ein bisschen mehr von der Welt entdecken, aber das ist alles so extrem aufregend, dass es in kleiner Dosierung vollkommen reicht. Stress werden sie auch so in ihrem Leben noch genug haben. Also, fahr mal ein paar Gänge runter, dann wird dein Kind von selbst ruhiger.
3. Es tut was weh. Schon mal was davon gehört, dass ein Bäuerchen nach dem Essen Wunder wirkt? Der Po ist ständig wund? Tja, liebe Mama, dann musst du eben mal ne Weile auf die Zitrusfrüchte verzichten, deren Säure dein Kind mit der Milch aufnimmt. Du findest die Schmerzquelle nicht raus? Dann solltest du deinen Arzt fragen. Und zwar schnell. Wenn dein Auto komische Geräusche macht, bist du doch auch sofort beunruhigt.
4. Die Temperatur stimmt nicht. Das ist auch wieder so eine Sache. Kinder können ihre Körpertemperatur noch nicht so gut regulieren wie Erwachsene. Daher reagieren sie auf Hitze und Kälte empfindlicher. Babys, die immer ruhig und lange schlafen, sind ordentlich eingepackt und gut gegen Hitze und (was bei uns ja wichtiger ist) Kälte geschützt. Es mag übertrieben vorsichtig wirken, ihnen bei leichtestem Wind eine Mütze über die Ohren zu ziehen. Aber wer selbst als Kind mal eine Mittelohrentzündung hatte, weiß, wie schmerzhaft die ist. Es kann sein, dass du selbst schwitzt. Das muss noch lange nicht heißen, dass dein Kind darum halbnackt in seinem Wagen liegen kann.
Ich weiß, manchmal findet man einfach nicht raus, woran es liegt, dass das Kind so unruhig ist. Dann wirkt ein Schnuller oft Wunder. Die guten Stücke scheinen aber bei modernen Müttern uncool zu sein. Warum, ist mir ehrlich gesagt nicht ganz klar. Was in jedem Fall niemals hilft: So zu tun, als gehöre das mit dem Schreien so. Das tut es keinesfalls.
Du findest mich jetzt anmaßend, weil ich als kinderlose Singlefrau ja gar nicht weiß, wie schwierig das ist, wenn man ein Schreibaby hat? Was soll das überhaupt sein, so ein Schreibaby? Die gab’s ja früher auch nicht, als Kinder noch in Ruhe aufgewachsen sind. Ich kann dazu nur sagen: Da, wo ich unruhige Babys sehe, sind hektische Eltern nicht weit. Und von wegen, ich hätte keine Ahnung: Deinem Gynäkologen glaubst du ja auch, obwohl der noch nie eine Menstruation hatte, von einer Schwangerschaft ganz zu schweigen.
So, das musste einfach mal raus. Ich genieße jetzt einen ruhigen Abend auf meinem Balkon – nachdem auch das arme Schreibaby in meiner Nachbarschaft sich endlich voller Verzweiflung in den Schlaf gebrüllt hat.
Meine neunjährige Nichte hat immer ziemlich gute Ideen. So schlug sie mir mal vor, ein Foto von mir auf Cornflakes-Packungen abdrucken zu lassen, um mehr Umsatz mit meinen Geschäften zu machen. Und neulich fragte sie mich, warum ich mein Geld nicht lieber mit dem Malen von Bildern verdienen will:
„Die Bilder kannst du auf dem Flohmarkt verkaufen. Viele Menschen interessieren sich für Kunst. Vor allem alte Leute.“
Sie hat nicht gesagt, ob sie mich auch für alt hält. Dafür hat sie mir erklärt, warum sie glaubt, ich hätte eine künstlerische Ader, obwohl ich überhaupt nie male:
„Dein Vater konnte das doch so gut. Und irgendwo muss das doch geblieben sein.“
Ich bin überrascht, was das Kind für Zusammenhänge herstellt, zumal es meinen Vater, seinen Großvater, gar nicht mehr kennen gelernt hat. Aber sie hat Recht. Die Kreativität habe ich eindeutig von meinem Vater geerbt. Und manchmal wünschte ich, ich würde mehr mit meinen Händen arbeiten und weniger mit dem Kopf. Nur leider fehlt mir dafür in jeder Hinsicht die Übung und Erfahrung. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Sollten Sie also eines Tages eine alte Frau selbstgemalte Bilder auf dem Flohmarkt verkaufen sehen, dann könnte es sich dabei durchaus um mich handeln. Schauen Sie mal auf Ihrer Cornflakes-Packung nach, das Foto darauf hilft Ihnen vielleicht beim Identifizieren.
Wir stehen gemeinsam am Grab, und auf einmal scheint die Zeit rückwärts zu rennen, und es kommt uns so vor, als sei das alles erst gestern geschehen. Wir schlucken beide wie verrückt unsere Tränen runter, wie früher wollen wir uns nicht diese Blöße geben, einander nicht zeigen, wie schwach wir eigentlich sind. Doch wir wissen genau, wie schwer uns beiden dieser Verlust immer noch fällt, immer wieder, heute manchmal fast stärker als vor neun Jahren, weil wir erst im Laufe der Zeit gemerkt haben, was uns alles fehlt.
„Ich träume ständig von ihnen“, sagt mein Bruder.
„Ich auch.“
Wir schauen einander an, fast verlegen, verbunden in der gemeinsamen Erinnerung. In seinen Träumen werden sie immer wieder gesund, in meinen nicht. Aber in einem sind wir uns einig: Die Träume sind so real, dass wir beim Aufwachen noch die Gesichter sehen, die Stimmen hören, die Nähe spüren, so, als hätten wir die Beiden gestern erst zum letzten Mal gesehen.
Mein Bruder rennt los und kauft lauter Zeugs für das Grab. Er stellt kleine Keramikvögel auf den Grabstein, steckt bunte Käfer zwischen die Blumen und setzt eine fröhlich grinsende Schnecke in die Erde. Eigentlich passt das überhaupt nicht zu ihm. Es wirkt so kindlich. Und plötzlich sehe ich wieder den kleinen Jungen neben mir, der sich weinend an die Mama klammert, weil er nicht alleine in den Kindergarten gehen will. Ich glaube, sie fehlt ihm noch viel mehr als mir.
Dann sprechen wir über damals, diese schreckliche Zeit des Abschiednehmens, und wir halten uns dabei an den Dingen fest, die uns zornig machen. Am Schluss streiten wir uns sogar ein bisschen. So ist es leichter, den Schmerz zu ertragen.
„Schlaft schön, Mama und Papa“, sage ich leise, als wir gehen. Ich weiß nicht, ob mein Bruder es noch hört. Er eilt schon wieder los, das Handy am Ohr, zurück in die Gegenwart, die von ihm Stärke und Lebendigkeit fordert, und in der nur wenig Platz ist für den kleinen, sensiblen Jungen und seine sehnsüchtigen Erinnerungen.
„Abends ist es immer am schlimmsten“, sagt sie, und ihre Augen sehen dunkel und traurig aus. Ich nehme sie ganz fest in die Arme und versuche, sie zu beruhigen und zu beschützen.
„Ja, Süße, ich weiß, wie das ist, wenn man im Bett liegt und voller Sehnsucht an all seine Lieben denkt und sich fragt, was sie jetzt wohl grade tun.“
Ich denke an die vielen, vielen Male in meinem Leben, in denen ich selbst Heimweh hatte, dieses schmerzhafte Gefühl von Verlorenheit, von Sehnsucht nach Geborgenheit und Nähe. Ich weiß, so sehr ich ihr auch meine Liebe zeige, so fest ich sie auch in die Arme schließe oder sie ablenke – ich werde ihr die Sehnsucht nicht nehmen können. Die Sehnsucht nach dem Schutz, den einem nur die eigene Mutter schenken kann, das satte Gefühl von zuhause sein, angekommen sein, eins sein mit ihr.
Ich habe heute noch manchmal Heimweh. Einerseits ist es das klassische Heimweh nach „Zuhause“, wenn ich irgendwo bin, wo ich mich überhaupt nicht wohl fühle und nichts weiter will, als zurück in meine eigenen vier Wände, in denen ich ganz ich sein kann und darf. Andererseits ist es aber eben auch dieses tiefe, nie ganz gestillte Verlangen nach der Geborgenheit mütterlicher Arme, nach dem einzigen Menschen auf dieser Welt, bei dem ich immer willkommen war, ausnahmslos immer.
Warum Heimweh besonders abends auftritt, weiß ich nicht. Vielleicht, weil man sich nachts immer am schutzlosesten fühlt und kurz vor dem Einschlafen auch keinerlei Ablenkung mehr hat. Interessant ist übrigens, dass sich die Wissenschaft offenbar kaum mit dem Phänomen Heimweh auseinander setzt, obwohl Menschen daran regelrecht erkranken können, bis hin zum Tod. Ebenfalls interessant ist, dass noch heute Leiter von Jugendgruppen der Ansicht zu sein scheinen, das beste Mittel gegen Heimweh sei Ablenkung, wohingegen Trost in welcher Form auch immer nicht angebracht sei.
Ich halte nichts davon, Kinder „abzuhärten“. Das Leben ist hart genug, ohne dass ich künstliche Härte und Strenge in Situationen walten lasse, in denen das aus meiner Sicht überhaupt nicht notwendig ist. Die Strenge, mit der ich erzogen wurde, führte dazu, dass ich nachts heimlich im Bett weinte, weil ich mich nicht traute, meine Tränen offen zu zeigen. Sie führte auch dazu, dass ich krank vor Heimweh wurde, ohne überhaupt zu begreifen, was da los war und ohne die Möglichkeit zu haben, mit jemandem darüber reden zu können. Das möchte ich den Kindern, die in meinem Umfeld aufwachsen, ersparen.
Ich habe daher das Mädchen getröstet, das heute bei mir übernachtet. Wir haben ausführlich über Heimweh geredet, und zwar sowohl über ihrs als auch über meins. Ich habe ihr – natürlich! - auch gestattet, abends fast stündlich bei ihrer Mutter anzurufen, beim ersten Mal weinend, später schon viel entspannter. Jetzt liegt die Kleine mit ihrem Teddy im Arm in meinem Bett und schläft fest, während ich neben ihr am Schreibtisch sitze.
Die Sehnsucht wird uns beide vielleicht auch heute Nacht begleiten. Doch sie ist erträglicher, wenn man weiß, dass man nicht alleine damit ist.
Die kleinen Gedankenblitze zwischendurch, die keinen ganzen Blogbeitrag hergeben, können Sie jetzt rechts in der Sidebar unter "Käthe twittert" oder direkt
hier nachlesen. Einige dieser Mini-Ideen würden sich vielleicht doch auch zu einer längeren Geschichte ausweiten lassen, aber ich bin im Moment oft etwas faul und gleichzeitig immer noch kindisch genug, so einen Blödsinn wie Twitter mitzuspielen. Außerdem habe ich auf diese Weise bereits einige hübsche Blogs (wieder-)entdeckt, denn Blogger sind die geborenen Exhibitionisten, und nur so jemand findet Gefallen daran, aller Welt zu erzählen, wann er aufgestanden ist, was es zum Abendessen gab und ob die Verdauung gut funktioniert. Da Exhibitionisten offenbar gleichzeitig auch immer Voyeure sind, lesen sie eifrig bei ihren Mitspielern nach, wie die sich mit dem Wickeln der Kinder abmühen, dass ihr Chef ein A***loch ist und sie sich gestern beim Yoga den Rücken verrenkt haben. Alle anderen, ganz normalen Menschen bitte ich um Nachsicht. Ich weiß, das muss alles sehr, sehr seltsam für Sie klingen.