Donnerstag, 11. November 2010

Nackt

Ich rieche so wahnsinnig gut, sagt er, das sei ihm schon bei unserem allerersten Treffen aufgefallen. Es sieht so aus, als wolle er noch etwas sagen, aber er wendet den Kopf ab und schweigt. Er ist an mir interessiert. Das kapiere sogar ich, die in solchen Dingen in den vergangenen Jahren komplett blind geworden ist.
„Stimmt, ich habe dich noch nie nackt gesehen“, sagt er kurz darauf, als ich feststelle, dass wir uns seltsamerweise immer nur an lausig kalten Wintertagen treffen. Ich lache nervös und mir schießen tausend Erwiderungen durch den Kopf, aber am Ende sage ich irgendwas Belangloses, Unverfängliches.

Später, zuhause, lasse ich mir das mit der Nacktheit durch den Kopf gehen. Ich stelle mir vor, wie das wäre, wenn er mich wirklich nackt sehen würde. Unbehagen beschleicht mich, das ich nicht richtig einordnen kann.
Dann erinnere ich mich an all unsere Gespräche. Sie waren immer intensiv, immer sehr offen, egal ob es um Berufliches oder Privates ging. Manchmal war ich hinterher total erschöpft und hatte das Gefühl, dass er mich komplett ausgezogen, bis auf die tiefsten Gründe meiner Seele entblättert hatte. Ich weiß nicht, wie er das macht, und es ärgert mich, weil ich mir dabei so klein und hilflos vorkomme. Es liegt nicht an den Dingen, die ich ihm erzähle. Manche Menschen erfahren viel, viel mehr von mir – aber das geschieht in einem deutlich entspannteren Rahmen, ja, ich dränge mich ihnen gelegentlich fast auf mit meinen abgründigen Geschichten. Bei ihm ist das anders. Ich sitze wie ein Schulmädchen vor ihm, das vom Lehrer nach seinen Hausaufgaben gefragt wird.
Wieder beschleicht mich Unbehagen, diesmal aus anderen Gründen.

Ich schreibe ihm, dass ich mich sehr wohl schon vor ihm ausgezogen habe, im übertragenen Sinne, und dass ich mich frage, welche Nacktheit eigentlich schwerer wiegt, die körperliche oder seelische. Vermutlich die, bei der man sich verletzlicher fühlt, antwortet er.
Das seelische Entblättern ist für mich ihm gegenüber eine Qual, gemessen daran scheint das körperliche kinderleicht zu sein. Ich habe mich oft genug in meinem Leben vor einem Mann ausgezogen, das ist keine große Sache, warum sollte das bei ihm anders sein?

Dann betrachte ich mich eingehend im Spiegel. Und ich fange an zu rechnen. Geradezu schockiert erkenne ich, wie lange es her ist, seit ich mich das letzte Mal vor einem fremden Mann ausgezogen habe. Und auch mein letzter Sex scheint in der Steinzeit stattgefunden zu haben. Trug man damals nicht noch Dauerwelle und war Elvis in den Top Ten? Das an sich wäre vielleicht noch gar nicht so schlimm. Gewisse Dinge verlernt man schon nicht, das ist wie beim Fahrradfahren, hoffe ich wenigstens.
Aber etwas Grundlegendes hat sich seit damals verändert. Ich bin ein beachtliches Stück gealtert, körperlich jedenfalls. Ich habe an den unpassendsten Stellen zugenommen, und zwar nicht zu knapp. Ich habe eine Menge Falten, noch mehr Cellulite und erste Ansätze zum Doppelkinn bekommen. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag, dass es kein großer Unterschied ist, ob man mit 25 eine Affäre beginnt oder mit 35. Wenn man aber schon jenseits der 40 ist, dann verändern sich gewisse Dinge dramatisch, jedenfalls bei Frauen. Zwischen Mitte dreißig und Mitte vierzig passiert etwas. Mir ist schon oft aufgefallen, dass ich auf der Straße von Männern nicht mehr so angeschaut werde wie früher. In der Single-Börse hatte ich kaum Kontaktanfragen. Und ich selbst habe angefangen, meinen Körper zu ignorieren, weil das, was ich fühle und im Spiegel sehe, nichts mehr mit der Frau zu tun zu haben scheint, die ich jahrzehntelang war.

Auf einmal wird mir klar, dass ich fast mehr Angst habe als damals vor Jahrzehnten, vor meinem allerersten Mal. Die Vorstellung, diesen Altweiberkörper einem Mann zu präsentieren, ist gruselig für mich. Verwundert und erschrocken erkenne ich, dass meine Unbekümmertheit, mein Selbstbewusstsein in den letzten Jahren, zusammen mit dem durchtrainierten, straffen Körper einer jungen Frau, völlig verschwunden sind. Verängstigt verkrieche ich mich wieder und beschließe, dass mir weder körperlicher noch seelischer Striptease im Moment gut tut. Beides lässt mich verletzlich werden, und Verletzungen wurden mir genug zugefügt, da reicht mein Vorrat noch für Jahre.

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giardino - 11. Nov, 11:39

Da hilft nur Vertrauen. Ich glaube, dass es seinen Grund hat, wenn es einem vor einem bestimmten Menschen unangenehm bleibt, sich zu entblättern - egal ob Seele oder Körper. Umgekehrt bin ich davon überzeugt, dass man bei den "richtigen" Menschen durch alle Angst vor Verletzung hindurch trotzdem spürt, dass die Nacktheit bei ihm gut aufgehoben ist und dass man mit einem liebevollen Blick angeschaut wird. Auch wenn das eine oder andere Bindegewebe nicht mehr so aussehen mag wie mit 20.

feinstrick - 11. Nov, 15:07

Das hast du sehr schön beschrieben. Danke!
rosmarin - 13. Nov, 19:41

nackt.... finde ich mittlerweile wurscht. nachdem ich mich abgefunden habe, mit den jahren, die sich in schenkeln, bauch und brüsten abzeichnen. aber verletzbar..... das werde ich zunehmend.
das hätte ich früher nicht gedacht, dass man mit fortschreitendem alter an verletztbarkeit zu- statt abnimmt. andererseits... nehmen ja auch die pölsterchen und falten und die hängepartien zu. äusserlich nehm ich sogar zu, obwohl ich kilotechnisch abnehme.
ein "gesetztes alter" fällt mir ein. mein körper setzt sich zunehmend. aber wurscht. nur das seelchen hängt bibbernd in der luft und das ist nicht wurscht.

feinstrick - 13. Nov, 22:32

Das Komische ist: Mir ist mein Äußeres auch immer mehr wurscht - solange kein Mann im Spiel ist. Dann aber wird mir schlagartig klar, wie wurscht mir in letzter Zeit alles war, und dass es da gewisse Defizite gibt. Und prompt werde ich panisch. Das sensible Seelchen ist noch mal ein ganz anderes Thema. Das wird an manchen Stellen dickhäutiger und an anderen dafür fast durchsichtig. Hmpf.
romeomikezulu - 14. Nov, 10:27

Wenn er Dich "gut riechen" kann, ist das schon mal eine sehr gute Basis.
Der Geruchssinn "färbt" nämlich auch die anderen Sinneswahrnehmungen in einem gewissen timbre ein.
Und wer sich als Mann (genauso wie als Frau) für einen mittvierziger-Gebrauchtwagen ernsthaft interessiert, weiß, dass er ein paar Kratzer im Lack und womöglich eine etwas hakelige Schaltung mitkauft.

Dass die 1a-Ware auf dem Markt (junge attraktive Menschen in den Twenties) die Ü35er als Luft betrachtet, ist eine Erfahrung, die nicht nur Frauen vorbehalten ist und ich kann Dir versichern, sie ist für einen Mann nicht minder schmerzhaft.
Ein erwachsener, gestandener Mann weiß um seine Position auf dem Markt, hat selber schon die Erfahrung gemacht, wie es ist, wenn die Blicke eben nicht mehr ihn treffen, wenn er sprichwörtlich wie Luft ist.
Wenn über irgendwas unter Männern nicht gesprochen wird, dann darüber, und ich halte es für das am Meisten unterrepräsentierte Thema in Blogs ;-).

Was ich Dir sagen wollte, war:
Du wirst sicher ein Gespür dafür entwickelt haben, ob er jemand ist, dem es auch schon so gegangen ist und der weiß, wo er steht und -vor Allem- für wen er interessant ist.
Und das Andere ist: Niemand auf der Welt sieht den Menschen mit jenen Augen, die ihn selbst im Spiegel betrachten. So kritisch ist Niemand auf der Welt.

Was eigentlich ja eine richtig gute Nachricht ist ;-).

feinstrick - 14. Nov, 13:22

Dann wird es aber höchste Zeit, dass ihr Männer das Thema mal in euren Blogs aufgreift. Mutige voran! ;-). Mir fällt da grade auf, dass es zunehmend Romane gibt, die sich mit der Frau ab 40 befassen (wobei es leider meistens diese Sorte "lustiger" Unterhaltungsromane ist, die ich so gut wie nie lese), aber über Männer, die in der Sinnkrise stecken, gibt es eher nichts. Oder täusche ich mich da?

Und ja, es ist tatsächlich eine gute Nachricht, dass mich niemand so kritisch beäugt wie ich mich selbst. Hab ich auch schon mal irgendwo gehört, vergesse ich aber in schöner Regelmäßigkeit immer wieder. ;-)
Captain (Gast) - 18. Nov, 14:45

Dann komme ich nun mal mit der Schock-Therapie: Auch Menschen über 60 haben noch Sex!!!! Boah, ey, digga!! Und (now comes the shocking part...): die haben dabei regelmäßig mehr Spaß als die "jungen attraktiven Menschen in den Twenties" (wenn ich das schon höre, muss ich gähnen). Ist es nicht das Privileg des über 40 seins, dass man sich mit dieser langweiligen ewigen Jugend nicht mehr rumschlagen muss, weil es eh egal wird? Das die unbestreitbare Endlichkeit des Lebens überhaupt erst wirklich dazu zwingt, es auch mal zu genießen?

Wenns zu schlimm wird: Licht aus! Wie soll man denn beim Sex lachen, wenn alles perfekt ist?
feinstrick - 18. Nov, 17:54

@captain: Stimmt. :-)
Ich amüsiere mich ja auch regelmäßig darüber, dass ausgerechnet die knackigen Zwanzigjährigen in der Sauna am meisten darum bemüht sind, so wenig Haut wie möglich zu zeigen, während uns "Alten" das alles ziemlich wurscht ist. Nur, das mit dem Sex wird plötzlich ganz merkwürdig, wenn man etwas aus der Übung gekommen ist. Da hat man (also: ich) auf einmal Ängste und Bedenken, die früher nicht da waren.

Licht aus? Nee, das geht ja gar nicht. Das wäre ja nur der halbe Spaß. Außer es gehört zur Verführung dazu ... hm ...
Captain (Gast) - 23. Nov, 11:53

Mir kommt gerade ein herrliche verschwörungstheoretischer Gedanke: Möglicherweise hat die EU die Energiesparlampen nur deshalb eingeführt! Man kann ja bei den Dingern in der Regel so gut wie gar nichts mehr sehen, zumindest nicht die ersten zehn Minuten. Und nun weiß ich auch warum: Er soll uns alten, total verfalteten Menschen den Spaß am Sex ermöglichen. Die meinen es doch einfach immer zu gut mit uns.

Im (ganz und gar) Dunkeln kann es übrigens so viel Spaß machen, dass ich hier ganz hibbelig werde.
feinstrick - 23. Nov, 13:03

@captain: Eine GRANDIOSE Überlegung. :-))) Zumal auch noch die Energiepreise immer mehr explodieren und wir bald gar nicht mehr heizen können. Da muss man ja unter die Decke kriechen und Sex haben, um nicht in der eigenen Bude zu erfrieren. Sehr clever eingefädelt ...

(Sex im Dunkeln kann extrem aufregend sein ... ich weiß auch das ...)

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