Starke Frauen
Da ist zum Beispiel Else, die Mutter meiner Mutter. Sie gehörte einer Generation an, der das Leben viel Disziplin und Härte abverlangte. 1908 geboren hat sie zwei Kriege miterlebt, Hungersnöte, Diktaturen und Besatzungsmächte. Ihr Vater war ein einfacher Mann, der mit einem großen Korb auf dem Rücken zu Fuß durch die Dörfer seiner sächsischen Heimat zog und Wäsche und Stoff verkaufte. Else musste ihm als junges Mädchen bei dieser schweren Arbeit zur Hand gehen. Durch viel Fleiß erlangte ihr Vater einen bescheidenen Wohlstand und gründete eine Bettfedernreinigung, in der er auch Bettwäsche, Handtücher und Nachtwäsche verkaufte.
Else heiratete mit 19 Jahren Karl, einen um viele Jahre älteren Standesbeamten. Vor der Ehe ging sie ein halbes Jahr auf eine Hauswirtschaftsschule, um Kochen und Nähen zu lernen, damit sie ihrem Mann in Vollendung den Haushalt führen konnte. Karl war „ein stattlicher Mann“, wie Else stets zu sagen pflegte. Ihr Leben lang sprach sie voller Achtung und Respekt von ihm. Ob sie ihn aus Liebe geheiratet hat, oder nur, weil er eine gute Partie war, weiß ich nicht, aber sicher ist, dass die beiden für damalige Verhältnisse eine gute Ehe führten. Die junge Frau betete ihren Mann an und ordnete sich vollkommen seinen Wünschen und Bedürfnissen unter. Dennoch blieb sie eine eigenständige Frau, die nicht nur vier Kinder in schweren Zeiten groß zog, sondern auch im Geschäft ihrer Eltern tatkräftig mithalf.
Den Krieg überstand die Familie einigermaßen gut, da ihr kleiner Ort nicht so im Fokus von Bombenangriffen lag wie etwa Leipzig oder Dresden. Dennoch hat meine Mutter viel von den Nächten im Keller erzählt, wenn Fliegeralarm herrschte und die Familie stundenlang Rommee spielte, um sich abzulenken. Wie Else diese Nächte empfunden hat, weiß ich nicht. Sie erzählte nur von den ganzen Hühnern und Ziegen, die ihr Vater im Hof hielt und schlachtete, um die Familie zu ernähren und davon, wie sie ihre Wertsachen und alles, auf dem ein Hakenkreuz abgebildet war, im Garten vergruben, als nach dem Krieg die Russen kamen.
Die Russen beschlagnahmten das komplette Haus und zwangen die Großfamilie, die hier mit mehreren Generationen unter einem Dach lebte, für einige Jahre in eine kleine Etagenwohnung umzusiedeln. Else erzählte gerne, wie der russische Kommandant sie eines Tages zu sich rief und sie voller Angst diesem Befehl nachkam. Sie fürchtete das Allerschlimmste, doch die russischen Soldaten wollten, wie sie erzählte, lediglich, dass sie ihnen Bratkartoffeln briet. Das war nun etwas, was meine Großmutter auch unter Zwang perfekt konnte. Falls der russische Kommandant doch noch mehr von ihr verlangte als ein schmackhaftes Essen, so hat sie das ganz tief in ihrem Inneren verschlossen und ihr Leben lang für sich behalten.
Sie verfügte über eine enorme innere Stärke, die ihr half, sich nie unterkriegen zu lassen. Im Hungerwinter 1946, als auch ihr Vater keine Tiere mehr zum Schlachten hatte, gingen Else und Karl hamstern. Bei Schnee und Eis zogen sie zu Fuß über die Dörfer und bettelten den Bauern ein wenig Nahrung ab. Einmal brach Karl, vom Hunger gezeichnet, auf dem Heimweg erschöpft zusammen. Er wollte seinen schweren, gut gefüllten Rucksack in einen Graben werfen und aufgeben. Da lud sich Else, die eine kleine, damals wohl auch recht zierliche Frau war, seinen Rucksack auch noch mit auf und trug die zentnerschwere Last alleine heimwärts.
„Zuhause warteten doch meine Kinder, und die hatten Hunger“, erklärte sie schlicht, wenn sie diese Geschichte erzählte.
Das Leben schenkte ihr auch in Zukunft nichts. Ihr Mann verlor seine Stelle, später wurde auch das Geschäft der Eltern enteignet. Die innerdeutsche Grenze trennte sie von ihren drei ältesten Kindern, die jüngste Tochter starb mit Anfang dreißig. Doch Else verlor nie ihre Zuversicht und ihren Glauben an das Leben. Als Karl starb, war sie gerade sechzig. Statt sich in das Leben einer alternden Witwe zu fügen, fing sie noch einmal ganz neu an. Sie verkaufte das Haus, in dem ihre Kinder aufgewachsen und ihre Eltern und ihr Mann gestorben waren, und übersiedelte von Sachsen in den Schwarzwald. Dort verwaltete sie fast 25 Jahre lang mit der ihr eigenen Disziplin und Energie ein Apartmenthaus mit Ferienwohnungen. Sie blieb bis ins hohe Alter eine Dame, die immer perfekt frisiert und adrett gekleidet war, die es verstand, sich so, wie sie es von ihrem Vater gelernt hatte, ihr Leben zu organisieren.
An ihrem großen dunklen Eichentisch im Esszimmer standen sechs Stühle, jeweils zwei breite Stühle mit Armlehnen an den Stirnseiten und kleine, schmalere Stühle ohne Armlehnen an den Längsseiten. Auf den Lehnstühlen mussten immer die ältesten Männer der Familie sitzen – mein Onkel, mein Vater, mein großer Bruder. Ihnen brachte Else den meisten Respekt entgegen. Dann erst kamen wir Frauen und Mädchen an die Reihe. Die äußere Unterordnung unter das Patriarchat war für Else alles andere als ein Gefängnis. Sie verschaffte ihr finanzielle und emotionale Sicherheit, aus der eine kleine, innere Freiheit erwuchs, die Else zu einer starken, unabhängigen und auch sehr zufriedenen und dankbaren Frau machte. Sie fügte sich nicht nur dem Willen der Männer, sie verstand es auch perfekt, sie für ihre Bedürfnisse einzuspannen. Bis ins hohe Alter hatte sie immer Männer um sich herum, die ihr zur Hand gingen und alles für sie machten, was sie nicht alleine konnte oder wollte. Als Belohnung für ihre Dienste durften die Männer dann auf ihren großen Lehnstühlen sitzen, was fast einem Ritterschlag gleichkam.
In dem Winter vor ihrem 87. Geburtstag wurde Else sehr krank. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie nicht mehr in der Lage, sich alleine zu versorgen. Ein paar Wochen lebte sie bei meinen Eltern und ich sehe sie noch vor mir im Nachthemd auf dem Bett sitzen, die langen, grauen Haare offen auf ihre Schultern fallend. Ich hatte nicht gewusst, dass ihre Haare, die sie immer kunstvoll hochgesteckt hatte, so lang waren. Einmal sah ich sie auf der Toilette sitzen, mit einem fast kindlichen Lachen winkte sie mir durch die offene Tür zu. Da wusste ich, dass meine Großmutter, die ihr Leben lang sehr schamhaft gewesen war und alles Intime vor anderen Menschen verborgen hatte, ihre Würde und damit auch ihr Leben verloren hatte. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie starb.
In diesem Jahr wäre Else 100 Jahre alt geworden. Meine Mutter hatte ihre innere Stärke geerbt und es damit sogar geschafft, im Laufe ihres Lebens auch äußere Grenzen zu überwinden. Ich glaube, dass ich ebenfalls über diese Stärke verfüge, obwohl ich mich immer wieder klein und ängstlich fühle. Aber ich gehe unbeirrt meinen Weg, egal wie steinig er oft ist, und ich lebe alles andere als ein konventionelles Leben. Eins könnte ich allerdings noch von meiner Großmutter lernen: Mich nicht immer nur dem Diktat von Männern zu beugen, sondern den Spieß auf elegante, unauffällige Weise umzudrehen und Männer für meine eigenen Zwecke einzuspannen, um komfortabler und bequemer leben zu können. Aber vielleicht braucht man so einen symbolischen Thron wie die Stühle meiner Großmutter, um eine echte Königin zu werden, wer weiß.
Dachboden - feinstrick - 6. Jul, 12:25
12 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
apriori (Gast) - 6. Jul, 13:20
Sehr schön Frau Feinstrick. Bei Maria, die im Mai 95 wurde, war die Stuhlgruppe original Gelsenkirchener Barock. Die Anordnung exakt die selbe. Entsprechend auch die Fleischverteilung beim Wildschweinbraten.
feinstrick - 6. Jul, 14:18
Dass man auf dem Thron auch das größte und beste Stück Fleisch bekam und niemals beim Aufdecken und Abräumen helfen musste, versteht sich von selbst. ;-) Ich erinnere mich übrigens auch noch gut an jenen Tag, an dem mir bewusst wurde, dass sämtliche Familienmitglieder, die älter als ich waren, verschollen oder gestorben waren. Meine jüngere Schwester und ich ließen uns beide auf die schweren Lehnstühle sinken, die letzten Relikte vergangener Tage sozusagen, und sagten unisono: "So, und jetzt sind wir endlich dran!"
rosmarin - 6. Jul, 21:18
sehr schöööön frau feinstrick.
ich glaube, die liebe ist ein neumodischer quark. das hat es den großmüttern leichter gemacht, einen zu mögen, ihn zu respektieren und sie zu nutzen zu wissen.
;-)
ich glaube, die liebe ist ein neumodischer quark. das hat es den großmüttern leichter gemacht, einen zu mögen, ihn zu respektieren und sie zu nutzen zu wissen.
;-)
feinstrick - 6. Jul, 22:16
Da mögen Sie recht haben, Frau Rosmarin. Vielleicht sollte ich in Zukunft auch etwas altmodischer denken und leidenschaftliche Liebe aus dem Programm streichen. Obwohl mir das trotz allem immer noch schwer fallen würde. Sehr schwer.
punctum - 6. Jul, 23:31
So ein schöner und spannend zu lesender Text! Und gleich erinnere ich mich an die Familienfesttafeln bei Großmütterchen...
feinstrick - 10. Jul, 09:02
Scheint so, als hätte es diese Festtafeln mit ihren ganz eigenen Spielregeln in jeder Familie gegeben.
kid37 - 9. Jul, 17:01
Eine schöne Erinnerung und fast ein Appell an die Zweckehe. Aber ich glaube immer noch, daß man auch anders zusammenleben kann. Leidenschaftlich gerecht ;-)
feinstrick - 10. Jul, 09:04
Mir scheint, Sie sind auch so ein unverbesserlicher Romantiker. Ich hoffe aber auch immer noch, dass man anders leben kann - obwohl es in meinem Umfeld selbst unter den Angehörigen meiner Generation erschreckend wenig positive Beispiele dafür gibt.
kid37 - 10. Jul, 10:26
Es ist schwer, jemanden zu finden, mit dem man auf Augenhöhe leben kann. Wo man sich gegenseitig dassselbe Maß an Freiheit und Individualität zugestehen kann, ohne daß das Band zu lose wird. Ich habe so etwas vor vielen Jahren erlebt, daher weiß ich, daß es das gibt.
feinstrick - 10. Jul, 14:02
So jemanden zu finden, ist sehr schwer, Sie sagen es. Bei mir scheiterte es immer daran, dass am Ende doch das Band zu lose wurde und die Verantwortung füreinander fehlte.
frauenzimmer (Gast) - 10. Jul, 15:46
starke Frauen gibt/gab es in meiner Familie natürlich auch. Aber auch ziemlich depressive, wie mir gerade einfällt. Außer meiner Tante Hanna, die hatte den Schalk im Nacken und war immer wieder für ein Familienanekdötchen gut. Sie steht übrigens für viele meiner kleingeblümten Damen Model *g*. Die ponzosche Frau M. ist eigentlich Hanna. Ist mir gerade klar geworden. Liebe Grüße aus Dingens!
feinstrick - 10. Jul, 16:34
Frau M. ist eigentlich Hanna? Gut zu wissen. ;-) Depressive Frauen gabs in meiner Familie übrigens auch. Und sehr, sehr seltsame obendrein...
Herzlich willkommen zurück in Dingens. Freu mich, dass Sie wieder da sind!
Herzlich willkommen zurück in Dingens. Freu mich, dass Sie wieder da sind!
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