Mittwoch, 16. April 2008

Drei Stunden

Eigentlich rief sie mich an, weil sie etwas loswerden wollte. Doch ihre Geschichte war schnell erzählt und durchdiskutiert. Dann fing ich an. Ich redete viel. Viel mehr als sie. Viel, viel mehr. Zu viel, glaube ich. Dabei wollte ich meine Geschichte nur mit ein paar kurzen Sätzen umreißen und mich nicht lange mit Vergangenem aufhalten. Doch plötzlich war ich mittendrin, zeichnete nicht nur die großen Linien nach, sondern beleuchtete auch die kleinsten Details, die ich bereits für mich selber hunderte von Malen wiedergekäut habe. Ich verlor mich in unwesentlichen Erinnerungen und brachte vollkommen neue Aspekte ein, formulierte Gedanken und Gefühle ganz neu und setzte andere Akzente als früher.

Sie war eine gute Zuhörerin. Sie gab mir das Gefühl, die ganze Zeit aufmerksam dabei zu sein, jedes meiner Worte genau zu beachten. Dann und wann brachte sie kleine, sehr pointierte und kluge Gedanken ein, die mich dazu herausforderten, weiter in die Tiefe zu gehen, noch mal genauer hinzugucken. Ihr erfrischendes Lachen riss mich immer wieder mit und brachte viel Leichtigkeit in eine Geschichte, die eigentlich über viele Stellen gar nicht leicht sondern eher schwer und tief ist, von Ängsten und Zweifeln begleitet, von großer Leidenschaft getragen, aber auch voller Schuld und Schmerz. Ich stellte mir Fragen, die ich bisher nicht gestellt hatte und sagte Dinge, die ich so noch niemandem gesagt hatte.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich so viel redete, meinen Redefluss auch nicht stoppen konnte, als wir bei ganz anderen Themen landeten, die nicht mehr so persönlich waren, die mich nicht mehr derart bewegten und beschäftigten. Sie wurde immer stiller, schien in ihrer Aufmerksamkeit nachzulassen, hielt aber von sich aus das Gespräch am Laufen und zwang mich förmlich, meine Monologe fortzusetzen.

„Jetzt haben wir drei Stunden und elf Minuten telefoniert“, sagte ich abschließend mit einem Blick auf mein Telefon. „So lange?“ fragte sie erstaunt, und da merkte ich, dass es ihr wohl doch nicht langweilig geworden war, dass an meinen Geschichten irgendetwas war, das sie gefesselt hat. Ich dankte ihr, legte auf und spürte dem Brummen in meinem Kopf nach, den vor Müdigkeit brennenden Augen und all den Empfindungen, die in den letzten drei Stunden in mir zum Schwingen gekommen waren.

Da war auf einmal eine Ruhe in mir, die ich seit Tagen vermisste. Ich begriff, dass Vertrauen manchmal ein lebenslanger Lernprozess ist, der ohne Liebe nicht funktioniert, und dass auch Schuld und Vergebung niemals ohne Liebe sein können. Ich begriff, dass es gut ist, eine Geschichte immer aus möglichst vielen verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, um zu verstehen, warum etwas so ist, wie es ist und um den eigenen Standort richtig einordnen zu können. Ich begriff, dass ich noch sehr viel begreifen muss. Besonders, wenn es um etwas geht, das gleichzeitig so groß und so simpel ist wie die Liebe. Und ich war sehr dankbar, dass sie mir die Zeit gelassen hat, so lange zu reden, bis mir das alles selber klar wurde.

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Michael (Gast) - 20. Apr, 08:10

Glücklich ist der, der solche feinsinnigen Freunde hat. Und der "Schleusenwärter" hat gesehen, dass gerade jetzt die beiden Richtigen miteinander quatschen und hat die Schleusen geöffnet :-)

feinstrick - 21. Apr, 08:50

"Der Schleusenwärter" gefällt mir gut. :-)

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