Montag, 13. Mai 2013

Verwandtschaft

Mein Bruder hat sich angekündigt. Mit Frau und zwei Kindern (5 und 7) will er sich vier Tage in meiner kleinen Zweizimmerwohnung einquartieren. Ich kriege schon Wochen vorher Panik, schrubbe die ganze Wohnung wie blöd (die Verwandten sind immer viel pingeliger als alle Freunde), fülle den Kühlschrank und beziehe Betten. „Was soll ich denn kochen, wenn ihr ankommt?“, frage ich meinen Bruder. „Am besten Nudeln, das geht schnell“, lautet die Antwort.

Tag 1: Die Sippe rückt an.
Ich hole sie am Bahnhof ab, die kleine Karawane strebt, beladen mit Bergen von Gepäck, vergnügt meiner Wohnung entgegen. Daheim werde ich in rasender Geschwindigkeit enteignet. Bis in den hintersten Winkel wird meine Wohnung von fremden Koffern, Kleidungsstücken, Handys, Büchern, Schlafsäcken, Kuscheltieren und Kulturbeuteln besetzt. Selbst das Treppenhaus wird erobert und zu einem riesigen Schuhlager umfunktioniert. Die Kinder haben Hunger. Ich koche Spaghetti für sie. Die Eltern wollen lieber später essen. „Und bitte keine Nudeln, die hatten wir die letzten Tage schon so oft.“ Aha. Nach dem Essen gehen wir zum Hafengeburtstag. Es ist schon abends, das Kinderprogramm fast vorbei, die meisten Familien streben heimwärts. Unsere Kinder kullern in riesigen Kugeln durch ein Plantschbecken. Direkt nebenan beginnt auf einer Bühne ein Metalkonzert. Uns fliegen fast die Ohren weg. Die Kinder hüpfen auf einem Trampolin. Ich stehe herum, trinke Caipirinha, warte ab. Freunde meines Bruders kommen dazu. Wir stehen herum, trinken Caipirinha und Bier. Ich langweile mich und bin dankbar, als meine Nichte laut sagt: „Ich bin müde, ich will heim.“ Aber wir bleiben weiter stehen, gehen ein paar Schritte, stehen, gehen, stehen. Ich langweile mich noch mehr. Die Rufe meiner Nichte werden lauter, mein Neffe schläft auf dem Arm meines Bruders halb ein. Wir bleiben stehen. Und gehen. Und stehen. Als wir uns endlich im Schneckentempo heimwärts bewegen, sehne ich mein Bett herbei. Aber, ach, da kann ich ja gar nicht rein. Während meine Lieben es sich in meinem großen Bett gemütlich machen, breite ich die Gästematratze auf dem Fußboden im Wohnzimmer aus. „Ich will bei dir schlafen“, sagt meine Nichte. Wer kann einer süßen Siebenjährigen schon so einen Wunsch ausschlagen? Also legen wir einen Schlafsack neben meine Matratze. Nachts rückt die Kleine immer dichter an mich heran. An Schlaf ist kaum zu denken. Wenn schon schlaflose Nächte, dann bitte mit ihm und nicht so, finde ich und verfluche den Tag, an dem ich diesem Besuch zugestimmt habe.

Tag 2: Hafengeburtstag – das Hardcoreprogramm.
Mittags ziehen wir los. Wieder die Hafenmeile rauf, Hüpfburg, Torwandschießen, Bratwurst essen, Riesenrad fahren, Schiffe gucken, Freunde treffen, durch den alten Elbtunnel wandern, Schiffe gucken (sehen ja auch von der anderen Elbseite total anders aus) und stehen, stehen, stehen. „Mir ist langweilig“, sagt meine Nichte. Ich liebe dieses Kind! Wie langweilig mir erst ist, kann ich gar nicht in Worte fassen. Leider beachtet uns aber niemand. Also ergeben wir uns in unser Schicksal, bis wir durch den Elbtunnel zurücklaufen. Anschließend trennen wir uns. Meine Sippe geht Freunde treffen, eine Schiffstour machen. Ich gehe nach Hause. Völlig ermattet sinke ich auf mein Sofa. Viereinhalb Stunden nonstop gehen, stehen, Menschenmassen und Lärm bewältigen. Nur im Riesenrad haben wir gesessen. Ich kann nicht mehr. Die Stille in meiner Wohnung erscheint mir paradiesisch. Und wenn ich die Augen zumache, sehe ich auch das Chaos nicht, das die Besatzer in meinen vier Wänden angerichtet haben. Am späten Abend rücken sie wieder an. Die Eltern überlassen mir ihre lieben Kleinen und ziehen weiter – Party, Party, Party. Ich kann es kaum glauben. Wo nehmen die diese Energie her? „Ich habe Hunger“, sagt mein Neffe, und wieder koche ich Nudeln, bevor ich zwei völlig übermüdete Kinder ins Bett bringe und mich selber auf der Gästematratze zusammenrolle. Immerhin habe ich in dieser Nacht ein Zimmer für mich alleine.

Tag 3: Die Invasion.
Meine Schwester hat sich angekündigt, samt Mann und vier Kindern. Mein Bruder und seine Frau wollen vorher schnell noch zum Hafengeburtstag. Sie haben ihrem Sohn eine Besichtigung des U-Boots versprochen. Da müssen sie unbedingt heute noch hin. Aber sie haben sich verplant und verlassen das Haus erst genau in dem Moment, in dem der andere Verwandtschafsteil anrückt. Hektische Begrüßung im Treppenhaus - „Wir müssen noch mal dringend weg“. Nur meine Nichte bleibt bei mir. Sie hat keine Lust mehr auf Schiffe. Hach, dieses Kind ist mein Blut! Kaffeetrinken mit der neu angereisten Sippschaft. Mein Schwager ist müde und sucht sich in dem Chaos meiner Wohnung einen Schlafplatz. Mein großer Neffe langweilt sich und holt Handy und Tablet aus dem Rucksack. Wir Frauen gehen mit den Kindern zum Spielplatz. Dann findet endlich die glückliche Familienzusammenführung statt. Laute Gespräche. Die Kinder lachen. Das Baby brüllt. Mein Schwager ist müde und genervt. Eine Pizza fällt auf den Boden, dann noch eine. Warum habe ich eigentlich geputzt, bevor diese Invasion über mir hereinbrach? Als der Spuk vorbei ist, beseitigen meine Schwägerin und ich die gröbsten Spuren der Verwüstung. Mein Bruder bringt die Kinder ins Bett. Dann zieht er mit seiner Frau von dannen. „Das Wetter ist plötzlich so super. Da können wir einfach nicht zuhause bleiben.“ Ob es mir recht ist, dass ich erneut den Babysitter mime, fragt niemand.

Tag 4: Brunch und Freunde.
Wir gehen zum Muttertagsbrunch. Freunde kommen kurzfristig noch dazu. Man hatte ihnen am Telefon gesagt, dass es für sie keine Sitzplätze mehr im Restaurant gebe. Daher haben sie bereits zuhause gefrühstückt. Wider Erwarten wurden aber doch genug Stühle und Tische für sie bereitgestellt. Die Frau des Freundes, eine Russin, die von allen gefürchtet wird, am meisten von ihrem Mann, verhandelt mit den Kellnern. Sie sei dank dieser Fehlauskunft ja schon satt, wolle daher nicht den vollen Preis für den Brunch zahlen. Fünf Minuten vergehen. Zehn Minuten. Danach hat sie die armen Kerle besinnungslos geredet und darf sich für ein Fünftel des offiziellen Preises am Buffet bedienen. Sie kommt mit einem Teller zurück, auf dem sich Speisen in sechs Lagen türmen. So viel haben wir anderen alle zusammen verdrückt – zum vollen Preis. Wir staunen. Nach dem Essen gehen wir – natürlich! - zum Hafengeburtstag. Wieder in der Riesenkugel im Plantschbecken herumrollen, Trampolin springen, Musik hören, Schiffe gucken. Stehen, gehen, aufeinander warten. Die Russin verschwindet an einem Telekomstand und verhandelt mit den Verkäufern, bis sie anfangen zu weinen. Wir stehen und warten. Es ist kalt. Es fängt an zu regnen. Mir reicht es. „Ich gehe nach Hause“, sage ich. „Das ist langweilig hier.“ Entgeisterte Blicke. „Du Verräterin“, höre ich sie alle denken. „Du obertotal langweilige Spaßbremse.“ Egal. Was schert mich, was diese Leute denken? Vermutlich wurde ich sowieso bei meiner Geburt vertauscht. Das hier können unmöglich meine Verwandten sein. Es ist später Abend, als sie endlich auch alle heimkehren. Die Kinder wirken noch erstaunlich vergnügt. Ich bin beeindruckt von ihrer Kondition. Sie haben acht Stunden Gehen, Stehen und Eindrücke sammeln hinter sich. An diesem Abend geht niemand mehr aus. Für den nächsten Morgen steht die Abreise auf dem Programm.

Tag 5: Auszug.
Die lieben Verwandten packen. Ich staune, wie leer meine Wohnung aussieht, wenn all diese Koffer und Wäscheberge nicht mehr darin herumliegen. Der Abschied wird rührselig, wie sich das gehört. Meine Nichte ist traurig, sie möchte noch länger hierbleiben. Ihre Mama umarmt mich begeistert: „Das war so toll hier. Wir kommen jetzt jedes Jahr zum Hafengeburtstag zu dir.“ Dann zieht die Karawane weiter. Ich habe Halsschmerzen und bin total erledigt, aber mein Zuhause gehört endlich wieder mir.

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Captain (Gast) - 13. Mai, 14:44

Leider: Schadenfreude

Ungebremste Schadenfreue durchfreut mich. Ich kannte (glaube ich) noch nie jemanden, der auf den Hafengeburtstag geht, um sich dort zu vergnügen. Wobei mir einfällt, dass ich da sogar schon mal auf einer der Bühnen gespielt habe, aber das war auch ziemlich scheiße. Naja, Du hast es ja hinter Dir.
Musst Du ja nicht wieder machen.

feinstrick - 13. Mai, 16:24

Danke für Dein Mitgefühl. ;)

Ich kenne durchaus Leute, die da gern hingehen - mal einen Nachmittag oder Abend lang. Aber niemand hetzt so ausdauernd über diese Partymeile wie mein Bruder.
kid37 - 13. Mai, 17:10

Ich kann ein gutes, verkehrsgünstiges Hotel mit netter Leitung und dazu bezahlbar empfehlen.

(Wahlweise für den Besuch oder einen selber ;-))

feinstrick - 13. Mai, 17:17

Ich komme beim nächsten Mal darauf zurück. :)
swe (Gast) - 14. Mai, 00:15

hach, seid 13 Jahre nicht mehr in Hamburg gewesen, und bei "Schiffe gucken" hab ich gleich das Bild der Rickmer Rickmers im Kopf.

Nachtreise - 16. Mai, 01:19

Das ist die perfekte Einstimmung

auf den Juli, wenn ein befreundetes Paar mit seinen 4 Kindern auf Besuch kommt... :) Naja, momentan freu ich mich, aber ich weiss, es wird anstrengend und wegen der Essensvorräte und Schlafsituation wird mir heute schon schwindelig...

feinstrick - 16. Mai, 14:29

Vergessen Sie das Klopapier nicht! Sie ahnen nicht, was eine vierköpfige Familie davon täglich so verbraucht.
rosmarin - 21. Mai, 13:15

ach du lieber Himmel :-) sie haben einen echten Tornado überlebt!!!

feinstrick - 22. Mai, 18:55

Sie sagen es! :-)

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feinstrick - 15. Mai, 21:06
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feinstrick - 11. Feb, 20:08
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feinstrick - 11. Feb, 20:08

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