Dienstag, 5. Juli 2011

Abserviert

Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich zu exzessivem, beziehungslosem Sex neigte. Ich hatte eine Affäre nach der nächsten, oft nur für eine Nacht, manches Mal liefen mehrere Geschichten parallel. Das Schizophrene daran: Gleichzeitig war ich in einer der besonders seriösen Singlebörsen angemeldet und auf der Suche nach dem Mann fürs Leben. Ich hatte mit den potenziellen Heiratskandidaten ein Date nach dem nächsten und wurde von Mal zu Mal abgebrühter. Bald kam es mir so vor, als würden die Männer zum Bewerbungsgespräch bei mir antanzen, aufgeregt, voller Hoffnungen, während ich nüchtern wie eine Personalchefin ihre Zeugnisse begutachtete und in sämtlichen Fällen für viel zu schlecht befand. Natürlich. Ich war gar nicht offen für einen Mann, der mich verehrte, der mir sein Herz schenkte und es gut mit mir meinte. Aber das verstand ich damals nicht.

Ich hatte gerade mehrere dramatische Verluste erlitten – Tod meiner Eltern und anderer naher Menschen, Zerbrechen des familiären Gefüges, Scheitern einer Beziehung, Gewalt und Verrat. Mein ganzes Leben war auseinander gebrochen, ich hatte völlig den Boden unter den Füßen verloren, taumelte ziellos durch die Welt, hilflos und überfordert mit Schmerz und Trauer. Der Sex war die einzige Möglichkeit, mich selbst intensiv zu spüren, Lebendigkeit zu fühlen und dabei gleichzeitig alles um mich herum zu vergessen. Die Männer waren dabei bis auf wenige Ausnahmen nur Mittel zum Zweck. Gleichgültig ließ ich sie wieder fallen, wenn ich sie nicht mehr brauchte oder sie meinen Ansprüchen nicht genügten. Ich bin sicher, dass ich einigen sehr weh dabei tat. Aber ich war selbst so voller Schmerz, dass ich mich nicht noch um den Schmerz anderer kümmern konnte.

Das ist lange her. Danach gab es einige Jahre nur noch einen einzigen Mann in meinem Leben (an den ich mich geradezu verzweifelt klammerte, obwohl er mir absolut nichts bieten konnte und wollte) und dann noch länger gar keinen mehr. In dieser Zeit kam ich zur Ruhe. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren fand ich zu mir selbst, ging meinen Bedürfnissen und Sehnsüchten nach, veränderte mich beruflich, setzte mich mit der Vergangenheit auseinander und nahm Abschied von schmerzhaften Gefühlen und Erinnerungen. Trauerarbeit, so erkannte ich, ist wichtig, um vorwärts gehen zu können. Irgendwann war ich so weit, mich auch Männern wieder zu öffnen - auf unverbindliche, leichte Art, für tiefere Gefühle reichte es wohl doch noch nicht.

Bis zum vergangenen Wochenende. Was da passiert ist, begreife ich immer noch nicht. Nur so viel steht fest: Er und ich sind mit verschiedenen Erwartungen aufeinander zugegangen. Ich suchte tatsächlich Liebe, er aber brauchte wohl nur eine beziehungslose Begegnung – obwohl er in der Singlebörse nicht auf der Suche nach einer Affäre, sondern einer festen Partnerin ist. In dieser Widersprüchlichkeit erinnert er mich sehr an mich selbst. Einerseits ist da die Sehnsucht nach der großen Liebe, nach Nähe, nach Geborgenheit. Andererseits aber steht man sich selbst im Weg mit den eigenen unguten Gefühlen, die sich vor allem in einer riesengroßen, diffusen Angst ausdrücken.

Er mochte mich, das war unübersehbar. Oder war das nur oberflächliche Show, so wie ich früher auch oft unbeabsichtigt eine Intimität vorgegaukelt habe, die ich innerlich nicht wirklich fühlte? Weil ich bloß nett sein wollte, weil ich Lust auf Sex hatte und dafür vorher ein bisschen höflich sein musste? Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich bis jetzt nichts mehr von ihm gehört, und ich gehe davon aus, dass sich daran auch nichts mehr ändern wird. Meine zaghaften Versuche, ihn per SMS zu erreichen, liefen ins Leere. Vermutlich fühlte er sich sogar bedrängt dadurch. Er hat mich abgehakt, so wie ich in der Vergangenheit einen Mann nach dem nächsten abgehakt habe. Dass ich mit wundem Herzen und ganz viel Sehnsucht hier sitze, ist mein Problem, nicht seins. Er denkt vermutlich nicht mal mehr an mich, hat vielleicht sogar schon Kontakt zur nächsten Frau aufgenommen. Meine Enttäuschung, mein Herzweh, meine Fassungslosigkeit ahnt er nicht mal, weil er selbst so zu ist, dass er diese Gefühle für sich selbst vollkommen ausgeblendet hat und gar nicht mehr weiß, wie sich Herzschmerz anfühlt. Vermutlich. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Kann auch sein, dass alles völlig anders ist. Nur eins steht fest: Ich fühle mich sehr, sehr mies.

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rosmarin (Gast) - 5. Jul, 10:29

*reicht taschentuch und schokolade*

feinstrick - 5. Jul, 10:34

Danke. *schluchz*
fragmente - 5. Jul, 13:40

Schade. Manchmal erscheint es mir, als ob die kurzen Momente des Glücks wie ein Kredit sind, den man anschließend mit Unglück abbezahlen muss.

Ich bin leider schlecht im trösten - was könnte ich Ihnen sagen, das Ihnen ein klein bisschen gut tut? Dass genau solche Geschichten schon vielen Männern wie Frauen passiert sind, mich eingeschlossen? Dass auch dieser Schmerz vorbeigehen wird, so wie aller Schmerz endlich ist? Dass Ihre kluge Analyse Ihnen vielleicht auch ein Stück weiterhilft, und selbst wenn nicht, dass ich Ihre Gedanken gerne und mit Bewunderung gelesen habe?

Es kommen bessere Tage, ganz sicher.

feinstrick - 5. Jul, 17:37

Ich würde gar nicht sagen, dass das Gegenteil von Glück Unglück ist. Kein Glücksmoment kann ewig dauern, egal wie schön er ist. Und je intensiver man ins Glück eintaucht, desto härter und schmerzhafter ist das anschließende Auftauchen wieder. Aber ich merke auch, dass ich kein Mensch bin, der den Rest seines Lebens allein und behütet auf dem Sofa verbringen möchte, um allen Gefahren aus dem Weg zu gehen. Das habe ich jetzt einige Jahre getan, und in dieser Zeit hatte es seine Berechtigung. Aber jetzt muss ich wieder raus, so hart das ist.

Was mir hilft? Die Erkenntnis, dass alle Krisen dazu da sind, um zu lernen. Die Entdeckung, was für tolle Menschen ich kenne, die mich in den letzten zwei Tagen begleitet und mir geholfen haben, wieder klar zu sehen. Und natürlich auch die Teilnahme von Ihnen und den vielen anderen Lesern, die zurzeit durch mein kleines Blog traben. Ich bin geradezu überwältigt von dem großen Interesse und merke: Liebeskummer berührt jeden.
Finchen1976 - 7. Jul, 14:19

So ist es.
Genau so.
Und danke... ;-)
giardino - 5. Jul, 17:21

Wieviel von deinem Schmerz hat wirklich und direkt mit diesem Mann zu tun, und wieviel davon ist vielleicht Ausdruck einer viel allgemeineren Sehnsucht nach Nähe und Zusammensein, an die er - bewusst oder unbewusst - gerührt hat?

(Natürlich keine Frage, die du _mir_ beantworten sollst. Mir hat nur mal die Erkenntnis sehr geholfen, dass ein heftiger Liebeskummer nach einer Zurückweisung eigentlich gar nicht so sehr mit der Frau selbst zu tun hatte; sie war eigentlich eher nur der Aufhänger, an den ich meine Sehnsucht geknüpft hatte. Und von deiner Beschreibung her klang es jetzt auch nicht so, als hättest du dich bei ihm emotional besonders zuhause fühlen können.)

feinstrick - 5. Jul, 17:44

Ich kann die Frage sehr genau beantworten. Mir, dir und allen anderen: Natürlich hat das alles in erster Linie mit mir zu tun. Ich bin vor allem wütend, weil ich zum hundersten Mal in dieselbe Falle getappt bin. Und verstört, dass das alles so rasend schnell passiert ist und ich so wenig nachgedacht habe. Ein Freund sagte so schön zu mir: "Ist doch super, dass es so schnell vorbei ist und nicht noch Schlimmeres passiert ist." Das ist nicht die schlechteste Sichtweise, denn tatsächlich war und bin ich zwar unglaublich fasziniert von dem Mann, aber wirklich sicher hätte ich mich vermutlich nie bei ihm gefühlt. ... und trotzdem würde ich ihn gern wieder sehen ... sagt die Abenteuerstimme in mir ...
giardino - 5. Jul, 17:56

Ich war gar nicht offen für einen Mann, der mich verehrte, der mir sein Herz schenkte und es gut mit mir meinte.

- bist du es denn heute? Oder ist die Abenteuerstimme lauter? ;-)
feinstrick - 5. Jul, 19:05

Das ist eine sehr gute Frage, die ich im Moment nicht klar beantworten kann. Fast fürchte ich, das Abenteuer lockt mich immer noch sehr ... (und ja, dann könnt ihr auch alle sagen: Selbst schuld!) ... aber ich setze mich sehr intensiv damit auseinander.
manuela (Gast) - 17. Jul, 09:37

wow...

...1:1 meine geschichte, wie ich sie letztes wochenende erfahren musste...wurde zuerst eingesülzt und dann knallhart fallengelassen...hat mich aus allem (facebook & co.) rausgelöscht, resp. blockiert. fühle zu 100 % mit dir und mich selber schon etwas besser, dass ich offenbar nicht das einzige 'dumme huhn' auf der welt bin - und das obwohl ich schon 40 bin und mich endlich wieder für eine beziehung bereit gefühlt hätte. bleibt uns nur, auf bessere zeiten zu hoffen. alles liebe und gute. fühl dich umarmt!

feinstrick - 17. Jul, 13:27

Das klingt sehr hart. So extrem war es bei mir zum Glück nicht. Das Problem von uns Frauen ist wohl, dass wir viel zu viele Erwartungen in kleine Gesten legen, die eigentlich nur ein einziges Ziel haben: Uns ganz schnell ins Bett zu befördern. Ist das Ziel erreichr, verpuffen bei manchen Männern offenbar sämtliche Energien schlagartig.

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feinstrick - 15. Mai, 21:06
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steppenhund - 11. Feb, 22:02
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