Samstag, 26. Januar 2013

Aufschrei

Die Sexismusdebatte, die seit Tagen im Netz brodelt, beschäftigt mich sehr und fasst mich emotional stark an. Ich schrieb gestern einen sehr langen Blogtext dazu. Nach einer fast schlaflosen Nacht habe ich ihn so sehr überarbeitet, dass ein völlig neuer Text daraus geworden ist. Ich könnte ihn morgen noch mal überarbeiten. Und übermorgen. Und überübermorgen. Einfach, weil es sooo viel zu diesem Thema zu sagen gibt. Nach langem Überlegen habe ich mich für die persönlichste Variante entschieden. Allgemeine Debatten über Sexismus werden andernorts dieser Tage zuhauf geführt, da muss ich nicht Dinge zum hundertsen Mal wiederholen.

Gestern schrieb ich auf Twitter, wo Frauen zurzeit unter dem Hashtag #aufschrei sexistische Erlebnisse posten:

„Dafür, dass ich immer nervös werde, wenn zu später Stunde aus der S-Bahn außer mir nur ein oder zwei Männer aussteigen, ein #Aufschrei“

Daraufhin fragte mich ein Mann mit ernsthafter Neugier, worin ich die Ursache für meine Nervosität sähe. Ich antwortete ihm spontan zweierlei:

„Weil mir schon als Kind eingeredet wurde, dass ich mich vorsehen muss - es gäbe so viel Böses da draußen.“

„Und weil ich mehrmals tatsächlich in brenzligen Situationen war, in denen mich Männer unangenehm belästigt und bedroht haben.“


Hinterher fragte ich mich selber, warum ich eigentlich nicht nur nervös werde, sondern oft richtig Angst habe, wenn ich nachts allein unterwegs bin. Weil mir vor über zwanzig Jahren mal ein Busfahrer, der mein Vater hätte sein können, an einer einsamen Haltestelle folgte und mich in der Dunkelheit eines kleinen Waldstückchens küssen wollte – bloß, weil ich zuvor ein freundliches Gespräch mit ihm geführt hatte? Weil mir mal ein Mann am hellichten Tag in einem Park mit einem Messer gegenüber stand, das er rasch sinken ließ, als andere Passanten um die Ecke kamen? Weil in meiner direkten Nachbarschaft mal nachts, als ich mit einer Freundin aus einem Club nach Hause ging, ein Exhibitionist mit seinem entblößten Geschlecht vor uns herumgewedelt hat? Weil eine gute Freundin von mir als Studentin nachts auf offener Straße von zwei Männern so schlimm vergewaltigt wurde, dass sie jahrelang unter den körperlichen Folgen litt – von den seelischen ganz zu schweigen? Ja. Aber nicht nur.

Die Angst fing viel früher an. In den ewigen, körperlich aggressiven Auseinandersetzungen mit meinem großen Bruder, der sich noch in einem Alter mit mir prügelte, in dem man das längst nicht mehr tun sollte. Er ist fünf Jahre älter als ich und war mir körperlich immer haushoch überlegen. Das änderte sich auch im Erwachsenenalter nicht. Ich bin 1,58 groß und 51 Kilo schwer. Ich habe keine Kampfsportausbildung und bin auch sonst nicht sonderlich sportlich. So ziemlich jeder Mann ist mir körperlich überlegen. Von meinem Bruder lernte ich, diese Überlegenheit zu fürchten. Und erwachsene Frauen taten ihr Übriges dazu. Meine Mutter und alle anderen Frauen, die ich kannte, trichterten mir so lange ein, dass ich niemals im Dunkeln alleine unterwegs sein dürfe, bis ich ihnen glaubte. In mir setzte sich eine tiefe Angst fest. Ich war freilich trotzdem alleine nachts unterwegs und bin es auch heute noch. Vielleicht aus Trotz. Ich wollte mich nicht ständig in meiner Freiheit beschneiden lassen. Aber die Angst ging nie weg. Es ist eine Angst, von der ich mal behaupte, dass sie den meisten Männern total fremd ist.

Aber meine Angst bezog sich nicht nur auf körperliche Unterlegenheit. Ebenfalls zuhause lernte ich, dass Jungen und Mädchen unterschiedlich behandelt werden, dass die einen mehr Chancen als die anderen haben. Meine Brüder lernten, sich durchzusetzen, sich Freiheiten zu nehmen, zu diskutieren und sich intellektuell zu behaupten. Ich wollte auch Freiheit haben, wollte mich durchsetzen und machen, was mir gefiel. Ich war ein kleiner Wirbelwind, ein Hitzkopf, der alles sagte, was er dachte. Meine Brüder tun das bis heute. In mir hingegen zerbrach etwas, als ich begriff, dass mein Temperament nicht als klug galt, sondern als frech und unverschämt. „Du hast eine spitze Zunge“, sagte mein Vater, und von da an glaubte ich, ihm nur zu gefallen, wenn ich schwieg. „Du hast davon keine Ahnung“, sagte mein großer Bruder – ich glaube das heute noch. Er selbst hatte von allem Ahnung, zumindest bildete er sich das ein. Wie hätte es auch anders sein können? Meine Eltern übertrugen ihm Verantwortung, sie trauten ihm deutlich mehr zu als mir und duldeten es, dass er mich permanent beleidigte, erniedrigte und bevormundete. Wenn er später als Student nach Hause kam, schleppte meine Mutter tonnenweise all seine Lieblingsspeisen heran und umsorgte ihn, als habe er Jahre im Exil in Nordkorea verbracht. Meine Schwester und ich mussten ihr, sofern wir zugegen waren, dabei helfen. Als wir selber nicht mehr bei meinen Eltern lebten und zu Besuch nach Hause kamen, wurde nicht ein Bruchteil dieses Aufwandes für uns betrieben. Im Gegenteil, bei Familientreffen – vorzugsweise an Weihnachten – ackerten wir Frauen in der Küche, während meine Brüder auf dem Sofa herumlungerten. Weder meine Mutter noch mein Vater sagten etwas dazu.

Mich machte diese Ungleichbehandlung sehr zornig. Ich habe gebrüllt, geschrien, geweint. Es verging kaum ein Tag, an dem ich diese himmelschreiende Ungerechtigkeit nicht lautstark thematisierte. Geändert hat sich kaum etwas. Und je älter ich wurde, desto mehr resignierte ich. Ich ging meiner eigenen Wege, zog mich aus dem Familienleben innerlich zurück. Ich suchte Frieden statt Kampf. Nur leider fand ich den nie. Das Gefühl, Männern körperlich und intellektuell unterlegen zu sein, ließ mich nie mehr los. Gewiss, auf eine Art hatte ich gelernt, mich zu wehren. Weder verbale noch körperliche Zudringlichkeiten ließ ich zu. Wer mich plump anmachte, erhielt eine giftige Abfuhr. Ich strahlte gelegentlich eine Stärke aus, die mir gar nicht bewusst war. Kein Mann kam mir je wirklich zu nahe. Leider auch nicht im positiven Sinne. So sehr ich mich nach Nähe sehnte, so wenig konnte ich sie zulassen. Ich war auch beruflich nicht sonderlich erfolgreich. Zu schnell ließ ich mich von dem Imponiergehabe vieler Männer einschüchtern. Zu tief saß und sitzt der Glaube, weniger gut zu sein als ein Mann.

Wo hätte ich auch das Gegenteil lernen sollen? Meine Mutter und meine Großmutter waren beide starke Frauen – und doch gaben ihre Männer die Richtung vor, in der sich ihr Leben zu bewegen hatte. Mein Vater hatte gleich zwei Studiengänge absolviert, meine Mutter hatte nicht mal Abitur. Ihren Traum, zusätzlich zu ihrem erlernten Beruf eine Heilausbildung zu absolvieren, unterband mein Vater. Er fand es unpassend, dass eine Mutter von vier Kindern berufstätig war. Und obwohl meine Eltern uns Kindern die gleichen Bildungsschancen zuteil werden ließen und wir alle studierten, machten nur meine Brüder beruflich Karriere. Meine Schwester entschied sich (immerhin ganz freiwillig) dafür, Hausfrau zu sein. Ich selber hatte alle Freiheiten, aber ich hatte nicht gelernt, sie zu nutzen.

Ich weiß, dass es viele Frauen gibt, die eine ähnliche Geschichte erlebt haben wie ich, die sich heute mit ähnlichen Minderwertigkeitsgefühlen herumplagen. Bei den meisten ist es der Vater, der ihnen das Gefühl gab, nichts wert zu sein. Später wird dieses Gefühl durch andere Männer bekräftigt, die abfällige Bemerkungen über ihr Äußeres, ihre Kompetenzen, ihre Art zu denken und zu handeln machen. Männern ist vermutlich gar nicht bewusst, was sie da anrichten. „Ach, das war doch gar nicht so gemeint. So einen Spruch muss man doch ab können.“ Mann kann den auch ab. Frau nicht. Aus oben beschriebenen Gründen.

Und darum finde ich diese #Aufschrei-Geschichte so gut. Da kommen Frauen zu Wort, die ein Leben lang nicht den Mut dazu fanden. Und Männer hören hin, die nie geahnt haben, wie massiv Frauen bedrängt, bedroht, beleidigt werden. Wie alltäglich sexistische Bemerkungen für uns Frauen sind. Wie oft weitere Grenzen überschritten werden und es zu sexuellen Übergriffen kommt. Wie selbstverständlich es für uns ist, mit Angst zu leben. Und warum viele von uns sich so wenig dagegen wehren.

Gerade am Anfang solch einer Debatte müssen erst mal alle Luft ablassen. Dann atmet man durch und fängt an zu sortieren. Und dann, irgendwann, findet man hoffentlich auch Lösungen. Von Hysterie halte ich gar nichts. Natürlich ist das ein sehr emotionales Thema, aber nichts liegt mir ferner, als Männer pauschal zu verurteilen und eine Atmosphäre völlig überzogenen Misstrauens zu schaffen. Die Männer, mit denen ich heute privat und beruflich verkehre, verhalten sich mir gegenüber alle respektvoll und auf Augenhöhe. Sie achten und schätzen mich, und ich schaffe es endlich, ihr Anderssein nicht mehr als Bedrohung zu empfinden. Sexismus habe ich persönlich schon länger nicht mehr erfahren. Dennoch leide ich bis heute unter den Folgen vergangener Erlebnisse. Darum ist mir eine Sensibilisierung für dieses Thema wichtig – und zwar bei beiden Geschlechtern. Es gibt nämlich immer noch (oder wieder) auch viel zu viele Frauen, die Sexismus bagatellisieren. So kommen wir aber nicht ans Ziel, Ladies. Hört gefälligst auf, euch gegenseitig zu bezicken und lernt mal von den Männern. Die verbünden sich nämlich, um ein Ziel zu erreichen. Darum waren und sind sie auch so erfolgreich.

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