Sonntag, 3. Juli 2011

Tornado

In einer kleinen Singlebörse stolpere ich beim Durchsehen meiner Kontaktvorschläge über ihn. Wenig Text, aber ein Foto, das mich sofort anzieht und ein wenig an Benjamin Sadler mit langen Haaren und Dreitagebart erinnert. Die sparsamen Worte zeugen von einem humorvollen, intelligenten Mann. Er ist in meinem Alter, lebt knapp 300 Kilometer von Hamburg weg, das geht noch als Entfernung. Ich bin angetan und schicke ihm eine sehr kurze Mail. Die Antwort gefällt mir. Noch mehr Humor. Und viel Freundlichkeit. Und – das überrascht mich, weil es in diesen Singlebörsen ungewöhnlich ist – die Zeilen klingen liebevoll, ohne aufdringlich zu sein.

Ich schalte ihm meine Fotos frei, und daraufhin schlägt er vor, nach Hamburg zu kommen, um mich kennen zu lernen. Als ich das lese, geschieht etwas mit mir. Zum ersten Mal seit vielen Jahren berührt mich die Mail eines Fremden. Schlimmer noch: Ich kriege Herzrasen und werde so aufgeregt wie eine Fünfzehnjährige. Entsetzt erkenne ich, dass ich mich in ein paar dürre Worte und ein unscharfes Schwarz-Weiß-Foto verknallt habe. Und das mir, die ich immer dachte, ich hätte diesen ganzen Dating-Zirkus im Griff wie sonst niemand und könnte mich bis in alle Ewigkeiten mit Männern verabreden, ohne tiefere Gefühle dabei zu hegen. Vor allem aber weiß ich doch genau, dass ein paar schöne Worte überhaupt nichts bedeuten. Ich weiß absolut nichts über diesen Mann. NICHTS. Und in dieses Nichts habe ich mich verguckt. Was für ein schrecklicher Anfängerfehler.

Munter ignoriere ich weitere Regeln, die ich sonst befolge, und gebe ihm meine Telefonnummer. Seine Stimme, die schnodderig und hektisch klingt, ernüchtert mich total. Sie passt überhaupt nicht zu den liebevollen Mails und dem Foto, das einen Mann zeigt, der eher in sich gekehrt wirkt. Fast bin ich geneigt, ihn ziehen zu lassen. Er hingegen ist hingerissen von meiner Stimme, und schließlich denke ich: Wer weiß, vielleicht ist er am Telefon nur aufgeregt. Wir verabreden uns, aber ich bin längst nicht mehr so euphorisch. Doch dann telefonieren wir erneut, und siehe da, diesmal klingt er sehr ruhig und vor allem sehr humorvoll. Wir lachen ausgelassen miteinander, und dann ist mein Herzklopfen wieder da.

Er hat sich den schlechtesten Tag des Jahres für einen Hamburg-Besuch ausgesucht. Es gießt in Strömen, und das ganze Viertel ist wegen des Schlager-Moves abgeriegelt. Er braucht zwei Stunden für den größten Teil der Fahrt und eine weitere geschlagene Stunde für die letzten anderthalb Kilometer. Ich ringe mit mir. Das Verkehrschaos, der Regen – ich möchte nicht länger warten und ihm auch nicht zumuten, weiter durch die Stadt zu irren. Also schlage ich ihm vor, nicht in die verabredete Kneipe, sondern direkt zu mir nach Hause zu kommen. Niemals, niemals gebe ich meine Adresse heraus, ohne jemanden vorher persönlich zu kennen. Er hingegen erhält hundert Vertrauensvorschübe auf einmal. Ich verstehe mich selbst nicht mehr.

Dann steht er in der Tür, sieht mich an – und es ist um mich geschehen. Zur Begrüßung nimmt er mich fest in die Arme und küsst mich auf die Wange. Ich möchte ihn am liebsten nie mehr loslassen. Wir bestellen Pizza, setzen uns aufs Sofa und reden, reden, reden. Er hat eine unglaubliche Ausstrahlung, sehr lebendig, sehr wach, mit leuchtenden Augen und einem breiten, mal herzlichen, mal frechen Lachen. Der Mann auf meinem Sofa passt weder zu dem Foto noch zu den Mails noch zu dem Bild, das er beim Telefonieren in meinem Kopf erzeugt hat. Er ist ganz anders. Positiv anders. Aber auch beängstigend anders. Er ist sehr dominant, sagt unverblümt, was er denkt, kritisiert Kleinigkeiten an mir, als seien wir seit zehn Jahren ein Paar. Meine Gefühle fahren Achterbahn. Ich bin fasziniert – und total verunsichert. Er ist sehr ironisch und zynisch, nachdenklich und sensibel, aufmerksam und chaotisch. Manchmal weiß ich nicht, was er ernst meint und was nicht. Er steckt mich mit seiner Hektik an, macht mich nervös und bringt mich dazu, Dinge zu erzählen, die ich überhaupt nie erzählen wollte. Ich entdecke, dass sein Bindungsproblem noch größer als meins ist oder als das all der Männer, mit denen ich bisher zu tun hatte. Er ist sozusagen der König aller bindungsscheuen Wesen.

Es entsteht sehr schnell eine körperliche Nähe zwischen uns. Ganz selbstverständlich wärmt er meine kalten Füße zwischen seinen Beinen, streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, berührt meine Arme und Beine mit kleinen, liebevollen Gesten. Ich mag das sehr. Wir landen schneller im Bett, als ich dachte, werden so rasch sehr intim miteinander, dass es mich überfordert. Das geht alles viel zu schnell, das ist viel zu viel. Und gleichzeitig so intensiv, so überwältigend. Ich liege die ganze Nacht wach und schaue ihm beim Schlafen zu, während draußen ein Unwetter tobt und in mir drin mein Herz bebt.

Kurzer, wilder Morgensex – und dann rückt er auf einmal von mir ab. Als wäre ein Vorhang zwischen uns gezogen worden, zieht er sich vollkommen in sich zurück. Das ändert sich nicht mehr, bis er abfährt. All meine Komplimente bleiben unerwidert, ebenso die Anspielungen auf weitere Treffen. Kein Wort darüber, ob ihm die Zeit mit mir gefallen hat, ob er mich wiedersehen möchte. Von unterwegs ruft er noch mal an, um mir mitzuteilen, dass er wieder im Stau steckt – diesmal wegen des Halbmarathons. „Hamburg ist wirklich eine beschissene Stadt“, schließt er grimmig, und ich frage mich, ob ich das als Zusammenfassung für die gesamten vergangenen Stunden werten darf und ob ich jemals wieder von ihm hören werde.

Ich bin verstört und völlig übermüdet. Mir ist übel, weil ich in den letzten zwei Tagen viel zu wenig gegessen habe. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen und habe das entsetzliche Gefühl, mitten in einen Tornado geraten zu sein, der quer durch mein kleines, friedliches Leben gewirbelt ist und eine breite Spur der Verwüstung hinterlässt. Ich mache mich jetzt mühsam an die Aufräumarbeiten und frage mich dabei bange, ob es bei diesem einmaligen Tornado bleibt, oder ich in Zukunft noch häufiger von Wirbelstürmen heimgesucht werde, die dieser Mann auslöst und die mich von den Beinen fegen.

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