Samstag, 15. November 2008

Herbstreigen

Die Musik ist leise und klagend, sanfte Harfentöne schweben durch den Saal und berühren erst den einen, dann den anderen Gast. Die Sehnsucht steht zuerst auf. Vorsichtig macht sie ein paar Schritte in die Mitte des großen Raumes und beginnt langsam, sich um sich selbst zu drehen. Sie wirkt verloren und verletzlich, was der Einsamkeit sehr vertraut vorkommt. Sie gesellt sich zur Sehnsucht, ergreift ihre Hände und passt sich ihren Bewegungen an. Gemeinsam tanzen die Beiden nun schneller, ausgelassener, der Leere entgegen, die mit den Füßen bereits den Takt mitwippt. Doch da löst sich aus einer Gruppe auf der anderen Seite der Tanzfläche die Hoffnung. Ihre Schritte sind fest und zuversichtlich, ihr Tanz ist kraftvoll. Immer höher springt die Hoffnung und reckt ihre Arme der Decke entgegen.

Eine leichte Berührung an der Schulter lässt sie einen Moment lang innehalten. Die Liebe hat sich ihr genähert. Sie trägt ein smaragdrotes, tief ausgeschnittenes Kleid aus fließender Seide. Niemand im ganzen Saal sieht so schön aus wie die Liebe. Niemand bewegt sich so geschmeidig wie sie, so leicht, so hingebungsvoll und gleichzeitig mit einem so tiefen Ernst. Die anderen Tänzer machen der Liebe respektvoll Platz und schauen ihr dabei zu, wie sie sich einen Moment lang verliert und sich selbst genug zu sein scheint. Doch schon bald hebt sie den Kopf und schaut prüfend in die Runde. Einer nach dem anderen treten sie hervor, umschmeicheln sie, bedrängen sie, zerren sie mal in die eine und dann in die andere Richtung. Die Sehnsucht tanzt eng umschlungen mit der Liebe und scheint ganz in ihren Armen zu verschwinden. Die Leidenschaft greift frech und herausfordernd nach ihr, wirft ihr feurige Blicke zu und schaut ihr tief in den Ausschnitt. Die Liebe folgt ihr, geschmeichelt und glühend vor Lust. Die Eifersucht tritt der Liebe auf die Füße. Die Gewohnheit lässt sie in einen eintönigen Wiegeschritt fallen. Die Erinnerungen tanzen ihr Szenen vor, längst vergangen, mal heiter, mal melancholisch, manchmal auch bitter. Der Liebe schnürt es die Kehle zu und sie spürt, wie Schmerz und Zorn ihr in die Seite pieksen und Stiche in ihrem Herzen erzeugen.

In dunklem Gewand tritt nun der Abschied auf, stößt die Hoffnung zur Seite, wirft der Liebe verächtliche Blicke zu, breitet seine Arme aus und deckt mit seinem weiten Mantel Glück und Leidenschaft zu. Leere und Einsamkeit bewundern ihn heimlich, ebenso die Eifersucht, die sich ihm anbiedernd nähert. Doch der Abschied lacht ihnen ins Gesicht. Er will mehr. Seine Verbündeten sind die Lüge und der Hass. Egoismus, Eitelkeit und Verrat folgen ihm begeistert und sorgen dafür, dass sich niemand mehr auf die Tanzfläche wagt. Selbst die Musik hat sich den düsteren Absichten des Abschieds angepasst. Metallisch scharf schneidet sie sich in das Fleisch der Liebe und lässt sie frösteln.

Die Liebe fängt an zu weinen. Ihr Herz ist schwer, der Schmerz unerträglich. Sie fühlt sich gedemütigt und ringt verzweifelt um ihre Fassung. Die Hoffnung hat längst den Saal verlassen, der Hass tobt sich auf der Tanzfläche aus, Verachtung und Stolz klatschen ihm Beifall. Es ist spät. Der Abschied schickt sich an, zu gehen und sammelt sein Gefolge um sich. Die Liebe will er auch mitnehmen, gegen ihren Willen. Sie schreit verzweifelt um Hilfe, als der Abschied nach ihr greift. Doch alle sind wie gelähmt, erfasst von der Kälte, die der Abschied verbreitet hat. Die Sehnsucht macht ein paar Schritte auf die Liebe zu. Ohne die Liebe fühlt sie sich unvollständig und überflüssig. Die Sehnsucht kann ohne die Liebe nicht leben. Doch sie ist zu schwach, um sie aus den starken Armen des Abschieds zu befreien.

Da öffnet sich auf einmal die Tür und herein kommt eine Tänzerin, die in ihrem weißen, langen Kleid außergewöhnlich schön aussieht und alle für einen Augenblick den Atem anhalten lässt. Selbst die Musik setzt ein paar Takte lang aus. Die Frau ist groß gewachsen und hat einen sehr aufrechten, festen Gang. Ihr Kleid betont ihre weichen Rundungen und die Sanftmut in ihren Augen. Die Frau in Weiß erfasst die Situation sofort. Tiefe Bestürzung ist in ihrem Gesicht zu lesen und ihre Trauer lässt den Schmerz der Liebe noch größer werden. Mutig stellt sie sich dem Abschied entgegen und hält dabei ihren starken Rücken noch aufrechter. Der Zorn tritt ein paar Schritte zurück. Eifersucht und Lüge senken beschämt die Köpfe. Die Erinnerungen zeigen in einer Ecke Bilder von Licht und Wärme, die das Glück zum Lächeln bringen. Aus den Augen des Abschieds verschwindet die Kälte. Zurück bleiben Angst und Verzweiflung. Die Liebe umarmt die Sehnsucht und schaut dem Abschied wehmütig hinterher, als er leise davon schleicht.

Sanfte, leise Harfenklänge breiten sich zart im Saal aus. Eine einsame Gestalt fängt vorsichtig an zu tanzen, wiegt sich behutsam im Schmerz der Musik. Ihr weißes Kleid leuchtet im Dämmerlicht, ihre Tränen glitzern im Schein der Kerzen. Die Liebe tritt zu ihr und erfasst dankbar ihre Hand. Was wäre sie nur ohne diese mutige Frau? Was wäre sie ohne die Versöhnung?

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feinstrick - 15. Mai, 21:06
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