Mittwoch, 5. November 2008

Damals - Die Mauer ist weg

Als 1989 die politischen Ereignisse ganz Deutschland veränderten, saß ich mit meiner Familie in ungläubigem Staunen vor dem Fernseher. Ich dachte an all die Geschichten meiner Eltern, an die Erfahrungen, die ich selbst mit der Grenze gemacht hatte und vor allem an unsere Verwandten im Osten. Was für eine unfassbare Entwicklung! Während mir vor Glück die Tränen in die Augen schossen, als ich im August zusah, wie Tausende Ostdeutscher in Ungarn über die offenen Grenzen gingen, kam mir eine Politikstunde in der Schule in den Sinn, die kein Jahr her war. Wir hatten über die Frage diskutiert, ob es jemals ein wiedervereintes Deutschland geben würde. Ich war mir sicher, dass alles noch hundert Jahre so bleiben würde wie bisher. Mir kamen die Machthaber in der DDR viel zu unnachgiebig und die Bürger viel zu angepasst vor. Wie sehr ich mich doch getäuscht hatte – vor allem, was den Kampfgeist des Volkes anging.

Als am 9. November schließlich die ersten Grenzübergänge geöffnet wurden, waren wir wie im Rausch. Spontan beschlossen meine Schwester und ich einige Tage später, nach Berlin zu fahren. In einem total überfüllten Zug ließen wir uns von der Begeisterung der anderen Reisenden anstecken, die auch alle den Drang verspürten, bei diesen historischen Ereignissen dabei zu sein. In Berlin spazierten wir bei schönstem Herbstwetter an der Mauer entlang, auf der die Grenzsoldaten mit sehr entspannten Gesichtern Wache schoben. Sie scherzten mit westdeutschen Passanten, ließen sich Blumen und Zigaretten hinauf reichen und wirkten wie ausgewechselt – fast so, als falle von ihnen allen eine ungeheure Last ab. Wir schlugen aus der bunt angemalten Mauer ein paar Bröckchen heraus, die ich heute noch besitze, und schauten staunend zu, wie am Potsdamer Platz Mauerelemente beseitigt wurden und ein offener Grenzübergang entstand.

Nur wenige Tage später hatten wir den ersten Besuch aus Ostdeutschland, Bekannte meiner Eltern. Während sie in unserem Wohnzimmer saßen und noch nicht richtig begreifen konnten, was geschehen war, erhielten wir die Nachricht, dass mein Großvater in Sachsen gestorben war. Er war schon einige Wochen ernsthaft krank gewesen und die Sorge um ihn hatte unsere Euphorie überschattet. Ich stellte mir später oft vor, wie er vor dem Fernseher saß und vor lauter Begeisterung über die Öffnung der Grenzen einen Herzschlag erlitt. Ich glaube nicht, dass es wirklich so war, aber diese Art von Tod hätte zu meinem Großvater gepasst, der ein ungewöhnlicher Mann gewesen war – von der Familie verkannt und verschätzt, im Sozialismus nicht fähig, seine Talente frei zu entfalten, aber stets auf eigenwillige Weise unangepasst, mit einem sehr wachen, kreativen Geist, der leider zunehmend verkümmerte.

Wieder reisten wir in die DDR, den Kofferraum voll mit Blumenkränzen und –gestecken, da im Osten gerade ein Mangel an Blumen herrschte und wir im Namen unserer Verwandten gleich mit eingekauft hatten. Die Kontrolle an der Grenze verlief schnell und so freundlich und entspannt wie nie zuvor. Auf einmal war alles anders. Für mich markiert rückblickend nicht der Mauerfall, sondern der Tod meines Großvaters das Ende unserer Familienurlaube in der DDR. Meine Großmutter lebte schon länger nicht mehr, und so wurde das alte, kleine Haus verkauft, in dem ich so manchen Sommer verbracht hatte. Die noch lebenden Verwandten meines Vaters kamen uns nun regelmäßig besuchen. Die Verwandten meiner Mutter kamen nicht. Die Mauer hatte vorher alle zusammen geschweißt. Nun trennte sie auf einmal gerade dadurch, dass sie nicht mehr da war. Ich habe die Orte meiner Kindheit, die Städte, in denen meine Eltern aufgewachsen sind, seit damals nie mehr besucht, obwohl es doch heute so schnell und einfach geht. Es ergab sich einfach nicht. Aber manchmal verspüre ich das Verlangen, diese Orte noch einmal aufzusuchen, zu schauen, wie es dort heute aussieht, in Erinnerungen zu schwelgen und auf Spurensuche zu gehen nach den unbeschwerten Tagen meiner Kindheit, damals, als ich im Garten meiner Großeltern Stachelbeeren erntete und mir im Winter an ihrem Kachelofen den Rücken wärmte. Damals, als es die DDR noch gab.

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