Dienstag, 28. Oktober 2008

Damals - Die Mauer ist da

Die deutsch-deutsche Mauer verlief mitten durch meine Familie. Sowohl die Wurzeln meines Vaters als auch die meiner Mutter befanden sich in Sachsen. Der mütterliche Clan war offenbar deutlich freiheitsliebender als der väterliche, denn neben meiner Mutter waren auch fast alle ihre Geschwister bereits in den fünfziger Jahren gen Westen gezogen. Mein Vater und seine Verwandtschaft blieben hingegen, wo sie waren – bis mein Vater bei einer Familienfeier meiner Mutter begegnete. Das war 1960. Es setzte ein reger Briefwechsel zwischen meinem Vater im Osten und meiner Mutter im Westen ein, und nachdem die beiden sich insgesamt nur dreimal gesehen hatten, heirateten sie im Mai 1961. Mein Vater stellte einen Ausreiseantrag, der abgelehnt wurde, weswegen die Braut nach der Hochzeit ihre Heimreise in den Westen alleine antreten musste. Ich frage mich manchmal, wie sie sich damals wohl gefühlt haben muss, voller Sehnsucht und Angst, ob sie jemals eine normale Ehe würde führen können. Mein Vater, der wie gesagt nicht sonderlich abenteuerlustig war, nahm dieses eine Mal allen Mut zusammen und ging für seine Liebste in Berlin illegal über die Grenze – nur wenige Tage, bevor die Mauer kam.

Angst war ein ständiger Begleiter im Leben meiner Eltern gewesen. Sie hatten als Kinder die Nazi-Diktatur erlebt und als Jugendliche und junge Erwachsene die SED-Diktatur. Sie hatten nicht gelernt, offen ihre Meinung zu sagen, sich politisch zu engagieren und ihren Nachbarn zu trauen. Mein Vater durfte als Republikflüchtling acht Jahre lang nicht mehr nach Hause zu seinen Eltern fahren. Als ihm die Einreise in die DDR endlich gestattet wurde, war ich alt genug, um diese Reisen bewusst wahrzunehmen. Sie begannen stets mit dem Antrag auf ein Einreisevisum, das manchmal erst sehr kurzfristig genehmigt wurde. Reisen in die DDR waren kein Urlaub, sondern eine Strapaze. Wir stopften das Auto mit Geschenken voll, in der Hoffnung, dass uns die Grenzer nichts davon abnehmen würden. Wir fuhren immer über den Grenzübergang Helmstedt, und ich sehe jetzt noch die Wachtürme vor mir, die Zäune, den Stacheldraht und die Grenzsoldaten der DDR, die uns mit versteinerten Gesichtern musterten, Marionetten, die nicht zu eigenen Handlungen fähig zu sein schienen. Sobald wir in die Nähe der Grenze kamen, machte sich ein Gefühl der Beklemmung in unserem überfüllten Auto breit. Meine Eltern flüsterten nur noch, als fürchteten sie, dass wir abgehört und verhaftet werden könnten, falls wir laut über diese Zustände lästerten. Bloß nichts Falsches sagen oder tun, lautete ihr oberstes Gebot, während wir uns in endlos langen Autoschlangen im Schneckentempo vorwärts bewegten. Genutzt hat das Flüstern selten was, wir mussten meistens alle aussteigen und nicht selten musste mein Vater schon auf der Hinreise das Auto komplett leer räumen. Unter den Roboterblicken der Soldaten türmten sich Koffer und Taschen auf der Straße und mein Vater, der vor innerer und äußerer Anspannung keuchte, klappte auch noch die Rückbank hoch. Irgendwann war der Spuk vorbei und wir durften alles wieder einräumen und unsere Reise zu Oma und Opa fortsetzen.

Meine Erinnerungen an die Besuche in Sachsen sind die eines Kindes. Ich freute mich auf meine Großeltern und alle anderen Verwandten. Noch heute zählen die Besuche bei ihnen für mich zu ganz besonderen Erinnerungen. Ich sehe meine rußgeschwärzten Füße, wenn wir im Sommer in Sandalen liefen, und meine Mutter, die uns in der Küche meiner Großeltern abends in einer großen Plastikschüssel den Kohlenstaub von der Haut wusch. Es gab zwar ein Badezimmer, aber das war kalt, ungemütlich und vor allem sehr alt. Wir Kinder wuschen uns immer in der Küche. Ich sehe die Kachelöfen und rieche den Gasgeruch vom Herd in der Küche. Ich ernte in meiner Erinnerung Berge von Stachelbeeren und trinke bei meiner Großtante selbstgemachten Apfelmost. Diese Tante hatte ich besonders ins Herz geschlossen. Ihr Haus war gepflegter als das meiner Großeltern und ihr Garten ein Paradies. Ich sehe mich in ihrem eiskalten Schlafzimmer, in dem es keine Heizung gab, unter riesigen Daunendecken versinken und höre mir ihre Geschichten aus Kriegstagen an. Ich sehe uns durch dunkle Straßen fahren, die nur dürftig von Gaslaternen erleuchtet waren und die alten, verfallenen Häuser gespenstisch aussehen ließen. Meine Mutter war jedes Mal aufs Neue bestürzt über den Verfall der Städte, wohl, weil der Kontrast zu unserem gepflegten Umfeld zuhause immer größer wurde. Ich sehe all die Banner an Häusern und Brücken, auf denen mit roter Aufschrift sozialistische Sprüche standen, die das Volk ermutigen und loben sollten. Wir fuhren durch die „Straße des Komsomolzen“ und ich brütete darüber, woher dieser seltsame Name wohl kam. Ich sehe, wie die Blicke unserem Westauto folgten und die Nachbarn uns wie Außerirdische anstarrten, wenn wir in der kleinen Straße vor dem Haus meiner Großeltern parkten. Meine Mutter scheuchte uns ins Haus, um möglichst jedes Aufsehen zu vermeiden. Wir waren anders und etwas Besonderes, aber wir fühlten uns nicht wohl dabei. Nachdem der Zwangsumtausch deutlich erhöht worden war und wir für jeden Aufenthaltstag in der DDR 25 D-Mark in Ostmark tauschen mussten (Kinder nur 7,50), fielen unsere Geschenke noch großzügiger aus. Es gab kaum etwas, das wir für unser Geld im Osten gerne gekauft hätten, und so verteilten meine Eltern das Geld großzügig unter die Verwandtschaft. Dabei entstand eine seltsame Schräglage, denn während meine Eltern in ihrem Alltag keineswegs im Geld schwammen und sehr bescheiden lebten, müssen sie auf unsere ostdeutschen Verwandten wie Millionäre gewirkt haben. Sie fühlten sich überhaupt nicht gut dabei.

Zu meinen DDR-Geschichten gehören auch die vielen Pakete, die wir verschickten. Zu allen Geburtstagen und Weihnachten bekamen alle nahen Verwandten (und das waren so einige) ein Paket, das wir mit all den Dingen füllten, die sie nach eigenen Angaben dringend brauchten bzw. vermissten. Bohnenkaffee und Ananas in der Dose standen ganz oben auf der Liste, gelegentlich auch Kleidung oder Medikamente. Meine Tante schrieb manchmal Produktnamen auf, die wir gar nicht kannten. Sie hatte sie im Westfernsehen aufgegabelt und war besser informiert als wir. Später sagte meine Mutter mal, sie und mein Vater seien nie zu echtem Wohlstand gekommen, weil sie ihr ganzes Vermögen in diese Care-Pakete gesteckt hatten. Da ist sicher was dran. Manchmal kamen die Pakete stark beschädigt beim Empfänger an, manchmal fehlte auch das ein oder andere Teil. Umgekehrt erhielten auch wir Pakete aus dem Osten. Sie waren in graues, hartes Papier gewickelt und mit dicken Bindfäden verschnürt. Wir freuten uns immer darüber und waren immer gespannt auf den Inhalt. Als wir jünger waren, kamen tatsächlich auch oft nette Spielsachen zum Vorschein. Doch mit den Jahren konnten wir mit den Inhalten immer weniger anfangen. Die Bücher stammten von Autoren, die uns fremd waren, und die kunstgewerblichen Sachen waren für unseren Geschmack hässlich. Und doch war uns die Geste wichtig, das Gefühl, miteinander verbunden zu sein, eine Familie zu sein, trotz Mauer. Dieses Gefühl war sehr stark – vielleicht sogar nicht trotz, sondern gerade wegen der Mauer.

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