Ausblicke
Ich schaue gerne aus dem Fenster. Als alte Frau werde ich vermutlich mal mit einem Kissen auf dem Fenstersims enden, auf dem ich mich abstütze, während ich die Welt beobachte. Bisher beschränke ich mich jedoch darauf, diskret bei geschlossenem Fenster hinaus zu schauen oder unauffällig zwischen den Blumentöpfen auf dem Balkon hindurch zu schielen. Dabei geht es mir gar nicht so sehr darum, was ich beobachte, sondern was ich dabei fühle, in welcher Stimmung ich bin, wenn ich zum Fenster hinaus schaue.
Ich erinnere mich sehr genau an die Ausblicke aus den jeweiligen Häusern, in denen ich gewohnt habe. Als kleines Kind wohnte ich kurze Zeit in einem Mehrfamilienhaus, in dem ich liebend gerne auf dem Fensterbrett im Ess- und Spielzimmer kniete, mir die Nase an der Scheibe platt drückte und das Treiben auf der Straße verfolgte. Es gibt sogar ein Foto von mir, auf dem ich mit meinem großen Bruder auf besagtem Fensterbrett sitze. An zwei Szenen erinnere ich mich besonders, die mit diesem Fenster verbunden sind. Einmal beobachtete ich voller Faszination dicke Schneeflocken, die wie die Bettfedern von Frau Holle sanft und leise vom Himmel fielen. Während ich in immer wiederkehrendem Singsang „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ sang, wirbelten die großen, weichen Schneeflocken am Fenster vorbei und bedeckten langsam Dächer und Wege mit einem weißen Zuckerguss. Ein andermal hockte ich mit schlimmen Ohrenschmerzen auf dem Fensterbrett und musste das Haus hüten, besonders auch, da draußen ein schlimmer Sturm um die Häuser heulte. Er wirbelte trockenes Laub, Plastiktüten und was sonst noch so auf den Straßen herumlag, durch die Luft und brachte einige Bäume dazu, beängstigend laut zu ächzen. Und dann fiel mit lautem Krach eine Dachpfanne vom Dach der Schule, die genau gegenüber auf der anderen Straßenseite stand. Meine Geschwister gesellten sich zu mir und wir beobachteten aufgeregt, wie noch weitere Dachpfannen vom Dach gefegt wurden und auf dem Fußweg zerschmetterten. Schließlich rückte die Feuerwehr an und sperrte den Weg um die Schule herum ab, damit keine Passanten zu Schaden kamen. Ich vergaß meine Ohrenschmerzen vollkommen, so spannend war das.
Mein späteres Leben ist vor allem von Ausblicken auf Bäume geprägt. In dem Haus, in dem ich den größten Teil meiner Kindheit verbrachte, stand vor meinem Fenster eine große Trauerweide. Ich schob gerne die Gardinen zur Seite und schaute hinaus in den Garten. Manchmal setzte ich mich auch noch auf das Fensterbrett, aber als ich groß genug war, um hinaus sehen zu können, stand ich meistens und stützte meine Ellbogen auf der schmalen Steinplatte ab. Es gab sehr viele Vögel in diesem Garten und durch meinen Bruder, der Mitglied im Vogelschutzbund war, lernte ich schon früh die einzelnen Arten zu unterscheiden, die sich im Winter an dem großen Vogelhaus rechts neben der Trauerweide tummelten oder im Sommer versteckt in den Ästen der Bäume hockten. Im Winter sah die Weide sehr trostlos aus und machte ihrem Namen alle Ehre. Die langen, dünnen Zweige hingen nackt und dunkel vom Baum herab. Doch im Sommer bot der Baum einen prachtvollen Anblick. Fast scheint es mir so, als könnte ich in der Erinnerung jedes einzelne der schmalen, silbrig-grünen Blätter erkennen, als wüsste ich noch genau, wie jeder Ast gewachsen war und wie der dicke Stamm aussah. Immer häufiger träumte ich vor mich hin, während ich am Fenster stand, und meine Gedanken verfingen sich in den ausladenden Ästen und schwangen leise mit ihnen im Wind. Ich wusste, eines Tages würde ich diesen Baum nicht mehr sehen können. Aber die Erinnerung an ihn wollte ich unbedingt festhalten, das war mir eigenartigerweise schon sehr früh wichtig.
Der nächste Baum, der eine große Bedeutung für mich hatte, stand im Garten des Hauses, in dem ich während meines Studiums lebte. Es war ein alter, verwilderter und total ungepflegter Garten. Direkt vor meinem Fenster befand sich eine Reihe dünner Fichten, die mich wenig beeindruckten, obwohl sie den Garten im Winter nicht ganz so trostlos erscheinen ließen. Wichtiger war mir ein alter Apfelbaum mit einem krummen, gewundenen Stamm, der vor dem Küchenfenster stand, den ich aus meinem eigenen Zimmer aber auch gut sehen konnte. Seine üppigen weißen Blüten im Frühling erinnerten mich an die Apfelbäume im Garten meiner Kindertage (die auch eine große Rolle in meinem Leben spielten, aber nicht unter der Rubrik „Fensterblick“). Allerdings trug er längst nicht so viele Früchte wie jene Bäume. Ich schaute oft voller Sehnsucht hinaus auf diesen Baum und verfolgte seine Veränderungen im Wandel der Jahreszeiten. Auch ich veränderte mich. Orientierungslos irrte ich durchs Leben auf der Suche nach neuer Beständigkeit, während ich keine Idee hatte, was ich mit meinem Studium jemals anfangen sollte. Meine Studentenwohnung jedoch wurde mir über die Jahre mit all den anderen Mitbewohnern zu einem neuen Zuhause, in dem ich eine Geborgenheit erlebte, die ich in meinem Elternhaus manchmal vermisst hatte, so sehr mich diese Erkenntnis auch erschreckte. Doch dieser Apfelbaum da draußen in dem alten Garten, der stellte irgendwie eine Verbindung zu meiner Familie, meiner Vergangenheit her. Und er hörte mir zu, wenn ich hilfesuchend hinaus schaute und tröstete mich, wenn mir die Tränen haltlos über das Gesicht liefen, weil ich wieder mal Liebeskummer hatte oder von einer grässlichen Melancholie erfasst wurde, die mir das Leben damals manchmal unnötig erschwerte. Ich machte mehrere Fotos von ihm, bevor ich aus der Wohnung auszog und nahm sehr bewusst von diesem Apfelbaum Abschied.
Heute schaue ich aus einem meiner Fenster auf eine große Kastanie. Sie steht dichter am Haus als all die Bäume in den Häusern, in denen ich früher lebte und schirmt die Sonne ab, so dass es in dem Zimmer leider sehr dunkel ist. Aber ich liebe diesen Baum dennoch und bin sehr glücklich über das üppige Grün inmitten der grauen Großstadt. Im Winter und Frühling turnen Eichhörnchen in den dicken Ästen herum und zaubern mir jeden Morgen ein Schmunzeln ins Gesicht, sobald ich die Vorhänge öffne. Im Frühling kann ich den Blättern zusehen, wie sie sich stündlich mehr aus den Zweigen hervorschälen und sich dann in einer Pracht entfalten, die leider schnell vorüber ist. Die Blütenkerzen sind genauso faszinierend wie die stacheligen Kastanien, die jetzt Ende Juli schon eine beachtliche Größe erreicht haben und von denen ich im Oktober einige aufsammle und meine Wohnung damit schmücke. Leider sind auch die Miniermotten schon wieder aktiv gewesen, so dass viele Blätter zerfressen sind und erste braune Flecken aufweisen. Immerhin scheint der Baum nicht so schlimm betroffen zu sein, wie viele Kastanien in öffentlichen Parks, die zum Teil schon aussehen wie im Spätherbst. Ich leide dennoch jedes Jahr mit dem Baum mit, so wie er wohl auch mit mir mitleidet. Dieser Baum kennt meine Einsamkeiten und Ängste, er weiß um meine Sehnsüchte und auch um mein Glück. Er schaut hinein in das Zimmer, in dem ich arbeite und schlafe, in dem ich kreativ bin, in dem ich Männer geliebt habe und später um sie weinte. Ich frage mich, wie alt dieser Baum wohl sein mag und was er schon alles gesehen hat, bevor ich hier einzog. Aber er ist ein verschwiegener Geselle, schweigsam und erhaben. Doch genau das schätze ich so an ihm, und ich weiß jetzt schon eins: Wenn ich eines Tages aus dieser Wohnung ausziehen werde, so vergesse ich diese alte Kastanie garantiert niemals, wohin auch immer es mich verschlagen wird.
Ich erinnere mich sehr genau an die Ausblicke aus den jeweiligen Häusern, in denen ich gewohnt habe. Als kleines Kind wohnte ich kurze Zeit in einem Mehrfamilienhaus, in dem ich liebend gerne auf dem Fensterbrett im Ess- und Spielzimmer kniete, mir die Nase an der Scheibe platt drückte und das Treiben auf der Straße verfolgte. Es gibt sogar ein Foto von mir, auf dem ich mit meinem großen Bruder auf besagtem Fensterbrett sitze. An zwei Szenen erinnere ich mich besonders, die mit diesem Fenster verbunden sind. Einmal beobachtete ich voller Faszination dicke Schneeflocken, die wie die Bettfedern von Frau Holle sanft und leise vom Himmel fielen. Während ich in immer wiederkehrendem Singsang „Schneeflöckchen, Weißröckchen“ sang, wirbelten die großen, weichen Schneeflocken am Fenster vorbei und bedeckten langsam Dächer und Wege mit einem weißen Zuckerguss. Ein andermal hockte ich mit schlimmen Ohrenschmerzen auf dem Fensterbrett und musste das Haus hüten, besonders auch, da draußen ein schlimmer Sturm um die Häuser heulte. Er wirbelte trockenes Laub, Plastiktüten und was sonst noch so auf den Straßen herumlag, durch die Luft und brachte einige Bäume dazu, beängstigend laut zu ächzen. Und dann fiel mit lautem Krach eine Dachpfanne vom Dach der Schule, die genau gegenüber auf der anderen Straßenseite stand. Meine Geschwister gesellten sich zu mir und wir beobachteten aufgeregt, wie noch weitere Dachpfannen vom Dach gefegt wurden und auf dem Fußweg zerschmetterten. Schließlich rückte die Feuerwehr an und sperrte den Weg um die Schule herum ab, damit keine Passanten zu Schaden kamen. Ich vergaß meine Ohrenschmerzen vollkommen, so spannend war das.
Mein späteres Leben ist vor allem von Ausblicken auf Bäume geprägt. In dem Haus, in dem ich den größten Teil meiner Kindheit verbrachte, stand vor meinem Fenster eine große Trauerweide. Ich schob gerne die Gardinen zur Seite und schaute hinaus in den Garten. Manchmal setzte ich mich auch noch auf das Fensterbrett, aber als ich groß genug war, um hinaus sehen zu können, stand ich meistens und stützte meine Ellbogen auf der schmalen Steinplatte ab. Es gab sehr viele Vögel in diesem Garten und durch meinen Bruder, der Mitglied im Vogelschutzbund war, lernte ich schon früh die einzelnen Arten zu unterscheiden, die sich im Winter an dem großen Vogelhaus rechts neben der Trauerweide tummelten oder im Sommer versteckt in den Ästen der Bäume hockten. Im Winter sah die Weide sehr trostlos aus und machte ihrem Namen alle Ehre. Die langen, dünnen Zweige hingen nackt und dunkel vom Baum herab. Doch im Sommer bot der Baum einen prachtvollen Anblick. Fast scheint es mir so, als könnte ich in der Erinnerung jedes einzelne der schmalen, silbrig-grünen Blätter erkennen, als wüsste ich noch genau, wie jeder Ast gewachsen war und wie der dicke Stamm aussah. Immer häufiger träumte ich vor mich hin, während ich am Fenster stand, und meine Gedanken verfingen sich in den ausladenden Ästen und schwangen leise mit ihnen im Wind. Ich wusste, eines Tages würde ich diesen Baum nicht mehr sehen können. Aber die Erinnerung an ihn wollte ich unbedingt festhalten, das war mir eigenartigerweise schon sehr früh wichtig.
Der nächste Baum, der eine große Bedeutung für mich hatte, stand im Garten des Hauses, in dem ich während meines Studiums lebte. Es war ein alter, verwilderter und total ungepflegter Garten. Direkt vor meinem Fenster befand sich eine Reihe dünner Fichten, die mich wenig beeindruckten, obwohl sie den Garten im Winter nicht ganz so trostlos erscheinen ließen. Wichtiger war mir ein alter Apfelbaum mit einem krummen, gewundenen Stamm, der vor dem Küchenfenster stand, den ich aus meinem eigenen Zimmer aber auch gut sehen konnte. Seine üppigen weißen Blüten im Frühling erinnerten mich an die Apfelbäume im Garten meiner Kindertage (die auch eine große Rolle in meinem Leben spielten, aber nicht unter der Rubrik „Fensterblick“). Allerdings trug er längst nicht so viele Früchte wie jene Bäume. Ich schaute oft voller Sehnsucht hinaus auf diesen Baum und verfolgte seine Veränderungen im Wandel der Jahreszeiten. Auch ich veränderte mich. Orientierungslos irrte ich durchs Leben auf der Suche nach neuer Beständigkeit, während ich keine Idee hatte, was ich mit meinem Studium jemals anfangen sollte. Meine Studentenwohnung jedoch wurde mir über die Jahre mit all den anderen Mitbewohnern zu einem neuen Zuhause, in dem ich eine Geborgenheit erlebte, die ich in meinem Elternhaus manchmal vermisst hatte, so sehr mich diese Erkenntnis auch erschreckte. Doch dieser Apfelbaum da draußen in dem alten Garten, der stellte irgendwie eine Verbindung zu meiner Familie, meiner Vergangenheit her. Und er hörte mir zu, wenn ich hilfesuchend hinaus schaute und tröstete mich, wenn mir die Tränen haltlos über das Gesicht liefen, weil ich wieder mal Liebeskummer hatte oder von einer grässlichen Melancholie erfasst wurde, die mir das Leben damals manchmal unnötig erschwerte. Ich machte mehrere Fotos von ihm, bevor ich aus der Wohnung auszog und nahm sehr bewusst von diesem Apfelbaum Abschied.
Heute schaue ich aus einem meiner Fenster auf eine große Kastanie. Sie steht dichter am Haus als all die Bäume in den Häusern, in denen ich früher lebte und schirmt die Sonne ab, so dass es in dem Zimmer leider sehr dunkel ist. Aber ich liebe diesen Baum dennoch und bin sehr glücklich über das üppige Grün inmitten der grauen Großstadt. Im Winter und Frühling turnen Eichhörnchen in den dicken Ästen herum und zaubern mir jeden Morgen ein Schmunzeln ins Gesicht, sobald ich die Vorhänge öffne. Im Frühling kann ich den Blättern zusehen, wie sie sich stündlich mehr aus den Zweigen hervorschälen und sich dann in einer Pracht entfalten, die leider schnell vorüber ist. Die Blütenkerzen sind genauso faszinierend wie die stacheligen Kastanien, die jetzt Ende Juli schon eine beachtliche Größe erreicht haben und von denen ich im Oktober einige aufsammle und meine Wohnung damit schmücke. Leider sind auch die Miniermotten schon wieder aktiv gewesen, so dass viele Blätter zerfressen sind und erste braune Flecken aufweisen. Immerhin scheint der Baum nicht so schlimm betroffen zu sein, wie viele Kastanien in öffentlichen Parks, die zum Teil schon aussehen wie im Spätherbst. Ich leide dennoch jedes Jahr mit dem Baum mit, so wie er wohl auch mit mir mitleidet. Dieser Baum kennt meine Einsamkeiten und Ängste, er weiß um meine Sehnsüchte und auch um mein Glück. Er schaut hinein in das Zimmer, in dem ich arbeite und schlafe, in dem ich kreativ bin, in dem ich Männer geliebt habe und später um sie weinte. Ich frage mich, wie alt dieser Baum wohl sein mag und was er schon alles gesehen hat, bevor ich hier einzog. Aber er ist ein verschwiegener Geselle, schweigsam und erhaben. Doch genau das schätze ich so an ihm, und ich weiß jetzt schon eins: Wenn ich eines Tages aus dieser Wohnung ausziehen werde, so vergesse ich diese alte Kastanie garantiert niemals, wohin auch immer es mich verschlagen wird.
Wohnzimmer - feinstrick - 27. Jul, 14:26
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