Gespenster

Mein Hund sprang um mich herum. Er flitzte vor mir her, entzog sich immer mal wieder meiner Kontrolle und ließ mich nervös umherschauen, ob auch niemand kam und der Hund keinen Schaden anrichten konnte. Dann nahm ich ihn an die Leine, ich spürte das weiche Leder zwischen meinen Fingern, den Zug der Laufleine, den Ruck in meiner Schulter, wenn der kleine Kerl abrupt stehen blieb und noch mal drei Meter zurück lief, weil er eine ganz heiße Spur entdeckt hatte. Meine Schwester stand oben an einem sandigen Abhang, der in die Heide hinunter führte. Sie winkte mir zu, bevor sie den Hund losließ und er aus purer Lust am Laufen diesen Hang hinunterflitzte, schneller, immer schneller, wie eine kleine Kugel auf Beinen. Am Segelflugplatz stand mein Vater und schaute den Flugzeugen hinterher, die mit leisem Surren am Himmel ihre Kreise zogen. Mein großer Bruder stapfte durch den Matsch und fluchte, weil er die falschen Schuhe angezogen hatte. „Immer, wenn ich herkomme, ist schlechtes Wetter“, sagte er und klang so beleidigt, als ob die kühle Luft und der Regen ihn persönlich angegriffen hätten. Mir machte der Regen nichts aus. In Gummistiefeln und mit einem großen Schirm bewaffnet, genoss ich die Stille im Wald. Bei diesem Wetter war ich hier mit dem Hund und meinen Gedanken alleine. Der Wind trug die Stimme meiner Mutter von unserem Haus herüber. Sie ermahnte meinen kleinen Bruder, sich zu beeilen, damit er den Bus nicht verpasste. Er hörte nicht auf sie, las stattdessen lieber weiter seine Zeitschriften, bis der Bus ohne ihn abfuhr und meine Mutter sich verärgert ins Auto setzte und ihn wohin auch immer fuhr. Später deckte sie auf der Terrasse den Kaffeetisch und servierte uns ihren selbstgebackenen Apfelkuchen.
Feine Regentropfen fielen auf meine Brille und ließen meinen Blick verschwimmen. Eine Familie mit vier Kindern spielte im Heidekraut am Rand des Flugplatzes. Sie erinnerte mich an meine eigene Familie und ich blickte mich suchend um, doch alle waren verschwunden, der Hund, meine Eltern, meine Geschwister. Ich nahm die Brille ab und wischte die Gläser trocken. Als ich wieder klar sehen konnte, hatte der Regen aufgehört. Die Segelflieger kreisten immer noch am Himmel. Die Luft roch würzig nach Kiefern und feuchter Erde. Die fremde Familie begab sich auf den Heimweg, und meine Schuhe gruben sich in den dunklen Sandboden. Ich fühlte mich einen Moment lang sehr verloren, denn mir wurde bewusst, dass meine eigene Familie fast nur noch aus Gespenstern besteht.
Meine Eltern sind schon lange tot, der Hund auch. Mein großer Bruder hat mit der Vergangenheit, mit uns gebrochen. Ich weiß nicht, wo und wie er lebt. Mein jüngerer Bruder lässt sich heute von seiner Frau zur Eile antreiben (was sie genauso wenig schafft wie damals meine Mutter) und meine Schwester spielt inzwischen nicht mehr mit mir und dem Hund, sondern mit ihren eigenen Kindern. Und ich? Ich bin die Hüterin meiner Familiengeschichte, die Einzige von uns allen, die gelegentlich an alte Orte zurück kehrt, die Erinnerungen lebendig hält, die bewusst all dem nachspürt, was damals war, an Schönem, aber auch an Schrecklichem. Ich berufe immer mal wieder den Familienrat ein, und dann kommen sie alle und versammeln sich mit mir an diesen vergessenen Orten, sie bringen mich zum Lachen und zum Weinen und wecken eine große Sehnsucht in mir. Ich bin dankbar, dass ich das alles hatte und wehmütig, dass es nun vorbei ist.
Ich warf einen letzten Blick auf meine Vergangenheit, stieg in den Bus nach Hause, und während Wald und Heidelandschaft immer mehr der Großstadt wichen, machte sich eine zufriedene Erleichterung darüber breit, dass ich im Jetzt und Hier lebe und nicht in der Vergangenheit stehen geblieben bin, so kostbar auch all die Erinnerungen sind, und so traurig sie mich gelegentlich stimmen.
Dachboden - feinstrick - 15. Jun, 11:10
4 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks