Erinnerungen I
In meinem Wohnzimmer steht ein alter Bücherschrank. Er ist nicht sonderlich groß, wirkt aber durch sein sehr dunkel gebeiztes Holz recht massiv, weswegen mir schon öfter Leute geraten haben, ihn wegzugeben. Der Schrank hat drei Türen, die mit Ornamenten verziert sind. Die mittlere Tür ist außerdem im oberen Teil verglast. Ein solider, alter Schrank, der an einigen Stellen etwas grob verarbeitet erscheint, aber den Eindruck erweckt, als sei er unverwüstlich.
Als ich gestern sämtliche Regalbretter aus dem Schrank nahm, um sie vom Staub der Jahre zu befreien, machte ich eine kleine Entdeckung: Auf eines der Bretter hatte jemand am Rand mit Bleistift in altdeutscher Schrift zwei Namen geschrieben, „Hansi“ und „Rudi“. Dazwischen befand sich eine ungelenke, mehrmals nachgezogene senkrechte Linie. Hansi und Rudi, das waren mein Vater und sein Bruder. Hatten sie als Kinder gestritten und sich dann darauf geeinigt, dass jeder von ihnen genau die Hälfte dieses Regalbretts für seine Habseligkeiten erhielt? Oder hatte ihnen der Vater hier in einer Schrankecke genau abgemessen einen Platz zugeteilt? Ich werde das nicht mehr herausfinden, denn mein Vater und mein Großvater leben nicht mehr und zu meinem Onkel habe ich kaum noch Kontakt, so dass er mir diesbezüglich keine Auskünfte mehr erteilen wird.
Und doch hat mich diese Entdeckung sehr berührt. Sie versetzte mich schlagartig in die dreißiger Jahre zurück, in die Entstehungszeit des Schrankes und in das Haus meiner Großeltern im Süden Leipzigs, errichtet in einer Vorzeige-Neubausiedlung, schmuck und modern. Ich sehe meinen Vater Kriegsschiffe basteln und Fliegerangriffe malen. Er war Jahrgang 1930 und seine Kindheit wurde beherrscht von Diktatur und Krieg. Einige seiner Bilder besitze ich heute noch. Ich sehe meinen Vater mit seinem älteren Bruder in ihrem kleinen Wohnzimmer spielen, so, wie ich es Jahrzehnte später mit meinen Geschwistern tat. Ich sehe dieses alte Haus noch so genau vor mir, als hätte ich es gestern zum letzten Mal betreten. Dabei ist das fast zwanzig Jahre her. Damals war das Haus überhaupt nicht mehr schmuck. Es war total heruntergekommen, verdreckt und verwahrlost. Der stetige Verfall hatte im Grunde genommen bereits im Zweiten Weltkrieg begonnen. Mein Vater hatte immer wieder von den Pappen in den Fenstern erzählt, weil sämtliche Glasscheiben bei Bombenangriffen zersprungen waren. Er hatte von den Brandbomben im Garten erzählt, von den Nächten im Keller (den ich als sehr dunkel und sehr feucht und sehr gruselig in Erinnerung habe), von den schlimmen Zerstörungen, die aus dem einstigen Vorzeigeviertel einen Trümmerhaufen machten. Zu DDR-Zeiten fehlte es an Baumaterial, und mein Großvater zeichnete sich auch nicht gerade durch geschicktes Heimwerken aus, so dass das einst so schmucke Häuschen nie wieder in seinem alten Glanz erstrahlte.
Ich sehe den dunklen Bücherschrank im Flur im ersten Stock stehen. Es war der Schrank meines Großvaters, ein Heiligtum, das niemand ungefragt öffnen durfte. Der Anblick dieses Schrankes dort in dem engen, dunklen Flur ist verbunden mit dem Geruch nach Pfefferminz und China-Öl, der meinen Großvater bis an sein Lebensende begleitete. Er war ein Öko und ein Esoteriker, lange, lange bevor diese Begriffe in Mode kamen, ein Eigenbrötler, der sein Leben so lebte, wie er es für richtig hielt, ohne Rücksicht auf Verluste. In gewisser Weise ähnelte mein Vater ihm darin sehr. Den Schrank hat vermutlich mein Urgroßvater gebaut, der Tischler war. Vielleicht war er ein Hochzeitsgeschenk für meine Großeltern. Oder ein Einzugsgeschenk. Wer weiß.
Ich erinnere mich noch genau daran, wie dieser Schrank in meiner Wohnung Einzug hielt und wie sehr mein Vater sich darüber freute, dass ich ihn haben wollte. Noch mehr würde er sich freuen, wenn er wüsste, wie sehr ich mittlerweile an dem alten Stück hänge. Dieser Schrank ist für mich sehr lebendige Familiengeschichte. Mag sein, dass er mein kleines Wohnzimmer ein wenig erdrückt und irgendwie im Weg ist. Aber davon abgesehen, dass er die perfekten Maße hat, um Aktenordner zu verstauen, stellt er für mich eine Verbindung zu meiner Vergangenheit her, ist ein Symbol für die Wurzeln meines Daseins. Und alleine schon aus diesem Grund werde ich ihn so lange behalten, wie es irgendwie möglich ist.
Als ich gestern sämtliche Regalbretter aus dem Schrank nahm, um sie vom Staub der Jahre zu befreien, machte ich eine kleine Entdeckung: Auf eines der Bretter hatte jemand am Rand mit Bleistift in altdeutscher Schrift zwei Namen geschrieben, „Hansi“ und „Rudi“. Dazwischen befand sich eine ungelenke, mehrmals nachgezogene senkrechte Linie. Hansi und Rudi, das waren mein Vater und sein Bruder. Hatten sie als Kinder gestritten und sich dann darauf geeinigt, dass jeder von ihnen genau die Hälfte dieses Regalbretts für seine Habseligkeiten erhielt? Oder hatte ihnen der Vater hier in einer Schrankecke genau abgemessen einen Platz zugeteilt? Ich werde das nicht mehr herausfinden, denn mein Vater und mein Großvater leben nicht mehr und zu meinem Onkel habe ich kaum noch Kontakt, so dass er mir diesbezüglich keine Auskünfte mehr erteilen wird.
Und doch hat mich diese Entdeckung sehr berührt. Sie versetzte mich schlagartig in die dreißiger Jahre zurück, in die Entstehungszeit des Schrankes und in das Haus meiner Großeltern im Süden Leipzigs, errichtet in einer Vorzeige-Neubausiedlung, schmuck und modern. Ich sehe meinen Vater Kriegsschiffe basteln und Fliegerangriffe malen. Er war Jahrgang 1930 und seine Kindheit wurde beherrscht von Diktatur und Krieg. Einige seiner Bilder besitze ich heute noch. Ich sehe meinen Vater mit seinem älteren Bruder in ihrem kleinen Wohnzimmer spielen, so, wie ich es Jahrzehnte später mit meinen Geschwistern tat. Ich sehe dieses alte Haus noch so genau vor mir, als hätte ich es gestern zum letzten Mal betreten. Dabei ist das fast zwanzig Jahre her. Damals war das Haus überhaupt nicht mehr schmuck. Es war total heruntergekommen, verdreckt und verwahrlost. Der stetige Verfall hatte im Grunde genommen bereits im Zweiten Weltkrieg begonnen. Mein Vater hatte immer wieder von den Pappen in den Fenstern erzählt, weil sämtliche Glasscheiben bei Bombenangriffen zersprungen waren. Er hatte von den Brandbomben im Garten erzählt, von den Nächten im Keller (den ich als sehr dunkel und sehr feucht und sehr gruselig in Erinnerung habe), von den schlimmen Zerstörungen, die aus dem einstigen Vorzeigeviertel einen Trümmerhaufen machten. Zu DDR-Zeiten fehlte es an Baumaterial, und mein Großvater zeichnete sich auch nicht gerade durch geschicktes Heimwerken aus, so dass das einst so schmucke Häuschen nie wieder in seinem alten Glanz erstrahlte.
Ich sehe den dunklen Bücherschrank im Flur im ersten Stock stehen. Es war der Schrank meines Großvaters, ein Heiligtum, das niemand ungefragt öffnen durfte. Der Anblick dieses Schrankes dort in dem engen, dunklen Flur ist verbunden mit dem Geruch nach Pfefferminz und China-Öl, der meinen Großvater bis an sein Lebensende begleitete. Er war ein Öko und ein Esoteriker, lange, lange bevor diese Begriffe in Mode kamen, ein Eigenbrötler, der sein Leben so lebte, wie er es für richtig hielt, ohne Rücksicht auf Verluste. In gewisser Weise ähnelte mein Vater ihm darin sehr. Den Schrank hat vermutlich mein Urgroßvater gebaut, der Tischler war. Vielleicht war er ein Hochzeitsgeschenk für meine Großeltern. Oder ein Einzugsgeschenk. Wer weiß.
Ich erinnere mich noch genau daran, wie dieser Schrank in meiner Wohnung Einzug hielt und wie sehr mein Vater sich darüber freute, dass ich ihn haben wollte. Noch mehr würde er sich freuen, wenn er wüsste, wie sehr ich mittlerweile an dem alten Stück hänge. Dieser Schrank ist für mich sehr lebendige Familiengeschichte. Mag sein, dass er mein kleines Wohnzimmer ein wenig erdrückt und irgendwie im Weg ist. Aber davon abgesehen, dass er die perfekten Maße hat, um Aktenordner zu verstauen, stellt er für mich eine Verbindung zu meiner Vergangenheit her, ist ein Symbol für die Wurzeln meines Daseins. Und alleine schon aus diesem Grund werde ich ihn so lange behalten, wie es irgendwie möglich ist.
Wohnzimmer - feinstrick - 6. Apr, 11:45
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