Donnerstag, 1. Juli 2010

Die Wahrheit über meine Auszeit

Kürzlich begab ich mich in die Notaufnahme eines Krankenhauses, nachdem ich tagelang an starken Bauchschmerzen litt. Ich hatte den Verdacht, dass ich nicht nur eine Magenverstimmung hatte, denn sonst wäre ich natürlich zu meinem Hausarzt gegangen – wenn überhaupt. Kein Mensch begibt sich freiwillig in ein Krankenhaus. Dorthin geht man nur, wenn man glaubt, ein wirklich ernstes gesundheitliches Problem zu haben. Eins, bei dem Eile Not tut, bei dem es eben nicht reicht, zum Arzt um die Ecke zu gehen. Not. Eile. Akut. Wichtige Worte in diesem Zusammenhang.

In der total überfüllten Notaufnahme besagter Klinik waren das jedoch Fremdworte. Es dauerte geschlagene 6,5 Stunden (in Worten: sechseinhalb), bis ich eine brauchbare Diagnose hatte. Sechseinhalb Stunden des Wartens, der Schmerzen und des Unwohlseins. Sechseinhalb Stunden, in denen ich mich über lange Strecken unendlich verlassen und einsam fühlte. Ich stellte bald fest, dass das lange Warten nicht nur daran lag, dass die Mitarbeiter so viel zu tun hatten. Vielmehr waren sie auch unorganisiert. Ich wurde gleich mehrmals gebeten, eine Urinprobe abzugeben, zweimal wollte man meinen Befund aufnehmen, ich wurde mit meiner Bahre von Zimmer zu Zimmer geschoben, weil sich die Ärzte gegenseitig die Räume wegnahmen. Das alles kostete unnötig Zeit und Energie.

Eine Schwester legte mir einen Venenzugang, was ich als extrem schmerzhaft empfand (mittlerweile finde ich auch, dass das nicht zumutbar ist; so lange die Patienten von keinem Arzt untersucht wurden und überhaupt nicht klar ist, ob sie tatsächlich operiert werden, kann man sie nicht einfach prophylaktisch für einen stationären Aufenthalt „präparieren“ - noch dazu, ohne sie nennenswert darauf vorzubereiten und aufzuklären). Ich kann Schmerzen eigentlich gut aushalten. Aber es gibt solche, die sind nicht unbedingt stark, sie sind einfach unerträglich. Und dazu zählte der Schmerz, den mir diese kleine Kanüle in meiner Armbeuge bereitete. Ich konnte ihn nur ertragen, wenn ich meinen Arm so fest quetschte, dass er mir an anderer Stelle noch mehr weh tat. Außerdem kippte ich vor Schreck erst mal um und lag stundenlan zähneklappernd auf einer Bahre mitten im Gang in der Notaufnahme, in der es zuging wie im Taubenschlag. Ständig eilten Mitarbeiter, Patienten und Angehörige an mir vorbei. Als ich der Schwester sagte, dass mir sehr kalt sei, schaute sie mich verwundert an: „Kalt?“ Äh, ja, ich hatte einen Schock, und da friert man meines Wissens selbst bei 30 Grad im Schatten. Ich fand die Situation total entwürdigend, stellte aber schnell fest, dass ich meine Würde an der Anmeldung gleich für mehrere Tage abgegeben hatte. Jedenfalls ist das, was in Emergency Room immer so cool aussah, in Wahrheit ziemlich bedrückend. In meinem größten Elend, als ich mir sicher war, dass ich diese Bahre nie mehr lebend verlassen würde, rief zum Glück meine Schwester an. Entsetzt darüber, wie kraftlos ich klang, ließ sie Haus und Kinder im Stich, setzte sich ins Auto und brauste in Rekordzeit die 120 Kilometer bis zu mir, um mich zu trösten und zu begleiten. Ich war selten in meinem Leben so glücklich darüber, meine kleine Schwester zu sehen.

Die Entscheidung, was zu tun war, überließen die Ärzte am Ende mir. Ein blonder und sehr smarter junger Chirurg zählte vorher tausend schreckliche Krankheiten auf, die Bauchschmerzen verursachen können. Nicht gerade sehr ermutigend und beruhigend. Ich hätte mich allerdings auch ohne dieses Horrorszenario für eine Bauchspiegelung entschieden – zumal ich mir mittlerweile sehr sicher war, dass es mein Blinddarm war, der da muckerte. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, wieder heim zu gehen. Und den Ärzten war wohl auch nicht wohl dabei, denn sie operierten mich noch am selben Tag, abends um halb zehn, und entfernten den kleinen Wurmfortsatz, umgangssprachlich auch Blinddarm genannt. Da hatte ich mittlerweile zwölf Stunden in der Notaufnahme zugebracht, die letzten Stunden immerhin in einem Bett in einem kleinen Zimmer. Ich hatte seit dreizehn Stunden nichts gegessen und getrunken. Drei Chirurgen sprachen mit mir, ein vierter, mir unbekannter, operierte mich schließlich. Auch das empfand ich nicht gerade als vertrauensbildend. Ich weiß schon ganz gerne vorher, wer mir den Bauch aufschneidet. Vor der Operation musste ich noch mal gut eine Dreiviertelstunde in einem schäbigen Gang vor dem OP-Raum warten. Mein Bett stand in einer Ecke, in der lauter Möbel mit Plastikfolie abgedeckt waren. Ab und zu kam mal jemand vorbei und nickte mir aufmunternd zu, ansonsten lag ich hilflos und einsam da und starrte vor mich hin. Ich dachte an Filme wie Anatomie und wartete förmlich darauf, dass gleich mein Peiniger um die Ecke kommen und mich aufschlitzen würde – ohne Narkose natürlich.

Zum Glück wurde ich dann doch ganz fachmännisch aufgeschnippelt und wachte auch vorschriftsmäßig wieder auf. Aus meinem hellen, sonnigen Zimmer hatte ich tatsächlich einen traumhaft schönen Blick über den Hamburger Westen. Allerdings gab es nur ein (sehr altes) Gemeinschaftsbad im Flur. Am ersten Tag brauchte ich gefühlte Stunden, um den Weg dorthin zurück zu legen. Aber was nicht tötet, härtet ab. Schlimmer waren die hygienischen Zustände. Das Bad wurde einmal am Tag sauber gemacht. Wenn überhaupt. Jede Bahnhofstoilette wird jedenfalls häufiger und vor allem besser gereinigt. Desinfektionsmittel fehlte gänzlich im Bad, ein Mülleimer, in dem auch Damenbinden entsorgt wurden, stand offen herum. Auf dem breiten Fensterbrett neben meinem Bett lag fingerdick der Staub. Die Putzfrau feudelte in den drei Tagen, in denen ich da war, einmal den Fußboden und putzte einmal das Waschbecken im Zimmer – beides an verschiedenen Tagen, sonst hätte sie sich vermutlich übernommen. Nur zur Erinnerung: Ich befand mich nicht in einem drittklassigen Hotel auf Mallorca (dort wird besser sauber gemacht), sondern in einem Krankenhaus.

Das Pflegepersonal war sehr nett, und auch die Ärzte gaben sich alle Mühe. Allerdings musste man schon genau wissen, was man wollte, um nicht unterzugehen. Ich bat zum Beispiel mehrmals darum, den operierenden Arzt zu sprechen, um zu erfahren, was genau er nun eigentlich in meinem Bauch entdeckt hatte. Es dauerte zwei Tage, bis ich ihn endlich zu fassen bekam. Hätte ich nichts gesagt, wäre er vermutlich nie erschienen. Meine Bettnachbarin war daher total verloren, weil ihr Deutsch nicht gut genug war. Ihr behandelnder Arzt war jung, smart und unnahbar. Er rauschte täglich für zwei Minuten ins Zimmer, strahlte uns mit perfekten Zähnen an, sprach besonders laut (was man eben so tut, wenn man merkt, dass der andere einen nicht gut versteht …), kam aber nie auf die Idee, sich zu versichern, dass seine Patientin alles begriff. So war ihr überhaupt nicht klar, warum sie eigentlich noch in der Klinik bleiben musste, obwohl keine Untersuchungen mehr stattfanden. Und sie wusste auch nicht, wie sie ihre Medikamente einnehmen sollte. Daher fiel ihr nicht auf, dass die Schwestern vergaßen, ihr eins der Medikamente regelmäßig zu verabreichen. Als der Arzt das endlich bemerkte, hatte die Patientin bereits zwei Tage voller unnötiger Schmerzen hinter sich. Die Schwester brachte ihr daraufhin gleich einen größeren Medikamentenvorrat ans Bett: „Ich stelle Ihnen das jetzt einfach mal hier hin, dann können Sie selbst dreimal täglich Ihre Medizin nehmen.“ So geht’s natürlich auch.

Ich selbst genieße meine unfreiwillige Auszeit mittlerweile. Ich sitze stundenlang auf meinem Balkon und lese, verwöhne mich mit leckerem Essen, schlafe viel und komme endlich dazu, mit Leuten zu telefonieren, bei denen ich mich seit Monaten nicht gemeldet habe. Im Schneckentempo gehe ich spazieren und bin gerührt, dass meine Nachbarn sich gegenseitig damit übertrumpfen, mich zu unterstützen. „Ich werde immer mal nach oben lauschen“, sagte die Nachbarin unter mir. „Und wenn ich ewig nichts höre, komme ich hoch und schaue, ob du umgekippt bist.“ „Passen Sie gut auf sich auf. Ich hätte Sie gerne noch eine Weile bei mir“, sagt eine andere Nachbarin. Sie ist doppelt so alt wie ich, und eigentlich müsste ich mich um sie sorgen. Ein wenig unruhig bin ich schon, denn während ich mich als Angestellte einfach krankschreiben lassen konnte, rauschen jetzt die Tage an mir vorbei, in denen kein Geld in die Kasse kommt. Ich bemühe mich, trotzdem weiter in diesem Carpe diem-Gefühl zu verharren, das mich zwischenzeitlich erfüllt hatte, als es tatsächlich nur den Augenblick gab, die Sonne, den Garten meiner Schwester, ihre Kinder, mein Buch und eine Schüssel voller Kirschen. Fast wünschte ich, ich wäre nie aus meinem Liegestuhl aufgestanden und wieder in die Stadt zurückgekehrt.

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engl - 2. Jul, 14:09

bahre? das klingt wirklich grausam. so wie: vor der einäscherung aufgebahrt.

ich hoffe sehr, es war ein krankenbett. oder wenigstens eine trage. du liebe zeit ...

gute besserung!

feinstrick - 2. Jul, 15:53

Weia, da haben Sie Recht! Das liegt vermutlich daran, dass ich mich wirklich schon halbtot fühlte. Sprachlich korrekt war es wohl eher eine Trage.
giardino (Gast) - 4. Jul, 10:36

Schreib dem Krankenhaus das, was du hier geschildert hast. Und zwar gleichzeitig dem ärztlichen Leiter, der Pflegedienstleitung und dem Verwaltungschef. Das wird dir nicht mehr helfen, aber es ist ein Steinchen, was mit anderen Steinchen einmal zu einem verändernden Erdrutsch werden kann. Denn das, was du beschreibst, deutet nicht auf ein paar schlechte Tage hin, sondern auf grundsätzliche, ausgedehnte strukturelle Probleme in dem Laden (Patientenbild, Kommunikation, Arbeitsabläufe, Hygiene, ...). Das sind Zustände, wie sie sich eine Klinik auch eigentlich selbst nicht mehr leisten kann, buchstäblich. Und denjenigen im Krankenhaus, die etwas verändern wollen, liefert ein solcher Bericht (je sachlicher, je besser) Munition.

feinstrick - 4. Jul, 14:59

Danke für den Tipp, an welche Verantwortlichen ich schreiben soll. DASS ich einen Brief schreiben werde, steht für mich nämlich seit dem Tag meiner Entlassung fest. Ich sehe das genau wie du: Ich war nicht nur eine "Montagspatientin", sondern habe unter grundsätzlichen Problemen des Hauses gelitten. Jetzt muss ich mich nur endlich mal aufraffen ... Momentan bin ich total lustlos gegenüber allem, was mit Denken und Arbeit zu tun hat ... Aber das hängt wohl vor allem mit der plötzlichen Hitze zusammen.

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