Dienstag, 5. Mai 2009

Fremde Küche

Meine Großmutter lebte in einem spießigen Ort im Schwarzwald, in dem die Menschen ihre Zeit damit verbrachten, ihre Nachbarn zu beobachten und hinter deren Rücken zu tratschen. Alles, was irgendwie anders war, was von der Norm abwich und nach Veränderung roch, wurde misstrauisch beäugt und in der Regel abgelehnt. Umso erstaunlicher war es, dass sich in diesem kleinen Ort, noch dazu mitten in einem völlig verschlafenen Wohnviertel, ein ungarisches Restaurant etablieren konnte, das bald im ganzen Landkreis für seine feine Küche bekannt war. Es war ein kleiner Familienbetrieb, der von zwei Brüdern, ihren Eltern und Ehefrauen geführt wurde. Die Männer bedienten die Gäste, die Frauen kochten.

Mein Onkel, der in unserer Familie als vergleichsweise weltoffen galt (immerhin hatte er bereits in den 60er Jahren Urlaub auf Gran Canaria gemacht), war es wohl auch, der als Erster den Mut hatte, das ungarische Restaurant zu testen. Er war begeistert, und darum war meine Großmutter, die sich sonst auch mit allem Fremden schwer tat, es auch. Als wir sie das nächste Mal besuchten, lud sie uns alle zum Ungarn ein. Zögernd betraten wir das kleine Restaurant, das viel vornehmer wirkte als all die Jägerstuben, in denen wir sonst essen gingen – was ohnehin nur äußerst selten vorkam, denn die Kultur des Genießens war meinen Eltern sehr fremd. Und auch jetzt wären sie wohl lieber zuhause geblieben, wenn meine Großmutter nicht darauf bestanden hätte, auszugehen. In diesem ungarischen Restaurant war alles anders. Auf der Karte standen kein Pommes mit Jägerschnitzel und Bratkartoffeln mit Schwarzwälder Schinken, sondern andere Gerichte, deren Namen fremd und ein wenig bedrohlich klangen. Doch die ungarischen Herren waren sehr liebenswürdig und klärten uns freundlich auf. Ich wählte schließlich ein Kalbspörkölt, das mir in seiner deutschen Übersetzung als ungarisches Gulasch sehr vertraut erschien. Was ich dann in diesem kleinen Restaurant geschmacklich erlebte, sollte mich für immer prägen, denn hier, mitten in dem Schwarzwaldort, in dem sich sonst kaum Neues tat, aß ich das beste ungarische Gulasch meines Lebens. Serviert wurde es mit hausgemachten Nockerln, die ebenfalls ein Gedicht waren, und einem Salat, der auf eine Weise gewürzt war, wie ich es nie wieder erlebt habe. Fortan gehörte es zu unserem Pflichtprogramm, bei den Ungarn essen zu gehen, wenn wir meine Großmutter besuchten. Ich schätze, die ganze Speisekarte war grandios, aber ich blieb stets beim Kalbspörkölt, in das ich mich unsterblich verliebte.

Den kleinen Familienbetrieb ereilte jedoch das Schicksal vieler solcher Unternehmen: Den Frauen war auf die Dauer die ganze Arbeit zu viel, die Ehen gingen beide in die Brüche, die Eltern waren längst zu alt, um noch im Betrieb mitzuhelfen, und so schloss das kleine, ungarische Restaurant notgedrungen mitten in der Blüte seines Daseins für immer. Ich trauerte meinem Gulasch hinterher wie einer zerbrochenen Liebe und habe noch heute den Geschmack dieses butterzarten Fleisches auf meiner Zunge und koste diese umwerfende Salatsauce. Es gab eine lange Phase in meinem Leben, in der mir Fleisch total zuwider war und ich vegetarisch lebte. Doch selbst in diesen Zeiten passierte es mir manchmal, dass mich abends im Bett plötzlich ein Heißhunger auf ungarisches Kalbspörkölt mit in Butter geschwenkten Nockerln befiel. Seit ich wieder Fleisch esse, koche ich gelegentlich Gulasch und hoffe dabei immer, es könnte irgendwie so ähnlich schmecken wie damals beim Ungarn mitten im Schwarzwald. Aber das ist natürlich lächerlich. So, wie eine zerbrochene Liebe nie wieder zu kitten ist, so werde ich auch nie wieder genau dieses Gericht essen, das schließlich nicht nur mit Zwiebeln und viel Paprika gewürzt war, sondern auch mit meiner kindlichen Neugier und dem exotischen Geschmack, den alles Fremde inne hat.

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