Montag, 20. Oktober 2008

40 Jahre Feinstrick - heute: AIDS

Die taz feiert in diesen Tagen ihren 30. Geburtstag und brachte anlässlich dieses Jubiläums eine Sonderausgabe heraus, in der in 30 Artikeln und vielen kleinen Randbemerkungen die letzten drei Jahrzehnte bundesdeutscher Geschichte noch einmal lebendig werden. Ich lese mich gerade etappenweise durch die Texte durch und stelle fest, dass fast alle diese Ereignisse Erinnerungen in mir wecken, obwohl ich gerade in den ersten Jahren noch recht jung und alles andere als ein politisch denkendes Mädchen war. Doch die Geschehnisse von damals haben zum Teil Auswirkungen bis heute und sie haben unsere Gesellschaft, und somit natürlich auch mein Leben, nachhaltig verändert.

Ich habe mir überlegt, wie eine Zeitung wohl aussehen würde, die anlässlich meines 40. Geburtstags (der längst rum ist) entstanden wäre – mit Ereignissen, die nur für mich persönlich von Bedeutung waren, aber auch solchen, die eine ganze Generation – meine Generation – geprägt haben. Ich werde in nächster Zeit in loser Folge in diesem Blog ein wenig Rückschau halten und in meinem Gedächtnis wühlen. Eine Chronologie wird es nicht geben, ich veröffentliche die Texte hier dann, wenn sie mir gerade in den Sinn kommen.

Den Auftakt bildet eine Geschichte zum Thema AIDS.

Ich jobbte Ende der 80er Jahre in einem der ersten Bioläden der Stadt. Es war ein kleiner, schmuddeliger Laden, dessen Besitzer ihn aus purem Idealismus betrieb. Ich glaube jedenfalls nicht, dass er damit viel verdiente, obwohl er natürlich den Nerv der Zeit traf. Der Ladenbesitzer, nennen wir ihn mal Thomas, war ein junger Mann, schlank, hoch gewachsen, etwas linkisch in seinen Bewegungen, aber sehr nett. Eines Tages zog er in eine Wohnung in der Straße meiner Eltern. Ich fragte mich, was er in dieser gediegenen Wohngegend suchte, in der überwiegend ältere Leute wohnten. Aber vielleicht gefiel ihm das viele Grün ringsherum und die Nähe zum Wald, der unmittelbar hinter den Häusern begann.

Vielleicht war aber ja auch der Hausbesitzer schwul – so wie Thomas auch. Das kapierte ich damals aber nicht. Da war Homosexualität für mich etwas völlig Fremdes, Exotisches und, ja, auch Verwerfliches. Dass Thomas schwul war, begriff ich noch nicht mal, als in seine Wohnung ein Freund von ihm mit einzog, Olaf, ebenfalls groß, schmal und schlaksig. Es war die große Zeit der Wohngemeinschaften, alle Welt lebte in WGs, warum also sollte nicht auch Thomas sich mit jemandem die Miete teilen? Ich lernte Olaf gut kennen, weil er auch im Laden arbeitete und Thomas uns oft zu gemeinsamen Schichten einteilte. Ich mochte Olaf nicht besonders. Er war ernst und besserwisserisch, ganz anders als Thomas. Einmal begegnete ich den beiden auf der Straße. Sie gingen sehr dicht beieinander, lachten und wirkten glücklich. Als sie mich sahen, stoben sie so deutlich auseinander, dass ich mich irritiert fragte, was das sollte. Zum ersten Mal kam mir in den Sinn, dass mit Thomas und Olaf etwas „nicht stimmte“.

Thomas war häufig krank.
„Mein Immunsystem ist leider total angeschlagen“, erklärte er. „Mich haut einfach alles sofort um.“
Mir tat das Leid, obwohl es für mich bedeutete, dass ich häufiger arbeiten und mehr Geld verdienen konnte. Manchmal nahm Thomas mich in seinem großen, alten Lieferwagen mit heim. Wir unterhielten uns über Kafka, und ich kam mir klug und belesen vor, obwohl ich den „Prozess“ wohl nicht wirklich kapiert hatte. Thomas erzählte, dass er ursprünglich mal Friseur gelernt hatte, was ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte. Er wirkte so uneitel und stylte sich überhaupt nicht. Das passte gar nicht zu einem Friseur.

Dann zog Olaf bei Thomas wieder aus. Ich sah ihn noch ein paar Mal im Laden, er wirkte deprimiert und noch verschlossener als ohnehin schon, bis er eines Tages gar nicht mehr erschien. Und Thomas war immer öfter krank. Irgendwann gab er den Laden auf.
„Ich schaffe das finanziell nicht mehr“, verkündete er. Er zog auch aus der Wohnung in der Straße meiner Eltern aus. Das bekam ich jedoch alles nur noch am Rande mit. Ich war mittlerweile selbst ausgezogen, studierte und war nur noch selten in der Gegend.

Meine Mutter erzählte mir, dass den Bioladen jemand aus dem Ort übernommen hatte, so dass er weiter existieren würde. Das fand ich schön. Die Jahre gingen ins Land, bis ich eines Tages auf dem Weg zu meinen Eltern zufällig Thomas im Bus traf. Er war schon immer schmal gewesen, aber jetzt wirkte er deutlich abgemagert. Seine Haare waren sehr kurz geschnitten, was damals noch nicht in Mode war und das Magere unterstrich. Wir setzten uns nebeneinander und plauderten wie in alten Zeiten nett miteinander. Ich erzählte ein bisschen von meinem Studium, und dann fragte ich Thomas:
„Was machst du denn jetzt eigentlich?“
„Ich arbeite für eine AIDS-Stiftung“, sagte Thomas.
Wir waren mittlerweile in den 90ern angekommen, AIDS war spätestens seit dem Tod von Rock Hudson und Freddie Mercury ein ganz großes Thema, und selbst in meinem Hinterwäldlerleben hatten die Zeichen der Zeit ihre Spuren hinterlassen. Meinen ersten AIDS-Test, in einer Mischung aus großer Panik und noch mehr Scham durchgeführt, hatte ich jedenfalls bereits hinter mir, und Sex ohne Gummi gab es seitdem nicht mehr. Jetzt sah ich Thomas an, dessen Augen in seinem ausgezehrten Gesicht immer noch so warm und fröhlich leuchteten wie früher. Und auf einmal, hier in diesem Bus, in dieser Sekunde, begriff ich. Ich begriff, dass Thomas schwul war. Ich begriff, was er mit „schwachem Immunsystem“ gemeint hatte. Ich begriff, warum er für eine AIDS-Stiftung arbeitete. Ich wollte sagen:
„Du hast es auch, nicht wahr? Du bist auch infiziert. Mensch, Thomas, kann ich irgendwas für dich tun?“
Ich hätte ihm so gerne meine Solidarität bekundet, ihm gezeigt, dass ich auf seiner Seite stand, dass ich inzwischen wusste, dass Homosexualität nichts Unanständiges ist, und dass ich aufgeklärt genug war, um ebenfalls zu wissen, dass ich mich nicht bei Thomas anstecken konnte, wenn ich neben ihm im Bus saß. Aber ich schaffte es nicht. Ich war wie gelähmt in meiner Bestürzung und scheute davor zurück, offen mit Thomas zu sprechen. Vielleicht irrte ich mich ja auch und alles war ganz anders. Das wäre doch peinlich. Thomas musste aussteigen, und als er schon halb aus dem Bus raus war, überlegte ich noch, hinterher zu springen, ihn auf der Straße anzusprechen, wenn all die Leute mit all ihren neugierigen Ohren nicht mehr da waren. Ich spielte diesen Moment noch Monate später immer wieder durch – wie Thomas sich von mir verabschiedete, wie ich ihm hinterher sah, wie ich aufstand und ihm folgte. In Wahrheit folgte ich ihm nicht.

In Wahrheit sah ich Thomas nie wieder. Nur wenige Monate nach dieser Begegnung rief meine Mutter mich an und erzählte mir mit großer Betroffenheit, dass Thomas im Krankenhaus an AIDS gestorben sei.
„Und weißt du was? Nur ein paar Zimmer weiter lag Olaf, der kurze Zeit danach auch gestorben ist. Aber versöhnt haben die beiden sich nicht mehr. Ich glaube, sie wussten nicht mal, dass sie fast Tür an Tür lagen.“

Ich vermute, dass Olaf sich an Thomas infiziert hat und ihm das selbst im Angesicht des Todes nicht verzeihen konnte. Dieser Gedanke bewegt mich heute noch sehr. Thomas und Olaf sind die einzigen Menschen, die ich persönlich kannte und die an AIDS gestorben sind. Durch ihren Tod habe ich stärker als durch all die Aufklärungskampagnen begriffen, dass Sexualität nie einfach nur Spaß ist. Außerdem gehörten Schwule seitdem ganz selbstverständlich sogar in die Welt meiner Eltern. Auf einmal war alles anders. Und es war gut so. Auch, wenn der Preis, den wir dafür zahlen mussten, oft sehr hoch war.

Flattr this

Trackback URL:
https://feinstrick.twoday-test.net/stories/5267920/modTrackback

Rot_farbedermacht - 21. Okt, 08:50

Das ist eine sehr berührende Geschichte, in vielerlei Hinsicht. Meine ersten Erfahrungen mit AIDS und schwulen Männern waren deutlich früher. Das lag sicher daran, dass ich damals viel getanzt habe und in der Tanzszene sehr viele Männer schwul sind. Ich hatte nie ein Problem damit, ich hatte sehr schnell gelernt, dass homosexuelle Männer einen meist sehr liebevollen Umgang mit Frauen pflegen und von ihnen sehr viel Zärtlichkeit kam, ohne eine Gegenleistung zu fordern.
Irgendwann, Anfang der 80er Jahre, musste ich den Tanzsport nach einem Unfall aufgeben, der Kontakt zur Berliner Schwulenszene blieb. Nach und nach erkrankten sehr viele von meinen Freunden, in der Anfangszeit nahmen sie offensichtlich das Thema noch nicht wirklich ernst. Inzwischen ist keiner von ihnen mehr am Leben. Bei Zweien saß ich am Sterbebett, viele von ihnen sah ich unendlich leiden. Der Umgang mit ihnen und ihr langsames, absehbares Sterben hat auch mich im Umgang mit Menschen geprägt.

feinstrick - 21. Okt, 09:41

Vielen Dank für Ihren eigenen, berührenden Bericht. Er zeigt mir, dass wir alle unsere Geschichten haben.

Gäste

Neugierig?

Klatsch und Tratsch

Danke und tschüss!
Übermorgen fliege ich in den Urlaub, und wenn ich zurückkehre,...
feinstrick - 15. Mai, 21:06
Hat ja geklappt :)
Hat ja geklappt :)
steppenhund - 11. Feb, 22:02
Ja, ich erinnere mich...
Ja, ich erinnere mich gut daran. Ich mache mich mal...
feinstrick - 11. Feb, 20:08
Ich hab meine Statistik...
Ich hab meine Statistik ewig nicht angeschaut, aber...
feinstrick - 11. Feb, 20:08

Post an Frau Feinstrick

feinstrick bei googlemail com

Gezwitscher

Suche

 

Status

Online seit 6288 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Mai, 21:06

Hausordnung

Credits

Knallgrau New Media Solutions - Web Agentur f�r neue Medien

powered by Antville powered by Helma


Creative Commons License

xml version of this page (summary)

twoday.net AGB

blogoscoop


Arbeitszimmer
Badezimmer
Balkonien
Dachboden
Hausordnung
Hobbykeller
Kinderzimmer
Kleiderschrank
Küche
Schlafzimmer
Treppenhaus
Unterwegs
Wohnzimmer
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren
development