Zartes Händchen
Kürzlich traf ich im Treppenhaus eine Nachbarin, die mich um Hilfe bat. Ich war etwas erstaunt, denn erstens war ich in Eile und zweitens hatte ich noch nie zuvor mit der Frau gesprochen. Sie lebt zwar schon seit rund zwei Jahren hier im Haus, aber ich bin ihr bisher immer nur in Begleitung ihres Freundes begegnet. Die beiden grüßen dann immer freundlich und knapp, während sie Händchen haltend an mir vorbei gehen. Wenn ich hingegen den Freund alleine antreffe, ist er meistens sehr gesprächig. So ist das in Partnerschaften. Gestern nun war die Frau, deren Namen ich nicht mal kenne, alleine und sagte ohne Umschweife zu mir:
„Könnten Sie mir bitte mal helfen? Ich habe mich aus der Wohnung ausgesperrt und mein Freund ist nicht da. Jetzt brauche ich jemanden, der ein kleines Händchen hat.“
Nun bin ich erstens eine hilfsbereite Person und zweitens lässt es sich nicht leugnen, dass ich sehr kleine Hände habe. Andererseits war ich mit einer Freundin verabredet und schon etwas knapp dran. Doch die Hilfsbereitschaft siegte und ich ging mit Frau Namenlos hinauf zu ihrer Wohnung, ohne eine genaue Vorstellung davon zu haben, was sie eigentlich von mir wollte.
Dort oben vor ihrer Wohnungstür fand ich ein eigentümliches Szenario vor. Hier hatten sich, wie mir schien, ausgerechnet jene Nachbarn versammelt, die normalerweise nie miteinander reden und nie Kontakt zueinander haben. Herr Blockwart, den ich noch nie leiden konnte (nicht zuletzt, weil ich den Verdacht hege, dass er hierfür verantwortlich ist) und der mich auch nicht leiden kann, weil ich seiner Meinung nach die Hausordnung nicht richtig ernst nehme, kniete auf einem Kissen vor der Tür von Frau Namenlos und Freund. Jemand hatte die Verblendung und die Klappe vom Briefschlitz in der Tür entfernt und Herr Blockwart fuchtelte nun mit seiner Hand in dem Schlitz herum. Jetzt begriff ich, dass es darum ging, einen Draht oder ein anderes langes, biegsames Gerät durch den Briefkastenschlitz zu schieben und damit die Türklinke von innen herunter zu drücken.
„Soll ich mal?“ fragte ich in die Runde. „Ich habe sehr dünne Arme.
Herr Blockwart sah mich eine Weile zweifelnd an, bevor er sich erhob.
„Na gut, probieren Sie’s mal, Frau Feinstrick“, sagt er.
Frau Blockwart, von der ich eigentlich dachte, sie sei seit vielen Jahren tot und ihr Mann hätte sie im Waschkeller verscharrt, weil ich sie seit meinem Einzug in dieses Haus vor nunmehr neun Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen habe, sagte erstaunt:
„Das ist Frau Feinstrick? Die hätte ich jetzt aber gar nicht erkannt.“
Das überraschte mich nicht. Aber statt ihr zu raten, doch mal mehr unter Menschen zu gehen, ignorierte ich Frau Blockwart, konzentrierte mich auf meine bevorstehende Aufgabe und kniete mich auf das Kissen vor der Türschwelle. Als erstes fiel mir eins der selbst gebastelten Werkzeuge aus der Hand – natürlich in die Wohnung hinein. Herr Blockwart kommentierte das mit einem Schweigen, das schwerer wog als jeder böse Spruch. Es galt nun also, mich zu beweisen.
Jetzt trat eine Nachbarin in Aktion, die manchmal eigenwillige Kommunikationsformen wählt und ständig Angst zu haben scheint, dass sie bei den Nachbarn in Ungnade fällt. Kein Wunder, denn Herr Blockwart hetzt ihr gerne mal die Polizei auf den Hals, weil sie seiner Meinung nach zu laut Musik hört (das letzte Mal geschehen am Silvesterabend). An jenem Abend wirkte sie jedoch sehr engagiert, reichte mir verschiedene Drähte, gab Tipps und stand parat, um die Tür aufzustoßen, falls ich es schaffen sollte, die Klinke tatsächlich runter zu drücken. Ich schob mein dünnes Ärmchen tief in den schmalen Spalt hinein in die Wohnung, was Frau Blockwart ein ehrfurchtsvolles „Oh, sie kommt da ja ganz schön weit rein“ entlockte. Ich kam tatsächlich ganz schön weit, jedenfalls mit dem Arm. Aber so sehr ich mich auch anstrengte, der Draht rutschte immer ab, bevor ich die Klinke richtig herunter drücken konnte. Ich überlegte, ob ich meine Freundin anrufen und unsere Verabredung absagen sollte. Meine Nachbarschaftshilfe schien ein längeres Projekt zu werden.
Dann streifte auch noch etwas Weiches meine Hand, die im Nichts herumtastete, und als ich sie irritiert zurückzog, schaute ich in die neugierigen Augen einer schwarzen Katze. Was war ich froh, dass Frau Namenlos und Freund keine Schlangen als Haustiere halten. Oder einen zähnefletschenden Rottweiler. Auf der anderen Seite des Treppenhauses öffnete sich eine Tür und Frau Tierlieb steckte ihre Nase heraus:
„Soll ich der Katze ein bisschen Trockenfutter durch den Schlitz schieben?“ fragte sie.
Ich wiederum fragte mich, wie lange es denn wohl schon her war, dass Frau Namenlos sich ausgesperrt hatte. Doch die blieb gelassen und winkte ab. Alles noch nicht so schlimm, die Katze würde garantiert keinen qualvollen Hungertod sterben. Frau Sprachlos wurde immer munterer und mir tat der Arm immer mehr weh. Das würde ein paar fette blaue Flecken geben. Aber als ich schon überlegte, ob ich aufgeben und den Platz auf dem Kissen wieder Herrn Blockwart überlassen sollte, schaffte ich es tatsächlich, mit einer gebogenen Aluminiumstange die Tür zu öffnen. Hurra, ich war die Heldin der gesamten Nachbarschaft (und ich könnte mich, nebenbei bemerkt, jetzt auch als Einbrecherin verdingen)! Frau Sprachlos und Frau Namenlos strahlten um die Wette. Herr Blockwart sagte:
„Gratulation, Frau Feinstrick. Geben Sie’s zu, ihr Traumberuf ist eigentlich Chirurgin.“
So viele Worte hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr an mich gerichtet. Und er brachte sogar ein Lächeln zustande. Frau Blockwart lächelte ebenfalls, bevor sie für die nächsten zehn Jahre wieder inihrem Gefängnis ihrer Wohnung unterm Dach verschwand. Und ich eilte hinaus auf die Straße, dem Wahnsinn davon.
Edit: Nachdem ich einige Tage verreist war, fand ich bei meiner Rückkehr auf der Fußmatte vor meiner Tür eine Schachtel Schokolade als Dankeschön. Auf die Pappschachtel war ein kleiner Gruß geschrieben, und nun weiß ich auch, wie Frau Namenlos in echt heißt. Es geht doch nichts über eine gut funktionierende Nachbarschaft.
„Könnten Sie mir bitte mal helfen? Ich habe mich aus der Wohnung ausgesperrt und mein Freund ist nicht da. Jetzt brauche ich jemanden, der ein kleines Händchen hat.“
Nun bin ich erstens eine hilfsbereite Person und zweitens lässt es sich nicht leugnen, dass ich sehr kleine Hände habe. Andererseits war ich mit einer Freundin verabredet und schon etwas knapp dran. Doch die Hilfsbereitschaft siegte und ich ging mit Frau Namenlos hinauf zu ihrer Wohnung, ohne eine genaue Vorstellung davon zu haben, was sie eigentlich von mir wollte.
Dort oben vor ihrer Wohnungstür fand ich ein eigentümliches Szenario vor. Hier hatten sich, wie mir schien, ausgerechnet jene Nachbarn versammelt, die normalerweise nie miteinander reden und nie Kontakt zueinander haben. Herr Blockwart, den ich noch nie leiden konnte (nicht zuletzt, weil ich den Verdacht hege, dass er hierfür verantwortlich ist) und der mich auch nicht leiden kann, weil ich seiner Meinung nach die Hausordnung nicht richtig ernst nehme, kniete auf einem Kissen vor der Tür von Frau Namenlos und Freund. Jemand hatte die Verblendung und die Klappe vom Briefschlitz in der Tür entfernt und Herr Blockwart fuchtelte nun mit seiner Hand in dem Schlitz herum. Jetzt begriff ich, dass es darum ging, einen Draht oder ein anderes langes, biegsames Gerät durch den Briefkastenschlitz zu schieben und damit die Türklinke von innen herunter zu drücken.
„Soll ich mal?“ fragte ich in die Runde. „Ich habe sehr dünne Arme.
Herr Blockwart sah mich eine Weile zweifelnd an, bevor er sich erhob.
„Na gut, probieren Sie’s mal, Frau Feinstrick“, sagt er.
Frau Blockwart, von der ich eigentlich dachte, sie sei seit vielen Jahren tot und ihr Mann hätte sie im Waschkeller verscharrt, weil ich sie seit meinem Einzug in dieses Haus vor nunmehr neun Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen habe, sagte erstaunt:
„Das ist Frau Feinstrick? Die hätte ich jetzt aber gar nicht erkannt.“
Das überraschte mich nicht. Aber statt ihr zu raten, doch mal mehr unter Menschen zu gehen, ignorierte ich Frau Blockwart, konzentrierte mich auf meine bevorstehende Aufgabe und kniete mich auf das Kissen vor der Türschwelle. Als erstes fiel mir eins der selbst gebastelten Werkzeuge aus der Hand – natürlich in die Wohnung hinein. Herr Blockwart kommentierte das mit einem Schweigen, das schwerer wog als jeder böse Spruch. Es galt nun also, mich zu beweisen.
Jetzt trat eine Nachbarin in Aktion, die manchmal eigenwillige Kommunikationsformen wählt und ständig Angst zu haben scheint, dass sie bei den Nachbarn in Ungnade fällt. Kein Wunder, denn Herr Blockwart hetzt ihr gerne mal die Polizei auf den Hals, weil sie seiner Meinung nach zu laut Musik hört (das letzte Mal geschehen am Silvesterabend). An jenem Abend wirkte sie jedoch sehr engagiert, reichte mir verschiedene Drähte, gab Tipps und stand parat, um die Tür aufzustoßen, falls ich es schaffen sollte, die Klinke tatsächlich runter zu drücken. Ich schob mein dünnes Ärmchen tief in den schmalen Spalt hinein in die Wohnung, was Frau Blockwart ein ehrfurchtsvolles „Oh, sie kommt da ja ganz schön weit rein“ entlockte. Ich kam tatsächlich ganz schön weit, jedenfalls mit dem Arm. Aber so sehr ich mich auch anstrengte, der Draht rutschte immer ab, bevor ich die Klinke richtig herunter drücken konnte. Ich überlegte, ob ich meine Freundin anrufen und unsere Verabredung absagen sollte. Meine Nachbarschaftshilfe schien ein längeres Projekt zu werden.
Dann streifte auch noch etwas Weiches meine Hand, die im Nichts herumtastete, und als ich sie irritiert zurückzog, schaute ich in die neugierigen Augen einer schwarzen Katze. Was war ich froh, dass Frau Namenlos und Freund keine Schlangen als Haustiere halten. Oder einen zähnefletschenden Rottweiler. Auf der anderen Seite des Treppenhauses öffnete sich eine Tür und Frau Tierlieb steckte ihre Nase heraus:
„Soll ich der Katze ein bisschen Trockenfutter durch den Schlitz schieben?“ fragte sie.
Ich wiederum fragte mich, wie lange es denn wohl schon her war, dass Frau Namenlos sich ausgesperrt hatte. Doch die blieb gelassen und winkte ab. Alles noch nicht so schlimm, die Katze würde garantiert keinen qualvollen Hungertod sterben. Frau Sprachlos wurde immer munterer und mir tat der Arm immer mehr weh. Das würde ein paar fette blaue Flecken geben. Aber als ich schon überlegte, ob ich aufgeben und den Platz auf dem Kissen wieder Herrn Blockwart überlassen sollte, schaffte ich es tatsächlich, mit einer gebogenen Aluminiumstange die Tür zu öffnen. Hurra, ich war die Heldin der gesamten Nachbarschaft (und ich könnte mich, nebenbei bemerkt, jetzt auch als Einbrecherin verdingen)! Frau Sprachlos und Frau Namenlos strahlten um die Wette. Herr Blockwart sagte:
„Gratulation, Frau Feinstrick. Geben Sie’s zu, ihr Traumberuf ist eigentlich Chirurgin.“
So viele Worte hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr an mich gerichtet. Und er brachte sogar ein Lächeln zustande. Frau Blockwart lächelte ebenfalls, bevor sie für die nächsten zehn Jahre wieder in
Edit: Nachdem ich einige Tage verreist war, fand ich bei meiner Rückkehr auf der Fußmatte vor meiner Tür eine Schachtel Schokolade als Dankeschön. Auf die Pappschachtel war ein kleiner Gruß geschrieben, und nun weiß ich auch, wie Frau Namenlos in echt heißt. Es geht doch nichts über eine gut funktionierende Nachbarschaft.
Treppenhaus - feinstrick - 28. Mai, 10:05
2 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
Frau Klugscheisser - 28. Mai, 15:07
Schokolade aus dem Kramladen?
(schuldigung, musste mal eben meine neue Erkenntnis über Ihre wahre Identität ungeschickt einflechten)
(schuldigung, musste mal eben meine neue Erkenntnis über Ihre wahre Identität ungeschickt einflechten)
feinstrick - 28. Mai, 15:31
*schmunzel* Mit den wahren und den falschen Identitäten ist das ja immer so eine Sache. Manchmal blickt man da selbst nicht mehr durch.
Aber die Schoki war natürlich nicht aus dem Kramladen. So schizophren, dass ich mir selber ein Dankeschön vor die Tür lege, bin ich dann doch noch nicht. :-)
Aber die Schoki war natürlich nicht aus dem Kramladen. So schizophren, dass ich mir selber ein Dankeschön vor die Tür lege, bin ich dann doch noch nicht. :-)
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