Karaoke
Ein- bis zweimal im Jahr unternehme ich einen eigenartigen Ausflug, der mittlerweile schon fast zu einem Ritual geworden ist. Mit meiner liebenswerten Freundin Frau C. besuche ich einen seltsamen Studentenclub in Berlin, um einer noch seltsameren Karaoke-Show beizuwohnen. Als wir diesmal den recht gut besuchten Club betreten, laufen auf der Großbildleinwand gerade die letzten Minuten des Europäischen Sängerwettstreits. Unsere Lena hat es natürlich nicht geschafft, und ich an ihrer Stelle wäre auch froh, diesen Käse nun endlich hinter mir lassen zu können. Uns interessiert das aber nicht wirklich. Wir beobachten amüsiert, wie andere, auch sehr ambitionierte Sänger sich vor dem Anmeldetisch für die Karaoke-Show drängeln. Dann geht es los – in einer Lautstärke, die jede Kommunikation eigentlich unmöglich macht. Wie jedes Mal beginnen Frau C. und ich jedoch genau jetzt wie auf Kommando eine Unterhaltung. Nur gelegentlich schweifen unsere Augen und Ohren gen Bühne ab, die meiste Zeit brüllen wir uns konzentriert an, um die viel zu laute Musik zu übertönen. Ich verstehe immer nur die Hälfte von dem, was Frau C. brüllt. Vermutlich erklärt sie gerade, warum sie immer öfter mit dem Gedanken spielt, ihren Mann zu verlassen. Besorgt nicke ich und brülle etwas zurück, während ein Junge knapp am richtigen Ton vorbei mehr schreit als singt: „Ti amo, das heißt, ich lieb dich so.“ Das hat selbst Howard Carpendale nicht verdient. Wir brauchen erst mal frische Luft, und ich begleite Frau C. zu einer Raucherpause nach draußen. Wir sind umringt von Mädchen und Jungen, die halb so alt sind wie wir, aber doppelt so erwachsen tun. Ich frage mich, was sie über uns zwei alte Schachteln denken, die wir so offen und unbefangen über Männer, Affären und guten Sex reden. Im Saal zurück, erreicht das Gesinge seinen Höhepunkt. Die AC/DC-Fraktion lässt ihre nicht vorhandenen Haarmähnen beim Headbanging fliegen, zwei Mädchen singen sich bei einem Song, den ich nicht kenne, halb in Ekstase, und Frau C. und ich setzen unsere brüllende Unterhaltung über das Leben und die Liebe fort. Vielleicht können wir uns all unsere Geheimnisse nur in dieser merkwürdigen Atmosphäre offenbaren, hier, wo wir nicht sicher sind, ob die andere auch wirklich jedes Wort versteht. „Du klingst so, als seist du endlich angekommen“, schreit Frau C., und ich brülle zurück, dass ich mich zumindest auf einem guten Weg befinde. Ein Junge vom Nachbartisch versucht mit uns zu flirten, ein anderer lacht mir zu, als wir aufbrechen. Sind die Kerle zu betrunken, um zu sehen, wie alt wir sind? Oder finden sie gerade das so spannend? Auf dem Heimweg schaut Frau C. auf ihre Uhr. „Himmel!“ schreit sie entsetzt. „So spät ist das schon?“ Wir stellen erstaunt fest, dass wir überhaupt noch nicht müde sind, obwohl es bereits kurz nach drei ist. Eigentlich sind wir nur gegangen, weil unsere Stimmen heiser vom vielen Brüllen sind. „Ich hoffe, mein Mäuschen ist gnädig mit mir“, seufzt Frau C. Ihr Mäuschen ist drei Jahre alt, zeigt leider keine Gnade und kräht um kurz nach sechs laut durchs Haus: „Mama! Papa!“ Später sitzen wir in einer großen Runde an einer wundervoll-üppig gedeckten Frühstückstafel. Obwohl ich viel zu wenig geschlafen und am Abend vorher viel zu viel getrunken habe, und meine Stimme nicht nur vom Schreien, sondern auch einer dicken Erkältung belegt ist, fühle ich mich wach und lebendig. Vielleicht, so schießt es mir durch den Kopf, sogar lebendiger als mancher dieser Studenten, denen ich gestern Nacht begegnet bin. Das ist schon eine seltsame Sache mit dem Älterwerden. „Und – welchen Song habt ihr gesungen?“ fragt der Gatte der Frau C. wie immer nach unseren Karaoke-Nächten, und wir grinsen, und sagen, dass wir uns auch diesmal nicht getraut haben. Aber vielleicht ja beim nächsten Mal. Und dass es ein nächstes Mal geben wird, das steht fest.
- feinstrick - 15. Mai, 21:54
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rosmarin - 15. Mai, 22:38
soooooooooooooooooooo schön beschrieben, wunderbar wunderbar wunderbar..... wir sind jünger und lebendiger.... und das ist ein progredienter prozess, der extrem versöhnlich stimmt.
schön.... was ihr da hattet :-)
schön.... was ihr da hattet :-)
feinstrick - 16. Mai, 10:02
Das ist wirklich verrückt mit dem Jüngerwerden. So darf das Leben gern weiter gehen. :-)
ulla (Gast) - 16. Mai, 13:37
Karaoke ist einfach wahnsinnig toll :)
feinstrick - 17. Mai, 21:29
Sieht ganz so aus. Vor allem scheint es süchtig zu machen.
jovan haut (Gast) - 18. Mai, 00:39
Ich habe zwei Fragen prinzipiellen Charakters. Erstens: Wie könnt ihr über Sex sprechen? Und zweitens, fast noch wichtiger: Wie könnt ihr über guten Sex sprechen?
feinstrick - 18. Mai, 09:49
Wir können über Sex sprechen, weil wir Frauen sind. Die machen so was. Und weil wir nicht nur über Sex sprechen, sondern ihn auch haben, können wir auch gut von schlecht unterscheiden.
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