Aufstand
Ich wollte aus guten Gründen eigentlich nie öffentlich darüber schreiben. Ich tue es auch jetzt nur indirekt. Aus eben jenen Gründen. Da gibt es dieses kleine Land am Mittelmeer. Es ist ein armes Land. Ein Land, das von einem Diktator regiert wird. Ein Land, in dem gefoltert wird und Menschenrechte nach westlichem Maßstab mit Füßen getreten werden. Es ist aber auch ein Land, in dem – was einmalig in der Region ist - viele sehr verschiedene religiöse Gruppen erstaunlich friedlich nebeneinander leben. Es ist ein Land, dessen Geisteshaltung wir im Westen nur schwer verstehen können. Weil wir Europäer sind. Weil wir in einer völlig anderen Tradition aufgewachsen sind.
Ja, dieser Diktator in besagtem kleinen Land macht alles, was man von einem Diktator so denkt. In seinem Land gibt es Korruption, Militärgewalt, Folter. Ja, ja, ja. Und das ist alles furchtbar und darf nicht sein. Aber, und jetzt kommt ein sehr, sehr großes Aber: Dieses Problem wird sich nicht dadurch lösen lassen, dass der Diktator einfach geht. Die meisten Menschen in diesem Land, vor allem die gebildete Mittel- und Oberschicht, wussten das. Und darum warteten sie ab und hofften auf friedliche, langfristige Lösungen. Sie wussten, dass ein Aufstand einen Bürgerkrieg katastrophalen Ausmaßes mit sich bringen würde. Die Mehrheit von ihnen ging nicht demonstrieren.
Die Leute, die auf die Straße gegangen sind, hatten und haben jedoch ohnehin andere Ziele. Männer – und es waren fast nur Männer, die demonstrierten, was ein sicheres Zeichen für fundamentalistische Gruppierungen ist – wurden in Gotteshäusern eingeschworen, bevor sie demonstrieren gingen. Warum sie sich gegen den Staat auflehnten und wer ihre Anführer waren, woher sie ihre Waffen bekommen, blieb lange nebulös und ist es vermutlich immer noch. Klar ist: Diese Leute wurden von Verbrechern aufgewiegelt, die sich ihre Naivität zunutze machten. Genau wie ihr Staatschef ermorden diese Verbrecher auf bestialische Weise und völlig sinnlos ihre Nachbarn und bringen damit noch mehr Leid ins Land, als es ihr Diktator allein jemals getan hat. Freiheit sieht anders aus. Demokratie auch.
Fakt ist jedoch: Im Westen wurde darüber lange Zeit gar nicht informiert. Und auch jetzt ist die Berichterstattung sehr einseitig. Sie hat immer nur einen Tenor: Der brutale Diktator metzelt sein Volk nieder. Stimmt, das tut er auch. Aber aus seiner Sicht macht er etwas, was jeder westliche Staatschef auch täte: Er schützt sein Land vor Terroristen, die immer brutaler nicht nur gegen das Militär, sondern gegen friedliche Mitbürger vorgehen. Nur dass das recht selten zu uns durchdringt. Warum? Weil es nicht in unser Bild passt. Es ist leichter für uns, zu glauben, dass Menschen sich gegen eine Diktatur auflehnen wollen, um Freiheit zu erlangen. Wir verstehen nicht, dass sie auch ganz andere Gründe haben können. Dass sie einfach nur den einen religiösen Chef durch einen anderen ersetzen wollen, der ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft angehört und ihnen damit ein paar mehr Vorteile bringt, niemals aber Freiheit nach westlichem Verständnis. Wir verstehen nicht, dass Demokratie für diese Menschen ein Fremdwort ist, das sie nicht mit Inhalt füllen können.
Warum ich vielleicht anders klinge als die meisten anderen Leute, die ich kenne? Warum ich nicht nachplappere, was die Medien mir weismachen wollen? Weil ich eine andere Sicht auf die Dinge kennengelernt habe. Mein Schwager stammt aus diesem kleinen Land. Er lebt seit über zwanzig Jahren hier in Deutschland, hat hier studiert, promoviert, habilitiert. Wir haben viele, viele Diskussionen über Demokratie geführt. Anfangs sehr hitzig, später mit immer mehr Verständnis und Respekt voreinander. Ich habe von ihm gelernt, dass ich kein Recht darauf habe, meine westlich geprägten Ansichten zu Gesellschaft, Politik, Kultur jedem anderen Volk auf dieser Welt aufzuzwängen. Ich habe verstanden, dass Demokratie, so wie wir sie in Deutschland kennen, eine lange, lange Tradition benötigt, um wirklich wachsen zu können. Sie ist nicht einfach da, weil ein Volk auf die Straße geht und einen Diktator stürzt. Dazu bedarf es sehr viel mehr. Auch in Deutschland hat es ein paar hundert Jahre gedauert, bis wir da waren, wo wir heute stehen. Ein erster, wichtiger Schritt in Richtung Demokratie ist Bildung. Die hat dieser Diktator seinem Volk tatsächlich gebracht. Vielleicht wären die Menschen in der nächsten Generation so weit gewesen, um sich einer demokratischen Entwicklung zu öffnen, wer weiß. Jetzt ist das aber noch nicht der Fall. Genauso wenig wie in anderen Ländern in der Region auch, in denen die Menschen aus Unwissenheit fundamentalistische Regierungen wählten, die ihnen mit Sicherheit nicht die Freiheit bringen, die sie sich ersehnt haben.
Die meisten Menschen in diesem Land wünschen sich nichts sehnlicher, als endlich wieder Ruhe zu haben. Sie fürchten sich vor noch mehr Gewalt. Natürlich könnte man fragen: Warum verhandelt dieser Diktator nicht mit seinen Leuten? Warum lässt er sich nicht darauf ein, Kompromisse auszuhandeln, ihnen entgegen zu gehen, friedlicher zu werden? Aus meiner Sicht hat das zwei Gründe: Zum einen, weil er wie jeder Diktator ein Machtmensch ist. Niemand gibt gern Macht ab, schon gar nicht jemand, der mit so viel Gewalt herrscht. Zum anderen aber auch, weil er die Aufständischen als Kriminelle betrachtet (was durchaus stimmt). Und mit Kriminellen verhandelt kein Staatschef gern. Das ist wirklich tragisch, denn nun gibt es kein Zurück mehr. Wenn der Diktator geht, wird er von anderen Diktatoren abgelöst. Bleibt er, wird es irgendwann militärische Interventionen geben. Diese werden dem ohnehin schon völlig ruinierten Land den Todesstoß verpassen. Dass die Aufstände friedlich und verheißungsvoll begannen und einem Land Freiheit und Wohlstand bringen sollten, bleibt allerdings eine Mär, die sich in unserer westlichen Welt sicher sehr hartnäckig halten wird.
Natürlich ist meine Sicht auf die Dinge auch nur eine einseitige. Natürlich durchschaue auch ich den Konflikt nicht mal ansatzweise. Natürlich könnte man auch an meine Anmerkungen viele Fragezeichen machen. Das weiß ich. Aber ich finde, Fragezeichen sind besser als Ausrufezeichen. Glauben wir nicht immer alles, was wir lesen und sehen. Machen wir uns mal selbst ein Bild von etwas. Hinterfragen wir mal die mediale Berichterstattung ein bisschen kritischer als wir es meistens tun. Sprechen wir mit Menschen, die betroffen sind und nicht mit Medienvertretern, die nur sehr selten neutrale Beobachter sind. Dann werden die Bilder runder. Und stimmiger.
PS: Bitte haben Sie Verständnis, dass es nicht möglich ist, diesen Beitrag im Blog zu kommentieren. Ich führe die Diskussion bei Bedarf aber gern per Mail weiter.
Ja, dieser Diktator in besagtem kleinen Land macht alles, was man von einem Diktator so denkt. In seinem Land gibt es Korruption, Militärgewalt, Folter. Ja, ja, ja. Und das ist alles furchtbar und darf nicht sein. Aber, und jetzt kommt ein sehr, sehr großes Aber: Dieses Problem wird sich nicht dadurch lösen lassen, dass der Diktator einfach geht. Die meisten Menschen in diesem Land, vor allem die gebildete Mittel- und Oberschicht, wussten das. Und darum warteten sie ab und hofften auf friedliche, langfristige Lösungen. Sie wussten, dass ein Aufstand einen Bürgerkrieg katastrophalen Ausmaßes mit sich bringen würde. Die Mehrheit von ihnen ging nicht demonstrieren.
Die Leute, die auf die Straße gegangen sind, hatten und haben jedoch ohnehin andere Ziele. Männer – und es waren fast nur Männer, die demonstrierten, was ein sicheres Zeichen für fundamentalistische Gruppierungen ist – wurden in Gotteshäusern eingeschworen, bevor sie demonstrieren gingen. Warum sie sich gegen den Staat auflehnten und wer ihre Anführer waren, woher sie ihre Waffen bekommen, blieb lange nebulös und ist es vermutlich immer noch. Klar ist: Diese Leute wurden von Verbrechern aufgewiegelt, die sich ihre Naivität zunutze machten. Genau wie ihr Staatschef ermorden diese Verbrecher auf bestialische Weise und völlig sinnlos ihre Nachbarn und bringen damit noch mehr Leid ins Land, als es ihr Diktator allein jemals getan hat. Freiheit sieht anders aus. Demokratie auch.
Fakt ist jedoch: Im Westen wurde darüber lange Zeit gar nicht informiert. Und auch jetzt ist die Berichterstattung sehr einseitig. Sie hat immer nur einen Tenor: Der brutale Diktator metzelt sein Volk nieder. Stimmt, das tut er auch. Aber aus seiner Sicht macht er etwas, was jeder westliche Staatschef auch täte: Er schützt sein Land vor Terroristen, die immer brutaler nicht nur gegen das Militär, sondern gegen friedliche Mitbürger vorgehen. Nur dass das recht selten zu uns durchdringt. Warum? Weil es nicht in unser Bild passt. Es ist leichter für uns, zu glauben, dass Menschen sich gegen eine Diktatur auflehnen wollen, um Freiheit zu erlangen. Wir verstehen nicht, dass sie auch ganz andere Gründe haben können. Dass sie einfach nur den einen religiösen Chef durch einen anderen ersetzen wollen, der ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft angehört und ihnen damit ein paar mehr Vorteile bringt, niemals aber Freiheit nach westlichem Verständnis. Wir verstehen nicht, dass Demokratie für diese Menschen ein Fremdwort ist, das sie nicht mit Inhalt füllen können.
Warum ich vielleicht anders klinge als die meisten anderen Leute, die ich kenne? Warum ich nicht nachplappere, was die Medien mir weismachen wollen? Weil ich eine andere Sicht auf die Dinge kennengelernt habe. Mein Schwager stammt aus diesem kleinen Land. Er lebt seit über zwanzig Jahren hier in Deutschland, hat hier studiert, promoviert, habilitiert. Wir haben viele, viele Diskussionen über Demokratie geführt. Anfangs sehr hitzig, später mit immer mehr Verständnis und Respekt voreinander. Ich habe von ihm gelernt, dass ich kein Recht darauf habe, meine westlich geprägten Ansichten zu Gesellschaft, Politik, Kultur jedem anderen Volk auf dieser Welt aufzuzwängen. Ich habe verstanden, dass Demokratie, so wie wir sie in Deutschland kennen, eine lange, lange Tradition benötigt, um wirklich wachsen zu können. Sie ist nicht einfach da, weil ein Volk auf die Straße geht und einen Diktator stürzt. Dazu bedarf es sehr viel mehr. Auch in Deutschland hat es ein paar hundert Jahre gedauert, bis wir da waren, wo wir heute stehen. Ein erster, wichtiger Schritt in Richtung Demokratie ist Bildung. Die hat dieser Diktator seinem Volk tatsächlich gebracht. Vielleicht wären die Menschen in der nächsten Generation so weit gewesen, um sich einer demokratischen Entwicklung zu öffnen, wer weiß. Jetzt ist das aber noch nicht der Fall. Genauso wenig wie in anderen Ländern in der Region auch, in denen die Menschen aus Unwissenheit fundamentalistische Regierungen wählten, die ihnen mit Sicherheit nicht die Freiheit bringen, die sie sich ersehnt haben.
Die meisten Menschen in diesem Land wünschen sich nichts sehnlicher, als endlich wieder Ruhe zu haben. Sie fürchten sich vor noch mehr Gewalt. Natürlich könnte man fragen: Warum verhandelt dieser Diktator nicht mit seinen Leuten? Warum lässt er sich nicht darauf ein, Kompromisse auszuhandeln, ihnen entgegen zu gehen, friedlicher zu werden? Aus meiner Sicht hat das zwei Gründe: Zum einen, weil er wie jeder Diktator ein Machtmensch ist. Niemand gibt gern Macht ab, schon gar nicht jemand, der mit so viel Gewalt herrscht. Zum anderen aber auch, weil er die Aufständischen als Kriminelle betrachtet (was durchaus stimmt). Und mit Kriminellen verhandelt kein Staatschef gern. Das ist wirklich tragisch, denn nun gibt es kein Zurück mehr. Wenn der Diktator geht, wird er von anderen Diktatoren abgelöst. Bleibt er, wird es irgendwann militärische Interventionen geben. Diese werden dem ohnehin schon völlig ruinierten Land den Todesstoß verpassen. Dass die Aufstände friedlich und verheißungsvoll begannen und einem Land Freiheit und Wohlstand bringen sollten, bleibt allerdings eine Mär, die sich in unserer westlichen Welt sicher sehr hartnäckig halten wird.
Natürlich ist meine Sicht auf die Dinge auch nur eine einseitige. Natürlich durchschaue auch ich den Konflikt nicht mal ansatzweise. Natürlich könnte man auch an meine Anmerkungen viele Fragezeichen machen. Das weiß ich. Aber ich finde, Fragezeichen sind besser als Ausrufezeichen. Glauben wir nicht immer alles, was wir lesen und sehen. Machen wir uns mal selbst ein Bild von etwas. Hinterfragen wir mal die mediale Berichterstattung ein bisschen kritischer als wir es meistens tun. Sprechen wir mit Menschen, die betroffen sind und nicht mit Medienvertretern, die nur sehr selten neutrale Beobachter sind. Dann werden die Bilder runder. Und stimmiger.
PS: Bitte haben Sie Verständnis, dass es nicht möglich ist, diesen Beitrag im Blog zu kommentieren. Ich führe die Diskussion bei Bedarf aber gern per Mail weiter.
- feinstrick - 9. Jul, 23:07
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