Samstag, 14. März 2015

Familiengeschichten

Ich bin in Leipzig zur Buchmesse, meine Gegenwart und hoffentlich auch meine Zukunft beäugen. Ich treffe Menschen, die ich bislang nur virtuell kannte, herzliche Menschen, liebenswerte Menschen. Es sind so viele, dass ich es kaum glauben kann. Wir lachen und freuen uns und sitzen zusammen und erzählen und fachsimpeln und lachen noch mehr. Ich knüpfe neue Kontakte und lasse Ideen laut werden zu diesem und jenem, in der Hoffnung, dass sie dadurch auch Realität werden. Aufbruchstimmung allüberall und ein Gefühl von »Wir haben es geschafft, irgendwie.«

Und ich bin hingerissen von der Stadt, von den traumhaften Passagen, den vielen alten Gebäuden und Häusern, die mit viel, viel Liebe saniert wurden, den historischen Orten, die endlich wieder in altem Glanz strahlen. Allein schon der Bahnhof ist ein Gedicht, ja geradezu ein Gesamtkunstwerk. Wer ihn noch zu DDR-Zeiten kannte, wird wissen, was ich meine. Ich weiß jetzt schon, dass ich wiederkommen muss in diese Stadt, unbedingt.

Aber ich bewege mich nicht nur in der Gegenwart und Zukunft, sondern auch in der Vergangenheit. Diese Stadt birgt einen Schatz voller Erinnerungen, die weit, weit zurückliegen. Sie führen mich in den alten Garten meiner Großeltern, in dem wir tonnenweise Stachelbeeren ernten, in die Küche meiner Großmutter, in der sie auf ihrem alten Herd, der noch mit Kohle geheizt wird, Wasser heiß macht, mit dem meine Mutter uns Kindern in einer Plastikschüssel die rußigen Füße wäscht. Der Ruß ist überall, auf unserer Haut, in den Haaren, der Kleidung. Die ganze Stadt scheint unter dem Staub der Kohleöfen und des nahen Braunkohletagebaus zu versinken. Jedenfalls kommt es uns so vor, die wir im Westen leben, mit Zentralheizung und Elektroherd. Leipzig, das sind für mich schwülheiße Sommer und frostig-kalte Wintertage, an denen ich mir am Kachelofen meiner Lieblingsgroßtante den Rücken wärme und sie das dicke Federbett für mich anwärmt, damit ich in dem eisigen Schlafzimmer nicht zu sehr frieren muss, wenn ich ins Bett krieche. Das sind für mich Häuserruinen und Gaslaternen, Straßen, die so dunkel sind, dass selbst mein ortskundiger Vater gelegentlich die Orientierung verliert. Leipzig, das ist für mich Familiengeschichte.

Im Wendeherbst starb mein Großvater, der Letzte aus der alten Generation, und seitdem war ich nicht wieder dort (von einem Kurzaufenthalt auf dem Bahnhof abgesehen). Zum Bruder meines Vaters und zu seinen Kindern hatte ich nahezu keinen Kontakt mehr. Uns trennen Welten, wenn nicht gar Universen. Das war schon so, als sie alle noch lebten, meine Großeltern und mein Vater. Eigenartiges Unwohlsein lag über den Clantreffen, eine geheimnisvolle Verschwiegenheit. Jeder schien jedem zu misstrauen. Meine Eltern glaubten, die Leipziger seien alle bei der Stasi (was ich rückblickend sehr stark bezweifle), die Leipziger glaubten was auch immer. Aber ich vermute, der Familienzwist liegt erheblich weiter zurück als die Spaltung des Landes.

Heute nun traf ich meinen Onkel und meine beiden Cousinen nach vielen Jahren wieder. Tragischerweise verpasste ich meine Tante knapp - sie starb vor wenigen Wochen. Es war ein Nachmittag, der mich sehr berührte. Mein Onkel erinnerte mich mit jeder kleinen Geste, mit jedem Lachen auf so schmerzhafte Weise an meinen verstorbenen Vater, dass ich einige Male heftig schlucken musste. Und: Diese Menschen, die in diesem anderen Universum leben, waren in ihrer Schlichtheit auf so anrührende Weise liebenswert, dass auch das für mich ein Anlass war, heftig zu schlucken.

Zudem wurde eins der zahlreichen Familiengeheimnisse gelüftet, das in all den Jahren Anlass für die wildesten Vermutungen und Spekulationen bot. Zum ersten Mal durfte ich die beiden Söhne meiner Cousine in Augenschein nehmen. Die jungen Männer, die dreißig Jahre lang mehr oder weniger totgeschwiegen wurden, sind beide geistig behindert. Meine Tante schämte sich offenbar so sehr für ihre Enkelsöhne, dass wir Westdeutschen diese Kinder nie zu Gesicht bekommen durften, sie nicht mal erwähnt wurden, wenn wir nicht ausdrücklich nach ihnen fragten. Das hat mich so tief erschüttert, dass ich aus dem Schlucken gar nicht mehr herauskam.

Als ich gehe, begleitet mich mein Onkel zur Tram und winkt mir auf so anrührende Weise hinterher, dass ich ... nun ja. Ich sehe einen einsamen, alten Mann, der nach siebzig gemeinsamen Jahren seine Lebensgefährtin verloren hat. Ich sehe einen Mann, der mir voller Glück ein Album zeigte, in dem er zu jedem vergangenen Urlaub (und das waren sehr viele) Bilder aus Prospekten ausgeschnitten hat - sein »Fotoalbum der Erinnerungen«. Der sagte, sie hätten viele glückliche Momente gehabt, er und seine Frau. Ich sehe einen Mann, der sich danach sehnt, eine heile Familie zu haben, eine, in der es keine Geheimnisse gibt und in der jeder sein darf. Und ich sehe meinen Vater, der mir hinterher winkt und sagt: »Hoffentlich kommst du bald wieder.«

Nun sitze ich hier in meiner Ferienwohnung und weine und weine - über all die Erinnerungen, über verlorene Momente, ungesagte Worte und Taten, und über das Leben, das so tragisch ist, so dramatisch und grausam. Und gleichzeitig so entsetzlich schön.

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Gast (Gast) - 18. Mär, 23:08

Leipzig zu 9/11

Ein schön trauriger Text über eine geschichtsträchtige Familiengeschichte in dieser wirklich tollen Stadt in der auch ich mein Herz verloren habe und viele Worte ungesagt und ungetan bleiben werden.

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feinstrick - 15. Mai, 21:06
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