Donnerstag, 17. September 2015

Auf der Flucht

Ich weiß nicht, wie oft ich schon versucht habe, diesen Text zu schreiben, wie viele Versuche halb fertig in den Tiefen meiner Festplatte verschwanden. Wo soll man auch anfangen bei so einem emotionalen Thema?

Bei sich selbst? Bei mir und meinen eigenen Ängsten, Vorurteilen und Bedenken? Bei der Frage, wie wir das alles bewältigen sollen mit diesen vielen Flüchtlingen? Wie wir es schaffen können, so viele von ihnen dauerhaft aufzunehmen und zu integrieren? Wo wir doch noch genug mit der Integration derer zu tun haben, die schon seit vielen Jahren hier leben und immer noch kein Deutsch können und immer noch deutlich schlechtere Schulabschlüsse haben als deutsche Kinder. Wie sollen wir das schaffen bei einer Politik, die in allen Parteien, auf allen Ebenen so grandios versagt, dass es ein Wunder ist, dass wir die Verantwortlichen nicht längst alle geteert und gefedert fortgejagt haben? Die Ersthilfe für die ankommenden Flüchtlinge wäre bei dieser trägen Bürokratie und diesen vielen Fehlentscheidungen jedenfalls ein absolutes Desaster - wären da nicht diese unfassbar vielen Menschen, die einfach die Ärmel aufkrempeln und helfen. Die da organisieren, wo der Staat es nicht bewältigt. Die da machen, wo der Staat nur Reden schwingt. Und die da die Arme ausbreiten und „Willkommen!“ rufen, wo der Staat mit versteinerter Miene dasteht und sagt: „Aber bleiben könnt ihr hier höchstens vorübergehend.“

Wo fange ich an? Bei meiner eigenen Furcht vor radikalen Islamisten? Bei meinen eigenen Vorurteilen, die ich mühsam im Laufe der letzten zwanzig Jahre abgebaut habe - nur, um sie nun alle wieder neu zu bemerken? Bei mir selbst, bei meinen Kollegen, meinen Nachbarn, meinen Freunden. Bei Leuten, von denen ich nie erwartet hätte, dass sie mal so was sagen würden wie: „Die schleppen uns Krankheiten ein und gefährden die Sicherheit in unserem Land.“ Ich hätte auch von mir nie gedacht, dass ich dazu im Stillen nicken würde. Und gleichzeitig lese ich Hassparolen in sozialen Netzwerken, die mich zutiefst schockieren. Weil sie von Leuten aus der bürgerlichen Mitte stammen und nicht von kahlrasierten Vollidioten, die kaum ihren Namen buchstabieren können. Weil sich auch in scheinbar harmlosen Bemerkungen eine Geisteshaltung offenbart, die mich frieren lässt.

Sollte ich also besser bei den anderen anfangen? Bei denen, die unsere Gesellschaft spalten, weil sie sich immer lauter, immer deutlicher für Werte einsetzen, die nie meine waren und nie meine sein werden? Die alles vergessen haben, was in unserer deutschen Vergangenheit in den letzten 80 Jahren passiert ist. Wirklich alles. Und die bereit sind, dieselben Fehler erneut zu begehen. Bloß, weil sie sich vor Veränderungen fürchten. Und weil sie das, was in ihrem eigenen kleinen Leben schiefging, nicht selbst verantworten möchten, sondern lieber anderen dafür die Schuld geben. („Die nehmen uns die Arbeitsplätze und die Wohnungen weg.“)

Oder fange ich bei jenen an, die hier ankommen, ausgehungert, traumatisiert, mit nichts bei sich als ein paar Kleidungsstücken zum Wechseln - wenn überhaupt. Die mitanschauen mussten, wie ihre Frauen erschossen und ihre zweijährigen Kinder über Bord eines Flüchtlingsboots geworfen wurden, weil sie zu laut geweint haben. Von denen sich manche zuhause radikalisiert hatten - weil sie nicht begriffen haben, worum es wirklich geht. Und weil religiöse Eiferer schon immer die besten Rattenfänger waren. Von denen viele aber ganz normale Menschen sind, die nichts anderes wollen als ihren Frieden - sofern sie den in diesem Leben überhaupt jemals wiederfinden werden. Und ja, sie bringen Krankheiten mit. Das täten wir auch, wenn wir wochenlang unterwegs wären, ohne abends in ein weiches, sauberes Bett fallen zu können. Und ja, sie sind manchmal aggressiv. Das wäre ich auch, wenn ich erlebt hätte, wie man meine Familie ermordet hat, wie ich auf der Flucht beschimpft und verfolgt werde, wie ich seit Monaten durch Europa irre, auf der Suche nach einem Ort, an dem ich willkommen bin.

Ich könnte auch bei meiner Familie beginnen. Bei meiner Patentante, die 1945 aus Pommern floh und dabei so Grausiges erlebte, dass sie vorübergehend ihr Augenlicht verlor. Oder bei meinem Vater, der 1961, kurz vor dem Mauerbau, aus der DDR floh. Oder ich könnte bei meinem Schwager beginnen, der nirgendwohin floh, sondern kam, um hier zu studieren - und dann nur darum blieb, weil er meine Schwester kennenlernte und heiratete. Er ertrug nicht nur das viel zu kalte Wetter und gelegentliche rassistische Anfeindungen, sondern auch die Vorurteile und die Ablehnung meiner Familie, die ihm anfangs heftig entgegenschlugen. Schließlich ist er einer dieser bösen Araber, ein Mann aus Syrien. Und damals, als er in unsere Familie kam, war das Buch „Nicht ohne meine Tochter“ gerade sehr populär. Die Angst von uns Christenmenschen vor dem bösen Muselmann war gewaltig. Der Schwager und ich lieferten uns oft heftige Diskussionen über Menschenrechte und Demokratie. Bis wir beide anfingen, einander zuzuhören. Bis die Unterschiede immer unwichtiger wurden und die Gemeinsamkeiten immer bedeutsamer. Mein Schwager hat in Deutschland promoviert und habilitiert. Er beherrscht die deutsche Grammatik besser als die meisten Deutschen. Und er zählt zu den ganz wenigen Menschen, von denen ich weiß, dass ihre Tür immer für mich offensteht, wenn ich mal in Not bin. Das ist sein (arabisches) Verständnis von Familie.

Zurzeit haben er und meine Schwester ständig nachts Albträume vom Krieg. Viele Verwandte leben immer noch dort. Der Kontakt zu fast allen Freunden ist abgebrochen. Ich kenne einige von ihnen, habe in besseren Zeiten mit ihnen zusammen gefeiert und gelacht. Wir wissen nicht, ob sie tot sind oder geflohen oder sich radikalisiert haben. Und wenn ich die Bilder von ertrunkenen Kindern sehe, dann denke ich an meine zweijährige Nichte, an dieses süße, unschuldige Wesen und daran, was für ein unfassbares Glück dieses Kind hatte, dass es in einem sicheren Land zur Welt kam und nicht dort, wo seine Cousins und Cousinen leben. In solchen Augenblicken schnürt sich mir die Kehle zu und auch ich reiße die Arme weit auf und heiße all diese Fremden willkommen. Und ich danke auf Knien einem Gott, den es wohl doch nicht gibt, dafür, dass auch ich bisher nur aus dem Fernsehen weiß, was Krieg ist.

Wo soll ich also anfangen? Bei meinem wunden Herzen angesichts all dieser Not? Bei meinen Ängsten und Vorurteilen? Oder bei all jenen, die meinen, Hass sei die beste Lösung, um diese Ängste zu bewältigen? Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins: Menschen, die in höchster Not an meine Tür klopfen, die kann ich nicht abweisen, die darf ich nicht abweisen. Niemals. Aber ich darf besorgt sein und mich fragen, welche Wege es gibt, um diesen Menschen nachhaltig zu helfen. Nur muss ich das mit dem nötigen Respekt tun. Und ohne zu dramatisieren oder zu beschönigen. Beides bringt nämlich gar nichts.

Ich werde diesen Text jetzt veröffentlichen. Obwohl ich vermutlich morgen am liebsten einen neuen schreiben würde. So unsicher und ratlos bin ich, so schockiert und verstört angesichts all dessen, was hier passiert. Und damit meine ich sowohl diesen unfassbaren Strom an Flüchtlingen, der sich quer durch Europa wälzt, als auch den barbarischen Hass, der ihm teilweise entgegenschlägt und mich noch mehr frieren lässt. Und das nicht nur, weil die Hälfte meiner Verwandtschaft einen arabischen Nachnamen trägt.

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