Dienstag, 12. April 2011

Freiheit

Ich erzähle der weltbesten Schwester von ihm. Sie reagiert sehr gelassen. „Ach, weißt du“, sagt sie, „das klassische Familienmodell ist doch für dich längst durch. Kinder wirst du nicht mehr kriegen, also ist es völlig egal, wie du lebst.“ Ich staune, wie sie es mal wieder in ihrer nüchternen Art schafft, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Ich fühle mich plötzlich seltsam entspannt, denn genau so ist es tatsächlich: Das, was ich ein Leben lang gesucht und gleichzeitig wie die Pest gemieden habe, werde ich aus Altersgründen nicht mehr erreichen. Also macht es auch keinen Sinn mehr, diesem traditionellen Leben mit Mann, Kindern, Reihenhaus und Kanarienvogel weiter nachzujagen. Das empfinde ich als ungeheuer entlastend. Auf einmal ist alles erlaubt und alles möglich.

Und dann ist er wieder da. Wir küssen und herzen uns so stürmisch, dass in meinem Flur ein Leuchter von der Wand fällt. Ich freue mich, dass er sich genauso über das Wiedersehen freut wie ich. „Kalt ist es hier“, sagt er. „Und die Leute sind alle so unfreundlich. Wie schrecklich.“ Ich strahle ihn zum Ausgleich besonders warm und herzlich an. Wir gackern und reden wie aufgedreht, er fragt mich Sachen, die ich überhaupt nicht wichtig finde, aber ich weiß selbst nicht, was wichtig genug ist, um es als Erstes zu erzählen. Er erzählt von der Frau, die ihn auf seiner Reise ganz überraschend begleitet hat, ich höre es mit einem leisen Stich, aber ich muss auch zugeben, dass er gut aussieht, entspannter und irgendwie verändert. Offensichtlich tat ihm seine lange Reise gut. Und die Frau wohl auch. „Und wie steht es mit deinen Männern?“ fragt er und beugt sich neugierig vor. Ich erzähle von meiner sexuellen Wiederbelebung, meinen Affären in den letzten Monaten, und vor allem von ihm. „Das klingt richtig gut“, sagt er, und ich nicke zufrieden.

„Bei uns funktioniert es nur, weil ich keinerlei Druck verspüre“, erklärt er das Arrangement mit seiner Liebsten. „Wenn sie mich festbinden will, bin ich sofort weg.“ Wieder mal denke ich, dass wir uns in unserer Bindungsangst seltsam ähnlich sind, obwohl meine ganz andere Formen hat. Ich wollte immer etwas ganz Festes und suchte mir dann doch ständig Männer, mit denen das gar nicht ging. Aber auf einmal empfinde ich das nicht mehr als Makel, sondern als Geschenk. Ich denke an die Worte meiner Schwester, als ich sage: „Ich genieße diese Freiheit sehr.“ Und er lacht: „Ich auch. Es gibt einfach so viele tolle Frauen.“ Das vergangene halbe Jahr schmilzt zwischen uns dahin, es ist so, als sei er nie weggewesen. Ich weiß, er wird nichts mit mir anfangen, dafür ist er zu monogam, und ich bin auch anderweitig genug beschäftigt, aber ich habe das Gefühl, dass unsere Freundschaft eine neue Qualität erhält. Wie schön!

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