Montag, 11. Mai 2009

Glück im Unglück

Manchmal wird einem das Leben einfach aus der Hand genommen, und binnen Sekunden entscheiden andere Mächte über Glück und Unglück. In dem Moment versteht man das gar nicht, sondern man lacht über all den Unsinn, der einem da grade widerfährt. Hinterher aber wird man auf einmal ganz still, ganz nachdenklich, schaut einander an und sieht auch bei den anderen Betroffenen zwischen all dem Schabernack die Dankbarkeit im Blick: „Glück gehabt!“

Ich war mit Freunden auf dem Heimweg von einem gemütlichen Kaffeetrinken. Wir waren in heiterer, fröhlicher Stimmung. An der überirdischen S-Bahnstation Friedrichsberg mussten wir eine Weile auf die Bahn warten, die Verspätung hatte. Auf einmal wurde der Himmel immer dunkler, ein geradezu unheimlich klingendes Rauschen ging durch die hohen Bäume auf der anderen Seite der Gleise, und innerhalb weniger Minuten wurden nicht nur trockene Blütenblätter, sondern auch kleine Zweige von einem plötzlich aufkommenden Sturm auf den Bahnsteig gefegt. Wir flohen in den Windschatten einer Fahrplantafel, so ungemütlich wurde es binnen kürzester Zeit. Als ein kräftiger, feiner Regen einsetzte, kam zum Glück endlich die Bahn, und wir stiegen dankbar ein.
„Wie schön, endlich warm und trocken zu stehen“, sagten wir erleichtert. Der Waggon war voll besetzt, Wir spürten gerade noch dem wohligen Gefühl von Wärme und Windstille nach, da hielt die S-Bahn schon wieder, mitten auf einer Brücke, nur ein kleines Stück hinter dem Bahnhof, den wir soeben verlassen hatten.
„So“, verkündete der Fahrer mit norddeutscher Gelassenheit. „Jetzt sind wir über einen Baum gefahren.“

Irritiertes Gemurmel und vereinzelte Sprüche der Fahrgäste folgten. Keiner konnte die Situation richtig einschätzen. Wir schauten aus den Fenstern. An der Böschung hinter der Brücke stand ein großer Baum, dem es tatsächlich ein Stück aus der Krone gehauen hatte. Auf der anderen Seite der S-Bahn lagen Zweige und Äste verstreut im Gleisbett, ein größerer Ast ragte seitlich unter unserem Waggon heraus. Das sah alles wüst aus, aber nicht dramatisch. Die paar Äste würde man doch schnell beseitigt haben. Der Zugführer meldete sich wieder. Die Feuerwehr sei verständigt, wir müssten uns jedoch sicher auf eine Wartezeit einstellen. Dann ging das Licht aus. Langsam dämmerte uns, dass dieser Zwischenstopp nicht nur zwei, drei Minuten dauern könnte. Aber wir fanden das alles irgendwie nicht weiter tragisch. Ein paar witzige Sprüche flogen durch den Wagen, wir lachten und blickten erheitert in die Runde. Alles schien lustig zu sein, sogar der Güterzug, der auf dem Nachbargleis ungebremst über einige dicke Äste brauste. Das Holz flog durch die Gegend, und wir konnten vermutlich froh sein, dass nicht noch mehr in die Luft ging, denn jemand stellte fest, dass der Zug Gefahrengut transportiert hatte. Aber wir lachten.

Die üblichen gruppendynamischen Prozesse setzten ein. Es bildeten sich Grüppchen, und Menschen kamen miteinander ins Gespräch, die sonst nicht mal zwei Worte miteinander gewechselt hätten. Eine junge Frau engagierte sich lautstark für die Rechte der Raucher, und gemeinsam mit anderen Süchtigen versammelte sie sich schließlich rauchend in der Mitte des Waggons an einem Fenster. Die Nichtraucher schauten irritiert, empört – und dann vor allem amüsiert. Jedenfalls in der Ecke, in der meine Freunde und ich uns niederließen.

„Gut, dass wir vorher alle noch mal auf dem Klo waren“, stellte einer von uns fest. Draußen erschien ein Regenbogen am Himmel, dieses seltsame Unwetter hatte höchstens zehn Minuten gedauert. Pressefotografen tauchten unterhalb der Brücke auf, überall auf den Straßen brausten Feuerwehrwagen entlang, nur zu uns kam erst mal niemand. Der Zugführer hielt uns freundlich und souverän über den Stand der Dinge auf dem Laufenden, meine Sitznachbarn taten ein Übriges, um eine großartige Stimmung zu verbreiten.

Dann kam die Feuerwehr. Der Einsatzleiter sprach zu uns, Feuerwehrmänner gingen durch die Waggons, um sich zu vergewissern, dass es allen Fahrgästen gut ging, es war von schwerem Gerät die Rede, das zum Einsatz kommen müsse, und wir erfuhren, dass dieser kleine Unfall den Zugverkehr auf weiten Strecken der Stadt zum Erliegen gebracht hatte. Wir kamen uns irgendwie wichtig vor. Solche Geschichten erlebten doch sonst immer nur die anderen Leute, oder man las sie am nächsten Tag in der Zeitung. Draußen war schönstes Wetter, dieser Sturm war so weit weg, als hätte es ihn nie gegeben. In anderen Teilen des Waggons schien die Stimmung zu kippen, nicht alle Leute hatten so viel Humor wie wir und gackerten so ausgelassen vor sich hin. Unruhe machte sich breit. Da hieß es zum Glück, wir müssten den Zug alle verlassen.

Eine Leiter wurde an eine offene Tür gestellt. Der Reihe nach kletterten wir alle auf eine Plattform hinter der Brücke. Koffer und Taschen wurden weiter gereicht, die Feuerwehrmänner bildeten eine Kette aus hilfreichen Händen, an denen wir uns festhalten konnten, während wir im Gänsemarsch eine steile, glitschige Böschung hinab zur Straße kletterten. Die Organisation war perfekt, wir dankten den Feuerwehrleuten für ihr umsichtiges und freundliches Handeln, und begaben uns dann, immer noch in sehr heiterer Stimmung, auf den Weg zur nächsten U-Bahn.

Plötzlich wirkte die Welt um uns herum geradezu gespenstisch. Alles war so ruhig und still. Wir hatten soeben anderthalb Stunden festgesteckt, während andere Leute vermutlich kaum etwas von diesem Blitz-Sturm bemerkt hatten. Wir dagegen waren auf einmal in einem komplett anderen Film gelandet, nachdem wir in diese S-Bahn gestiegen waren. Unser Zug hätte auch entgleisen können. Oder der Güterzug mit seiner gefährlichen Fracht. Nicht auszudenken. Auf einmal wurden wir alle ganz still, und der Schreck fuhr uns nachträglich in die Glieder. Ein heiteres Kaffeetrinken hätte sehr tragisch enden können. Und keiner von uns hätte auch nur das Geringste dagegen tun können. Über Glück und Unglück entscheiden manchmal eben nur Sekunden. Oder höhere Mächte. Das Schicksal. Kismet. Wie auch immer.

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