Dienstag, 15. Juli 2008

Übrig geblieben

Ich begegne meiner Nachbarin Frau W. im Treppenhaus.
„Wie war Ihr Urlaub?“ frage ich, aber entgegen ihrer üblichen Gesprächigkeit tut Frau W. meine Frage mit zwei dürren Sätzen ab. Sie sieht müde und erschöpft aus und scheint sich am Treppengeländer festhalten zu müssen.
„Ich komme gerade von der Beerdigung einer guten Freundin“, erzählt sie. „Wir kannten uns seit über dreißig Jahren. Nun ist überhaupt niemand mehr da, den ich von früher kannte, sie sind alle tot. Meine Freundin war die letzte von all meinen Freunden, die mich verlassen hat.“
Fast schwingt so etwas wie Bitterkeit in ihren Worten mit. Alle haben sie verlassen, ihr Mann, ihre älteste Tochter, die Freunde, bis hin zur letzten besten Freundin, die nun auch gegangen ist. Ich stehe betroffen da und weiß kaum, was ich sagen soll. Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlen wird, wenn um mich herum alle Menschen, die mir lieb und kostbar sind und mich teilweise mein Leben lang begleitet haben, der Reihe nach sterben? Familie, Freunde, Nachbarn. Wie ich immer einsamer werde, immer mehr alleine dastehe. Angenehmer ist es sicher, nicht die Letzte sein zu müssen, sondern irgendwo mitten drin im Gewühl von Abschied und Endlichkeit verschwinden zu können.
„Natürlich habe ich inzwischen auch neue Leute kennen gelernt“, fährt Frau W. fort, als hätte sie meine Gedanken erraten. „Ich bin ja immer sehr bemüht, Kontakte zu knüpfen. Aber das ist nicht mehr dasselbe, die Verbundenheit wie zu meinen alten Freunden ist einfach nicht da.“
Ich weiß genau, was sie meint. Wenn man jünger ist, kommen immer wieder neue Kontakte hinzu, durch Beruf, Hobbys oder was auch immer. Zwar vertiefen sich mit zunehmendem Alter nur wenige und werden zu echten Freundschaften, die auch dann überdauern, wenn man sich nicht mehr regelmäßig sieht. Doch das Leben ist irgendwie noch im Fluss. Ich habe bereits sehr nahe Menschen durch den Tod verloren, aber ich habe danach nie dieses Gefühl von „übrig geblieben“ verspürt, sondern eher gedacht: Mein Leben geht weiter, ich habe noch viel vor mir. Mit achtzig denkt man das wohl nicht mehr. Da kommt man sich sehr verlassen vor und findet die Tatsache, dass man selber noch agil und körperlich fit ist, manchmal wohl überhaupt nicht segensreich.
„Aber ich darf mich eigentlich nicht beklagen, mir geht es doch noch so gut“, sagt Frau W. und ich bewundere den Trotz in ihrer Stimme und die energische Bewegung, mit der sie sich vom Treppengeländer löst und die Treppe weiter hinauf geht, ihrer Wohnung entgegen.

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