Die graue Eminenz
Ich weiß nicht, wie lange Herr P. schon hier im Wohnblock lebt. Vermutlich ähnlich lange wie sein Freund Herr B., der vor einigen Jahren mit über neunzig starb. Und der zog hier ein, als die Häuser gebaut wurden. Das war 1954, damals, als aus der ehemaligen Altstadt mit winkeligen Gässchen, die bei den Bombenangriffen 1943 vollständig zerstört worden war, eine moderne Neustadt wurde (die wiederum heute, fünfzig Jahre später, teilweise sehr alt und sehr hässlich aussieht, aber das ist ein anderes Thema). Herr B. war ein kleiner, verschmitzter Mann, immer mit einer Kippe im Mundwinkel, mit ausgebeulten Cordhosen und fleckigen Hemden, freundlich, aufmerksam, hilfsbereit. Langjährige Leser erinnern sich vielleicht noch an meine Geschichte über seine recht ungewöhnliche Beerdigung.
Herr P. ist äußerlich das genaue Gegenteil von Herrn B. Groß, schmal, immer in einem sauberen, grauen Anzug, mit einem grauen Hut auf den weißen Haaren, den er höflich lupft, wenn man ihm begegnet. Er muss auch schon über achtzig sein, fährt aber immer noch mit dem Fahrrad durchs Viertel und ist auch sonst sehr rege. Herr P. macht all das, was in so einer großen Wohnanlage mit knapper Hausmeisterbesetzung sonst niemand macht – jedenfalls nicht in dem Umfang, in dem es sinnvoll wäre. Er fegt die Wege im grünen Innenhof, säubert die Holzbänke zwischen den Bäumen, jätet die Rosenbeete vor den Häusern. Herr P. fegt auch den Fußweg vor dem Block (und das ist ein langer Weg!), beseitigt Müll, der dort herum liegt und von der Stadtreinigung nicht erfasst wurde, oder Unkraut, das zwischen den Gehwegplatten wächst. Er sorgt dafür, dass es an den Müllcontainern sauber aussieht und verteilt manchmal stundenlang das Altpapier so auf die Container, dass es auch tatsächlich reinpasst und nicht tagelang in Stapeln, die immer feuchter werden, davor herum fliegt. Herr P. ölt quietschende Türen und bessert schadhafte Stellen mit Farbe aus. Er ist immer freundlich, aber stets auch etwas steif und zurückhaltend. Die älteren Nachbarn scheinen Herrn P. alle zu kennen, von den jüngeren bin ich eine der Wenigen, die mal ein paar Worte mit ihm spricht, immer irgendwie mit einem schlechten Gewissen, weil ich den alten Mann alleine weiter arbeiten lasse und einfach meiner Wege gehe. Aber Herr P. brüstet sich nie mit seinem Engagement oder jammert, weil ihm niemand zur Hand geht, ja, er scheint das gar nicht zu erwarten. „Es muss ja gemacht werden“, sagt er mit leisem Lächeln unter seiner randlosen Brille. Und dann vertieft er sich wieder ganz in seine Arbeit.
Ich frage mich manchmal, was geschieht, wenn Herrn P. die Kräfte schwinden und er nicht mehr dafür sorgen kann, dass es um unsere Wohnanlage herum immer sehr ordentlich aussieht. Wird er einen Nachfolger finden, der sich für eine so große Hausgemeinschaft verantwortlich fühlt? Jemanden, der nicht nur an sich denkt, sondern auch an andere? Der lieber etwas fürs Gemeinwohl tut, statt seinen eigenen Interessen nachzugehen? Jemanden, der die Zeit und die Energie eines Herrn P. hat? Oder werden dann einfach die Hausmeister gezwungen sein, sich mehr zu engagieren? Ist das überhaupt in ihren Dienstplänen vorgesehen? Oder baut die Wohnungsgenossenschaft darauf, dass die Mieter sich auch ein wenig einbringen? Ich fürchte, diese grauen Eminenzen wie Herr P. sterben langsam aus. Sie hinterlassen Lücken, die sich oft nicht mehr richtig schließen lassen. Aber nach einer Weile werden wir uns daran gewöhnt haben und schulterzuckend zur Kenntnis nehmen, dass der Müll auf den Wegen liegt, bis irgendwer vorbei kommt, der für die Müllbeseitigung bezahlt wird. Oder auch nicht. Qualitätsverlust nennt man das dann wohl.
Herr P. ist äußerlich das genaue Gegenteil von Herrn B. Groß, schmal, immer in einem sauberen, grauen Anzug, mit einem grauen Hut auf den weißen Haaren, den er höflich lupft, wenn man ihm begegnet. Er muss auch schon über achtzig sein, fährt aber immer noch mit dem Fahrrad durchs Viertel und ist auch sonst sehr rege. Herr P. macht all das, was in so einer großen Wohnanlage mit knapper Hausmeisterbesetzung sonst niemand macht – jedenfalls nicht in dem Umfang, in dem es sinnvoll wäre. Er fegt die Wege im grünen Innenhof, säubert die Holzbänke zwischen den Bäumen, jätet die Rosenbeete vor den Häusern. Herr P. fegt auch den Fußweg vor dem Block (und das ist ein langer Weg!), beseitigt Müll, der dort herum liegt und von der Stadtreinigung nicht erfasst wurde, oder Unkraut, das zwischen den Gehwegplatten wächst. Er sorgt dafür, dass es an den Müllcontainern sauber aussieht und verteilt manchmal stundenlang das Altpapier so auf die Container, dass es auch tatsächlich reinpasst und nicht tagelang in Stapeln, die immer feuchter werden, davor herum fliegt. Herr P. ölt quietschende Türen und bessert schadhafte Stellen mit Farbe aus. Er ist immer freundlich, aber stets auch etwas steif und zurückhaltend. Die älteren Nachbarn scheinen Herrn P. alle zu kennen, von den jüngeren bin ich eine der Wenigen, die mal ein paar Worte mit ihm spricht, immer irgendwie mit einem schlechten Gewissen, weil ich den alten Mann alleine weiter arbeiten lasse und einfach meiner Wege gehe. Aber Herr P. brüstet sich nie mit seinem Engagement oder jammert, weil ihm niemand zur Hand geht, ja, er scheint das gar nicht zu erwarten. „Es muss ja gemacht werden“, sagt er mit leisem Lächeln unter seiner randlosen Brille. Und dann vertieft er sich wieder ganz in seine Arbeit.
Ich frage mich manchmal, was geschieht, wenn Herrn P. die Kräfte schwinden und er nicht mehr dafür sorgen kann, dass es um unsere Wohnanlage herum immer sehr ordentlich aussieht. Wird er einen Nachfolger finden, der sich für eine so große Hausgemeinschaft verantwortlich fühlt? Jemanden, der nicht nur an sich denkt, sondern auch an andere? Der lieber etwas fürs Gemeinwohl tut, statt seinen eigenen Interessen nachzugehen? Jemanden, der die Zeit und die Energie eines Herrn P. hat? Oder werden dann einfach die Hausmeister gezwungen sein, sich mehr zu engagieren? Ist das überhaupt in ihren Dienstplänen vorgesehen? Oder baut die Wohnungsgenossenschaft darauf, dass die Mieter sich auch ein wenig einbringen? Ich fürchte, diese grauen Eminenzen wie Herr P. sterben langsam aus. Sie hinterlassen Lücken, die sich oft nicht mehr richtig schließen lassen. Aber nach einer Weile werden wir uns daran gewöhnt haben und schulterzuckend zur Kenntnis nehmen, dass der Müll auf den Wegen liegt, bis irgendwer vorbei kommt, der für die Müllbeseitigung bezahlt wird. Oder auch nicht. Qualitätsverlust nennt man das dann wohl.
Treppenhaus - feinstrick - 23. Jun, 09:51
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