Der Atem der Seele
Und dann dies:
Eine Altbauwohnung irgendwo in Berlin, so bunt wie das Leben drum herum. Am auffälligsten: Es gibt fast keine Tische und Stühle in dieser Wohnung. Stattdessen viele Kissen und Matten auf dem Boden und freie Ecken, die zum Sitzen und Liegen einladen. Hier leben Menschen, deren Körper gut durchtrainiert und sehr beweglich zu sein scheinen. Und mittendrin in diesem ungewöhnlichen Ambiente steht der baumlange Kerl, der hier gar nicht mehr so verloren wirkt, sondern sich harmonisch einfügt in dieses bunte Bild.
Ich möchte mehr über seine Arbeit erfahren. Er hält sich jedoch nicht mit langen Reden auf, sondern will erst mal eine Session abhalten, wie er es nennt. Ich soll genau wissen, worum es geht, und zwar praktisch, nicht theoretisch.
Die Behandlung findet in einem schmalen Raum statt, der vom Rest der Wohnung nur durch einen Vorhang getrennt ist. Ich solle mich ausziehen und meine Kleider an einen Haken im Flur hängen, fordert mich S., der lange Kerl, auf.
„Was soll ich denn alles ausziehen?“ frage ich.
„Alles bis auf den Slip“, sagt S. „Es sei denn, du fühlst dich wohler, wenn du dich ganz ausziehst.“
Das irritiert mich. Wieso sollte ich mich wohler fühlen, wenn ich ganz nackt bin? Ich werde den Slip auf jeden Fall anbehalten, keine Frage. Am liebsten würde ich auch den BH anlassen. Dabei bin ich eigentlich gar nicht so prüde und habe keine Mühe, mich vor anderen Leuten zu entkleiden, in therapeutischem Zusammenhang gleich gar nicht. Und doch stocke ich diesmal. Ich habe S. nicht als Therapeuten kennen gelernt, und nun fällt es mir schwer, umzuschalten. Ein bisschen ist das so, als würde ich mich vor einem langjährigen Freund ausziehen, da ist man auch seltsam gehemmt. Dabei kenne ich den S. doch noch gar nicht so lange. Und ein guter Freund ist er gleich gar nicht.
Doch mir bleibt nicht viel Zeit, meinen Irritationen nachzuforschen. Die Behandlung beginnt und meine erste Befangenheit verfliegt rasch. Ich liege nur im Slip bekleidet auf dem Massagetisch – und friere erbärmlich. Ich wünsche mir eine warme, dicke Daunendecke zum Einkuscheln, und vielleicht auch zum Verstecken. Später wird der S. mich fragen, ob ich vielleicht friere, weil ich Angst habe. Ich tue den Gedanken als vollkommen abwegig ab. Doch hinterher denke ich: Nun ja, ich habe schon Angst davor, mich zu sehr zu öffnen, Menschen zu nahe an mich ranzulassen, mich ihnen schutzlos auszuliefern (vielleicht, so spinne ich insgeheim den Gedanken weiter, verliebe ich mich darum auch so oft in Männer, die mir nicht wirklich zu nahe treten können oder wollen). Und man ist wohl kaum schutzloser, als wenn man fast nackt auf einem Massagetisch liegt, neben dem ein fremder Mann steht, in einer fremden Wohnung, mitten in Berlin.
Der S. beginnt mit sehr sanften Berührungen an meinem Nacken, streckt ihn leicht, bewegt meinen Kopf vorsichtig hin und her. Sehr schnell gehe ich auf seine Berührungen ein, empfinde sie nicht als fremd, aufdringlich oder gar bedrohlich, sondern als sehr angenehm.
„Es ist immer gut, zu atmen“, erklärt S. „Das unterstützt den Prozess. Und davon wird dir auch wärmer.“ Er lächelt sein scheues Lächeln. Ich grinse unbeholfen. Atme ich denn nicht? Verdammt noch mal, natürlich atme ich. Doch mein leises, unauffälliges Luftholen genügt S. nicht.
„Atme tief in deinen Brustkorb hinein, meinen Händen entgegen“, fordert er mich auf. Und wie um mir zu demonstrieren, was er meint, atmet er selbst sehr tief und sehr laut ein und aus. Mit kraftvollen Bewegungen widmet er sich meinem Körper und bei jeder Bewegung, jeder neuen Berührung seufzt und grunzt, stöhnt und schnauft er. Fast wie beim Sex, schießt es mir durch den Kopf, und ein bisschen kommt es mir überhaupt so vor, als habe S. das Bestreben, mich zu einem Orgasmus zu schaukeln, zu schütteln, zu rütteln. Seine großen Hände umfassen mit sanftem, aber festem Druck meinen gesamten Brustkorb, sparen dabei auch die Brüste nicht aus, und versetzen mich in Schwingungen.
Ich liege da und atme, was das Zeug hält. Doch S. ist immer noch nicht zufrieden:
„Atmen!“ fordert er mich immer wieder auf. Und ich atme laut und tief ein und aus – bis mir schwindelig wird. S. arbeitet sich derweil vorsichtig meinen Körper entlang. Brust, Arme, Bauch, Beine, Rücken. An manchen Stellen sind seine Berührungen schmerzhaft, bohren sich seine Finger tief in mein Fleisch, berühren Punkte, an denen ich starke Verspannungen oder Blockaden habe. Dann wieder sind die Berührungen sanft und schmeichelnd. Mittlerweile atme ich fast von selbst und finde es gar nicht mehr albern, dabei laute Geräusche zu machen. Also, für meine Verhältnisse laut. S. findet meinen Atem weiterhin schwach und zu flach. Aber man kann nicht gleich auf Anhieb ein Atmungsvollprofi werden. Mir ist auch gar nicht mehr so kalt wie am Anfang. Und ich empfinde die Hände von S., die ebenfalls immer wärmer werden, als sehr wohltuend auf meinem Körper. Ich verliere jedes Gefühl für Raum und Zeit und genieße nur noch. Als ich gerade denke, jetzt könnte es noch stundenlang so weiter gehen, ist die Zeit jedoch rum und S. lässt die Session so sanft an meinem Kopf ausklingen, wie er sie begonnen hat. Ich bin total benommen und fühle mich noch lange etwas schwindelig und seltsam losgelöst vom Rest der Welt. Fast so, als hätte ich zu viel Alkohol getrunken. Oder guten, intensiven Sex gehabt. Oder beides.
Dann sitze ich mit S. in einem kleinen, indischen Restaurant und frage ihn aus. Über sein Leben. Und über die Methode, mit der er arbeitet. Er antwortet mit leiser, ruhiger Stimme. Und auf einmal ist er wie ausgewechselt und wirkt überhaupt nicht mehr unbeholfen und ängstlich, sondern sehr klar und sehr souverän. Er hat eine sehr sympathische Ausstrahlung und einen wachen, offenen Blick. Ich spüre, dass er ganz mit sich im Reinen ist, jetzt und hier, nachdem er mir so anschaulich demonstriert hat, was seine Berufung ist. Er hat über seinen Körper zu mir gesprochen, was viel intensiver war, viel direkter und intimer als jedes Wort. Und ich habe ihm geantwortet, ohne dass es mir bewusst war. Nun, da wir einander offenbart haben, findet S. auch die passenden Worte, um meine Fragen zu beantworten. Und als er von Tantra-Seminaren erzählt und davon, dass er auch erotische Massagen anbietet, überrascht mich das irgendwie gar nicht mehr sonderlich, ja, ich kann es mir sogar richtig gut vorstellen. War nicht auch unsere kleine Session eben eine sehr sinnliche Angelegenheit? Waren nicht auch hier Körper und Seele angesprochen, geriet nicht auch hierbei alles in mir in Schwingung und in Fluss und hinterließ eine zutiefst befriedigende Entspannung?
Als ich wieder nach Hause fahre, fühle ich mich sehr ruhig, sehr gelöst und sehr wach. Ich habe auf einmal ganz viele Fragen an S., den baumlangen Kerl, der seine ganz eigene, sehr persönliche Art gefunden hat, mit der Welt zu kommunizieren und sich die Geschichten anderer Menschen erzählen zu lassen, ohne dass sie auch nur ein einziges Wort dabei sprechen müssen. Dabei entsteht ein faszinierender Dialog, der einem glatt den Atem nehmen könnte, wenn S. nicht immer wieder darauf hinweisen würde:
„Vergiss das Atmen nicht. Atmen ist Lebendigkeit.“
Wie Recht er doch hat.
Unterwegs - feinstrick - 28. Apr, 09:14
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